Cet absurde nom de Swann- Proust und die Dreyfusaffaire (letzter Teil)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

La nation retrouvée

Am 31. Juli 1914 wird der von Jean Santeuil bewunderte Dreyfusard, Sozialist und charismatische Kriegsgegner Jean Jaurès ermordet. Léon Daudet, Freund Prousts und Stammgast im erznationalistischen Salon der Madame de Loynes, macht aus Jaurès ein Opfer seines "deutschen Denkens". An seinem Grab manifestiert am 4. August der Generalsekretär seiner Partei seinen "Hass auf den deutschen Imperialismus", am selben Tag, an dem jenseits des Rheins die SPD-Abgeordneten für die Kriegskredite stimmen. Der deutsche Kanzler und sein Kaiser "kennen keine Parteien mehr", und im französischen Parlament dekretiert Poincaré die "Union sacrée". Die "Intelligentsia de gauche" (M. Winock) schließt sich fast ohne Ausnahme dieser heiligen Union an und kämpft mit ihren Waffen gegen die "Hunnen" und barbarischen "Boches". Die spätestens seit der Dreyfusaffaire Kampagnen erprobte Presse nimmt gerne und auflagensteigernd am "bourrage des crânes", dem Schädelstopfen teil. Überall wittert man Spione, und die durch den Krieg verursachten Probleme (Massensterben, Hunger, Meutereien, Streiks)werden auf den "inneren Feind" , den Verräter, den Pazifisten, projiziert.

In "Le Temps retrouvé", dem letzten Roman des Zyklus kommt der Erzähler nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt nach Paris zurück und muss erkennen: es diese Welt, die "krank" ist: Die idealen Orte entlarven sich als Zentren moralischer und geistiger Debilität (M. Naumann). Neue "Salonköniginnen" beherrschen die mondäne Welt. Es sind alte Bekannte, die ehemals militante Dreyfusarde Madame Verdurin, die sich einst im Gerichtssaal ostentativ solidarisch neben Madame Zola setzte, sowie die einstige Antidreyfusarde Madame Bontemps, Tante von Albertine, des Erzählers verstorbener Geliebten.

Die alten politischen Fronten sind aufgelöst in der gemeinsamen antigermanischen. Die Begriffe Dreyfusard und Antidreyfusard haben keine Bedeutung mehr, konstatiert der Erzähler und reflektiert: Wie die alten Kommunarden Antirevisionisten gewesen waren, wollten jetzt die größten Dreyfusards am liebsten alle erschießen und hatten dabei die Unterstützung der Generäle. Schließlich - so wird argumentiert - , gebe es Dreyfusismus und Dreyfusismus. Und der Gelehrte Brichot, intellektuelles Aushängeschild des Verdurin-Salons, analysiert. dass der Konnex von Dreyfusismus mit Antipatriotismus, Irreligion und Anarchismus zu prähistorischen Zeiten gehört.

Madame Bontemps, deren Gatte politische Karriere gemacht hat (bei der Vorbereitung eines Gesetzes zur Verlängerung der Miltärdienstzeit vor dem Krieg), geht jetzt nachmittags zum Tee "chez les Lévy". Madame Verdurins Lieblingspronomen ist "Wir", und das meint Frankreich. Man lädt sich ein: Kommen Sie um 5 Uhr zum Über-den-Krieg-Reden. Selbst einrichtungsästhetisch ziehen die einst modernistischen Verdurins nun die alten französischen Möbel vor: der "modern style" wird zum "style munichois" erklärt.

Zu den wenigen Kriegskritikern gehört - mittlerweile wenig überraschend - der Baron de Charlus. Mit schneidender Logik nimmt er den Hurrapatriotismus der Upper Classes auseinander, zeigt Mitleid mit den hungernden Deutschen und mokiert sich über die intellektuellen Kriegstreiber und deren Leser: 'Was erstaunlich ist,' sagte er, 'ist, dass die Öffentlichkeit in Kriegsdingen nur nach den Zeitungen urteilt, dass aber jeder überzeugt ist, selbst zu urteilen. Während der Dreyfusaffaire war es kaum anders.

Odette Swann hat nach dem Tod ihres Mannes den aristokratischen Grobian de Forcheville geehelicht (eine bis vor kurzem unmögliche Verbindung). Dieser adoptiert sogar ihre und Charles Swanns Tochter Gilberte, deren Millionen sicherlich bei einer Verheiratung behilflich wären, so wie dieser absurde Name Swann hinderlich wäre.

Nach erneutem längeren Sanatoriumsaufenthalt stellt der Erzähler fest: Tout a changé. Die Salons im Nachkriegsparis sind fest in bourgeoiser Hand, auch wenn die "Königin" Princesse de Guermantes heißt - es ist die alte Madame de Verdurin, die den verwitweten Prinzen geheiratet hat. Die wahren, aber uralten Aristokraten sind nur noch Dekor - ein gespenstiges. Der Erzähler fühlt sich bei ihrem Anblick an Exponate eines naturgeschichtlichen Museums erinnert. Und auch er selbst muss seinen Alterungsprozess konstatieren. Da sind die neuen jungen Salonlöwen: Sie lesen die Werke Blochs, Werke ohne Originalität, die aber bei den jungen Männern und vielen Frauen den Eindruck hoher Intellektualität machen. Vage nur hielt sich bei ihnen die Erinnerung an die Dreyfusaffaire, dank der Erzählungen ihrer Väter, doch wenn man ihnen sagte, dass Clemenceau Drefusard gewesen sei, antworteten sie: 'Nicht möglich! Sie irren sich, er stand auf der anderen Seite. Diese Attitude hat der Autor schon in "Guermantes II" vorweggenommen: Die Söhne dieser noblen Herren (und militanten Antisemiten), bolschewisierende Walzertänzer, sollten 25 Jahre später erklären, dass sie zu jenen Zeiten selbstverständlich für Dreyfus gewesen wären.

Dass der Antisemitismus mit der Rehabilitierung Dreyfus und der "Union sacrée" eben nicht endete, sollte Proust nicht mehr erleben. Sein Romanheld steht am Ende der Suche nach der verlorenen Zeit jedoch vor einem Scherbenhaufen und erkennt den Sinn seines Lebens gerade darin, den Roman des Scheiterns zu schreiben. Prousts Regression ist ein Stück Utopie, schreibt Adorno. Wie die Liebe scheitert er daran, aber im Scheitern denunziert er die Gesellschaft, die befiehlt, dass es nicht so sein soll. Und, so möchte ich ergänzen, Proust denunziert den Antisemitismus, der diese gesellschaftliche Verlogenheit am Leben hält. Er ist kein "echter neuer Linker", wie E. Müller etwas provokant behauptet, aber er ist ein "echter Autor" für Linke. Auch nach hundert Jahren.


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden