Cet absurde nom de Swann - Proust und die Dreyfusaffaire (erster Teil)

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der geschmack der madeleine

die weißdornsträucher...

entzückend gewiss

aber sein gegenstand ist nicht

die wiedergefundene Zeit

das thema von tausend dissertationen

sondern die Darstellung einer einzelnen psychischen tatsache...

So urteilt Alfred Andersch 1977 in dem Gedicht "Odette, Gilberte, Albertine". Und so lieben wir ihn, Marcel Proust, den Hypersensiblen. So wird er beschrieben, als verzärtelt in sich selbst Verliebter, der er freilich auch war (Adorno). Wir tunken in ironischem Spiel unser Gebäck in unseren Tee und beantworten den berühmten Fragebogen. Wie snobistisch wir doch sind!

Andere urteilen links und volkstümlich: Da schreibt ein Muttersöhnchen über Salonbesuche. Derselbe Radek, so berichtet Klaus Mann empört, macht sich in einer Rede darüber lustig, dass Proust sieben Gerüche gleichzeitig voneinander unterscheiden konnte ... in Arbeiterwohnungen gebe es meistens nur einen Geruch, den nach Kohl. Das Image des ichbezogenen weltfernen Décadent wird locker auf den Ich-Erzähler der Recherche übertragen. Die politischen Affairen seiner Zeit interessieren diesen kaum, weiß die E-Bibel Wikipedia.

Nichts ist falscher. Mit der Historikerin Elfriede Müller halte ich A la recherche du temps perdu für "hochpolitisch". Anderes wäre auch ziemlich erstaunlich, fällt doch Prousts Schaffen in des "Taumeln" des langen 19. Jahrhunderts, das 1918 so monströs zu Ende gehen sollte. Geboren wird Proust im Jahre 1871, dem Jahr der Demütigung Frankreichs im Krieg gegen die "Preußen", aber auch dem Jahr der blutigen Unterdrückung der Commune, die so schnell verdrängt werden sollte. Der Vater ist bei der Geburt ein schon berühmter Arzt für "öffentliche Gesundheit", die über alles geliebte Mutter die Tochter eines reichen jüdischen Unternehmers. Zu den Fachgebieten des Vaters gehört die Neurasthenie, der Krankheit dieses "nervösen Zeitalters". Auch Marcel Proust leidet daran, neben schwerem Asthma und auditiver Hypersensibilität.Wie viele andere in dieser Zeit, gekennzeichnet von Unsicherheit und Erregtheit, eine rohe, kraftvolle Lebenswelt, die unserer eigenen in vieler Hinsicht ähnlich ist (Philip Blom).

"Roh und kraftvoll" sind die mit der zweiten industriellen Revolution verbundenen Geräusche: die Motoren der Automobile, die quietschenden Bremsen der Fahrräder der "jeunes filles en fleurs", die plötzlich am Himmel erscheinenden Flugzeuge , an denen derAutor und sein Erzähler leiden, die sie aber auch genießen: Das Flugzeug hat denselben erotischen Erinnerungswert wie der oben zitierte Weißdorn.

Die Dritte Republik erlebt ihre langen Geburtswehen. Dem Adel gelingt es immer weniger, sich gegen die Symbiose mit den bürgerlichen Notabeln zu wehren. Die Gesetze der Vereinheitlichung sind zu stark: Vereintheitlichung des Marktes, der Zeit (erst 1896), der Sprache und (Volks-)Bildung, die wiederum entsprechende Distinktionanstrengungen der höheren Klassen provozieren. Agrarkrisen senken die Grundrenten. Die Notabeln "fiehen" in die Stadt. Die kleinbürgerlichen Schichten werden politisch aktiv. Relativ "feste" Parteien entstehen, der Berufspolitiker löst langsam den Politiker als direkten Vertreter seiner Klasse ab. Schon wird pejorativ vom freischwebenden "Intellektuellen" gesprochen. Wenn ein Barrès das Wort verächtlich ausspricht, bezieht er dies auch auf den jungen Proust.

Von Anfang hat erschüttern Krisen und Skandale die junge "République névrotique": 1882 der Krach der "Union générale", die propagandistisch gegen die Rothschildbank gegründet worden war - entsprechend die massenmediale Schuldzuweisung nach dem Zusammenbruch, 1892 der Panamakanalskandal, der die angebliche Korruption der republikanischen Politiker ("Chéquards") beweist - und wieder werden antisemitische Töne laut. Im selben Jahr wird der Anarchist Ravachol hingerichtet, so wie zwei Jahre später Emile Henry. Der Politiker und spätere Dreyfusard Clemenceau beschreibt in seiner Zeitung lakonisch Henrys letzten Gang. Im Juni 1894 fällt der Präsident Carnot einem Attentat zum Opfer.

Und schließlich wird im Oktober 1894 der elsässische jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus verhaftet. Damit kündigt sich das an, was ein gewisser Ernst Jünger 1947 in einem Brief an einen gewissen Carl Schmitt so interpretiert: Der Casus Dreyfus ist so wichtig, weil er die Lage gewissermaßen in den Atomen enthält. Interessanterweise denkt auch Adorno gewissermaßen nuklear, wenn er schreibt: Proust bemüht sich um geistige Atomzertrümmerung.

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