Cet absurde nom de Swann - Proust und die Dreyfusaffaire (4. Teil)

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A la recherche du temps perdu

Die Romane des Proustschen Hauptwerks erschienen zwischen 1913 (Du côté de chez Swann) und 1927 (Le Temps retrouvé), fünf Jahre nach Prousts Tod. Allein aufgrund der Zeitumstände ist es eminent politisch. Einige Romane kreisen regelrecht um die Dreyfus- und Zola-Affairen. Die Historikerin E. Müller kristallisiert dies zu der Frage: Wie lebt es sich als französischer Jude während der Dreyfus-Affaire? Ich möchte die Frage erweitern: Wie bedingen sich Antisemitismus, Kultur und Herrschaft im französischen Fin de siècle? Inwieweit bilden sie die Textur der Proustschen Welt?

Es macht die Kunst Prousts aus, dass die Personen eben keine Abziehbilder ihrer sozialen Klasse sind, sondern sich in ihren Widersprüchen entwickeln - in einer Gesellschaft voller Widersprüche. Unter den verhärteten Vorstellungen , schreibtAdorno, welche Prousts Eigensinn zerstört, ist die wichtigste vielleicht die von der Einheit und Ganzheit der Person.

Diese Personen müssen sich auf den Feldern der Mondanität positionieren - in Venedig, im Badeort Balbec, in den Tuilerien, im Eisenbahnabteil Erster Klasse und - vor allem - in den Salons. Letztere sind, Bourdieu zufolge, die wichtigste Verbindungsstelle zwischen dem Machtfeld und dem intellektuellen Feld. Proust hat empirische Vorbilder, zum Beispiel den Salon der Léontine de Caillavet (Modell der bürgerlichen Madame Verdurin), den die Dreyfusards zum Mittelpunkt nahmen, während es die Antidreyfusards in den Salon der Madame de Loynes zog, die sogar die Aufnahme in den "Pantheon", die Académie Francaise, beeinflussen konnte. Der Salon wird quasi zum Ort der Produktion, Diffusion und Transformation des Antisemitismus als "kultureller Code" (Volkov). Er generiert ein ideologisches Cluster, das Nationalismus, Klerikalismus, Militarismus und Antisemitismus "verklumpt".

In der "Recherche" ist es zuvörderst der aristokratische Faubourg Saint-Germain, repräsentiert durch den Salon des Herzogs und derHerzogin de Guermantes, eine eher auf- und abgeklärte Fraktion der Hocharistokratie, deren Lebenskunst darin besteht, in Luxus zu leben, ohne nach Geld zu riechen, zugleich eine antibürgerliche und antisemitische Devise. Die de Guermantes beherrschen in quasi arbeitsteiliger Genialität das Sozialspiel mit den Vorurteilen.

Basin, der Herzog de Guermantes, äußert sich über seinen sich republikanisch, gar sozialistisch gebenden Neffen wie folgt: Wissen Sie, persönlich habe ich überhaupt kein Rassenvorurteil, das gehört, finde ich, nicht mehr in unsere Zeit. Aber, verdammt, wenn man Marquis de Saint-Loup heißt, ist man kein Dreyfusard! (Guermantes I). Er darf sich auch der humorigen Zustimmung der Entourage sicher sein, wenn er den Namen Bloch nicht französisch auf "k" enden lässt, sondern diesen übertrieben guttural deutsch ausspricht. Überhaupt die Namen. Madame de Cambremer sprachspielt mit dem Namen Kohn (über den es gleichzeitig auch deutsche antisemitische Postkarten gab): Ein Herr, dessen Namen ich nicht kenne ... Cohn, Kohn, Kuhn. Der Antisemitismus ist nach 1871 auch antideutsch konnotiert.

Die geliebte Albertine - noch Teenie, kleinbürgerlich sozialisiert - erfährt, dass der Freund des Ich-Erzählers Bloch heißt und ruft ihr "Wissen" hinaus: Ich hätte gewettet, dass er ein Jid (Youpin) ist. Und (man hat nicht nur vorm schwarzen Mann Angst): 'Es ist mir nicht erlaubt, mit Israeliten zu spielen.' Sie sagte Issraeliten statt Izraeliten.

Zurück zu den Salons. Auch unter Antisemiten gilt weiterhin das Gesetz der sozialen Distinktion. Unerträglich, findet die Herzogin de Guermantes, dass man uns unter dem Vorwand, dass sie gut denken, nicht bei jüdischen Händlern kaufen oder 'Tod den Juden' auf die Schirme malen, eine Quantität von Damen wie Durand oder Dubois auferlegt... Proust deutet einen Top-Down-Prozess an. Der vornehme Judenhass radikalisiert sich nach unten bis zum antisemitischen Mob. Die respektablen Rackets unterhalten ihn (und sich), und die irrespektablen üben ihn aus (Dialektik der Aufklärung).

Ungemein interessant ist eine außenseiterische Hauptfigur der "Recherche" konstruiert: der Baron de Charlus. Er leidet offensichtlich am meisten unter dem erst schleichenden, dann offenen Machtverlust der Hocharistokratie und entwickelt einen geradezu punitiven Antisemitismus. Charlus wettert gegen die reichen Finanziers aus Israel und hetzt über die Juden, die uns die Schlösser abkaufen, was eine "Profanation" sei. Als der Ich-Erzähler vom Franzosen Bloch spricht, entgegenet er spöttisch: Ach, und ich hatte geglaubt, er wäre Jude (Jeunes filles en fleur).

Und doch ist dieser Charlus äußerst komplex. Als "Invert" wird er nur durch seinen Adel vor direkter polizeilicher Verfolgung bewahrt. Sein "Laster" macht aber zugleich seinen Charme für die High Society und die bourgeoisen Salons aus, die immer auf der Suche nach dem "Exotischen" sind. Hannah Arendt urteilt über die soziale "Verwandschaft" von Homosexualität und Judentum: Es sind zwei "Laster", die sich in Wirklichkeit in ihrer gesellschaftlichen und individuellen Reflexion sehr ähnlich werden. Diese Verbindung wird in einer grotesken Situation deutlich:

Auf einer Bahnfahrt zu den Verdurins hört die Ehefrau des stockdummen, aber höchst angesehenen Docteur Cottard homophobes Getuschel, auch Charlus sei Mitglied der "Bruderschaft". Sie schließt messerscharf, der Antisemit Charlus sei Jude. Sie wirddem Erzaristokraten vorgestellt und plappert: 'Ich bin glücklich, dass Sie unser Land gewählt haben, um Ihre Taberna...' Sie wollte Tabernakel sagen, doch dieses Wort kam ihr hebräisch vor ... 'Ich wollte sagen, um Ihre Penaten ...' Und schließlich, erschöpft: 'Alle Religionen sind gut.' - 'Man hat mich gelehrt, dass die meinige die richtige ist,' antwortete M. de Charlus. 'Der ist fanatisch,' dachte Madame Cottard (Sodome et Gomorrhe).

Ausgerechnet an Charlus wird der Untergang der Hocharistokratie in persona exekutiert. Nach dem Abebben der Dreyfusaffaire wird er spektakuläres Opfer der Dreyfusarde (obwohl primären Antisemitin) und Salonführerin Madame Verdurin. In einer unheimlich anmutenden Szene - Charlus wird von seinem Liebhaber, dem Stargeiger Morel, öffentlich vorgeführt - verlässt er am Arm der uralten Königin von Neapel die (gemietete) Villa der Intrigantin: die Aristokratie hat ihre Schuldigkeit getan. Der Autor schafft es, dass der Leser tatsächlich Mitleid mit diesem arroganten antisemitischen Schnösel (der gleichzeitg so viel mehr ist) bekommt. Die Frage ist nicht Sein oder Nichtsein, sondern Dabei-Sein oder Nicht-Dabei-Sein, schreibt der Erzähler.

Der Abstieg geht weiter. Im ersten Weltkrieg lässt sich der über siebzigjährige Charlus in einem Männerbordell blutig schlagen - eine erbarmungswürdige Kreatur. Man spricht sogar von Pädaphilie. Und doch macht der Erzähler ihn zu einem der wenigen Vernünftigen, der die Rolle der Kriegstreiber auf allen Seiten - gleich ob Dreyfusanhänger oder nicht - scharf kritisiert. Als Aristokrat scheint er immun gegen den modernen Nationalismus zu sein. Der Erzähler reflektiert sogar, dass die großen Adelsherren die Arbeiter nicht wie die Bourgeois verachten und spricht von der zunehmenden Neugier des Barons für das Volk (Le Temps retrouvé). Charlus stirbt an den Folgen eiens Schlaganfalls. Am Ende ist er ein Kind, aber ohne dessen Stolz.


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