Cet absurde nom de Swann - Proust und die Dreyfusaffaire (5. Teil)

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Um die Jahrhundertwende war der Antisemitismus buchstäblich ubiquitär: auf den Straßen der Städte, an den Hauswänden, im geschriebenen Wort, den Gedichten, Chansons und Postkarten (Pierre Birnbaum). Allein 25000 unterschrieben eine Antidreyfusliste für den Fälscher Henry, mit Namen und Kurzbegründungen, in denen vom "jüdischen Bazillus" und vom "jüdischen Krebsgeschwür" die sich bestätigende Rede war. Diese Niederungen erwähnt Proust in der Recherche nicht - doch muss man sie bei der Darstellung der jüdischen Protagonisten des Zyklus stets mitdenken.

Wir erfahren also nicht, wie der feinsinnige Dandy Charles Swann auf den alltäglichen Antisemitismus der "Populace" reagiert, Swann, der gewissermaßen das Vorbild des Ich-Erzählers ist, der dessen Leben "strukturell" wiederholt. Der Sohn eines jüdischen Börsenmaklers hat lange vor Ausbruch der Affaire höchste Salonhöhen erreicht. Er dîniert wie selbstverständlich mit dem Präsidenten, ist Mitglied im Jockey-Club. Und doch: da sind "prickelnde" Zweifel: Ich weiß, sagt "man" sich, er ist konvertiert, wie schon seine Eltern und Großeltern. Aber - man sagt doch, die Konvertiten hängen ihrer Religion stärker an als die anderen. Stimmt das? (Guermantes II). Der Prince de Guermantes sieht in ihm gar einen Bastard einer urfranzösischen Adelsdynastie.

Swann selbst ist viel zu sehr mit den Objekten seiner Liebe beschäftigt: der Kunst und - zumindest zeitweilig - der ehemaligen Cocotte (was er nur ahnt) Odette de Crécy. Als Vertreter der aufstrebenden nachimperialen Generation beschäftigt ihn seine "Judaicité" kaum. Und dieser reiche Ästhet wird im Zuge der Dreyfusaffaire zum "pauvre Swann". Da ist "natürlich" seine Heirat mit Odette, ein "mariage honteux", gegen alle Konventionen. Und vor allem: man entdeckt seine "Undankbarkeit". Er "enttäuscht" die, die ihn als Juden in ihren Salons aufnahmen (und sich mit ihm schmückten), mit seinem Engagement.

Von Anfang an ist er Dreyfusard. Nun ist er ein "Dreyfusard avéré", ein bekannter und bekennender Anhänger des Hauptmanns. Swann selbst radikalisiert sich erst gegen Ende seines Lebens. Von seiner Krankheit gezeichnet, erklärt er sich dem Erzähler: '...im Grunde sind alle diese Leute Antisemiten,' antwortete Swann, der sehr wohl wusste, dass einige es eben nicht waren... Über die Herzogin von Guermantes urteilt er: Ja, sie ist bezaubernd... Aber, ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, was immer Sie wollen, alle diese Leute sind von einer anderen Rasse. Man hat nicht ungestraft tausend Jahre Feudalität im Blut. natürlich glauben sie, dass dies in ihren Meinungen keine Rolle spielt (Guermantes II). Die deutsche Übersetzung "Feudalwesen" klingt hier etwas unpassend, ebenso die folgende Stelle: Die Dreyfus-Krise hatte Swann außerordentlich naiv gemacht. Im Original lesen wir: Le dreyfusismeavait rendu Swann d'une naiveté extraordinaire. "Naiveté" wird hier eher à la Schiller (einig mit sich selbst und glücklich im Gefühl seiner Menschheit) verwendet. Dazu trägt neben dem nahen Tod auch das politische Engagement bei ("Dreyfusisme", nicht "Dreyfus-Krise"!). Die soziale Deklassierung wird - wie der Erzähler schreibt - zu einer persönlichen Reklassierung. Swanns Blick auf die Literatur und die Politik verändert sich in dem Maße, wie der Blick der "Mondanité" auf ihn sich verändert.

Und doch unterschreibt er bis zu seinem Ende keine der Unterstützerlisten. Er fand seinen Namen zu hebräisch , um keine schlechte Wirkung auszuüben. Und dann ... wollte er nicht mit der antimilitaristischen Kampagne vermengt werden (Sodome et Gomorrhe II).

Der ihn zur Unterschrift drängen will, ist der jüdische Freund des Erzählers, Albert Bloch. Er gehört der auf Swann folgenden Generation an. Nicht nur darum erscheint es mir nicht plausibel, Bloch als die "schwarze Seite" Swanns zu interpretieren, wie J. Kristeva es tut. Zumal seine Entwicklung in der "Recherche" genau umgekehrt verläuft. Der junge Bloch zeichnet sich durch ostentative Überanpassung aus, durch die "vollkommene Konvention der Unkonvention" (Hans Mayer).

Im mondänen Seebad Balbec spielt Bloch geradezu mit den gängigen antisemitischen Klischees: Man kann nicht zwei Schritte tun, ohne auf sie zu treffen ... Man hört nur noch: 'Sag mal, Abraham, Chai fu Chakup'. Wir lenkten die Blicke auf diesen Antisemiten. Es war mein Kamerad Bloch! Später - auf dem Höhepunkt der Affaire - stilisiert sich der junge Dramatiker bewusst "orientalisch": Er hatte mittlerweile an der Kinnspitze einen "Bocksbart", trug einen Binokel, eine lange Redingote, und den Handschuh hatte er wie einen Papyrus gerollt. Der Erzähler berichtet kurz darauf: Eine Stunde später sollte Bloch denken, dass Monsieur Charlus sich aus purer antisemitischer Bosheit nach seinem Vornamen erkundigt habe, was aber nur aus ästhetischer Neugier geschehen war (Guermantes I). Die Affaire bringt die Protagonisten zu einseitigen Wahrnehmungen, die konfliktverschärfend wirken.

Bloch ist militanter Dreyfusard, sammelt eifrig Unterschriften. Als er erfährt, dass der Prince de Guermantes plötzlich von Dreyfus' Unschuld überzeugt sei, will er sofort dessen Unterschrift. Der im Aristokratenumgang erfahrene Swann rät ab: Man soll nicht das Unmögliche machen wollen. Dieser charmante Mann ist Tausende von Meilen gegangen, um zu uns zu kommen. Der Erzähler fährt fort: ... mein Kamerad fand ihn (Swann) lau, vom Nationalismus infiziert und kokardiert.

Bloch verändert sich jedoch. Hans Mayer beobachtet, dass, in dem Maße wie Bloch in die Gesellschaft hineinwächst, Charlus von ihr ausgeschieden wird (Proust und Bloch, in: Außenseiter). So wie Madame Verdurin es schafft, im ausgehungerten Paris des Ersten Weltkriegs ihre geliebten warmen Croissants zu bekommen, gelingt es Bloch, der mittlerweile zum Chauvinisten mutiert ist, lange Zeit nicht eingezogen zu werden. Als es ihn dennoch ereilt, wird er schnell wieder zum Pazifisten, der keine Lust hat, sich die Haut für Wilhelm durchlöchern zu lassen (Temps retrouvé).

Jahre später, nach dem Krieg, trifft der Erzähler Bloch erneut. Er nennt sich jetzt erzaristokratisch Jacques de Rozier und legte einen ostentativen "Chic anglais" an den Tag. Er trägt Monokel: Er installierte sich hinter dem dicken Glas dieses Monokels in einer herrischen, distanten und bequemen Position ... und seine Züge drückten nichts mehr aus (Temps retrouvé). Der Erzähler fährt fort: Er war einer dieser talentierten Männer, die zu allen Zeiten in der großen Welt zur Blüte kamen, und es schien unvorstellbar, dass er jemals woanders gelebt habe.

Bloch ist "angekommen" (arrivé).

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