Der linke Orpheus und die Moral der kleinen Leute

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Der Philosoph Jean-Claude Michéa ist ein "auteur pour happy few", meint - Stendhal zitierend - der Kritiker des liberalen Express. Dies stimmt für Deutschland, für unser Nachbarland schon lange nicht mehr. Und "happy" sind der Autor und die meisten seiner Leser erst recht nicht, eher verzweifelt angesichts der "Destruction présente du monde".

Michéa ist Anarchist, Sozialist und überzeugter Konservativer - so ähnlich wie sein Referenzautor George Orwell: Der Sozialismus verliert genau dort an Terrain, wo er dieses gewinnen müsste. Das Zitat ist achzig Jahre alt (Wilhelm Reich und Ernst Bloch formulierten damals ähnlich), heute - im Angesicht der Krise des Kapitalismus - hat diese Diagnose fast Allgemeinplatzcharakter. Es kommt natürlich darauf an, was unter Sozialismus verstanden wird.

"Le complexe d'Orphée" nennt Michéa sein neustes Buch (1). Es ist die Bearbeitung von Antworten auf Fragen des kanadischen Anthropologen Stéphane Vibert. Michéa erläutert seinen Standpunkt in einer sehr spezifischen Weise: den einzelnen Kapiteln lässt er "Scolies", Erweiterungen, folgen, die ihrerseits in Fußnoten konkretisiert werden. Der Autor nennt dies eine "construction spirale". Sie bereichert die Lektüre - und erschwert sie zugleich durch die Aufhebung ihrer Linearität.

Dreht euch nicht um!

In Frankreich entwickelte die Dreyfusaffaire (1894ff) bekanntlich eine ungeheure politische Wucht. Aus der einfachen Opposition "Bleus"- "Blancs" (republikanische, liberale, parlamentarische "Linke" versus konservative bis reaktionäre "Rechte") wurde mit dem Hinzutreten der bisher eher kommunistischen, sozialistischen, anarchistischen "Rouges" ein "Spiel zu Dritt" (Michéa). Damit wurde die bisher eher außerparlamentarische sozialistische Arbeiterbewegung "eine Strömung unter anderen". Wie fast zeitgleich im Deutschen Kaiserreich wurde der "Weg" das Ziel. "Links" sein, hieß (und heißt) fortan, die "Integration" voranzutreiben und "vivre avec son temps", auf Deutsch für Politiker: "die Zeichen der Zeit erkennen." "Links sein, hieß (und heißt) fortan, an den "Sinn der Geschichte" zu glauben, zu wissen, dass die alte Arbeitswelt mit ihrer Rückständigkeit verschwinden wird, genauso wie Eifersucht und Liebeskummer. Und an Sonntagen wurde international "Du passé faisons table rase" gesungen. Dieses quasi religiöse Verbot, zurückzuschauen, zu reflektieren, welche zutiefst menschlichen Eigenschaften verloren gingen, eventuell für immer, erzeugte das, was Michéa als "Orpheuskomplex" der Linken bezeichnet. Je mehr sich diese Linke auf dem Weg "zur Sonne, zur Freiheit" bemüht, nicht zurück zu Eurydike zu schauen, desto mehr verkrampft sie in sozialtechnischen Fortschrittsphantasien, wird sie der so genannten Rechten immer ähnlicher. Orpheus hält es bekanntlich nicht aus, dreht sich um, und Eurydike verschwindet in fernster Vergangenheit. Der "Augenblick ihrer Verwirklichung (ward) versäumt", schrieb Adorno im ähnlichen Kontext.

Nur so kann die scheinbar alternativlose liberale Welt hegemonial werden, um einen alten Begriff aus der neuen (nicht nur) sozialdemokratischen Thinktank-Welt zu verwenden. Michéa beschreibt wortmächtig eine "Humanité sans passé", sie ist präsentistisch, das immergleiche Neue neu produierend, in permanenter Mobilität. In der "société libérale-déleuzienne" herrscht der Kapital- und Arbeitnomadismus. Man erkennt,. dass auch die Polemik den Charme des Buches ausmacht. Witzig (im Sinne von geistreich) ist in diesem Kontext die Entlarvung des so geliebten Piratenparadigmas: der Pirat als "modernes Raubtier" mit dem unbefragten Recht, den Mehrwert der Arbeiter der ganzen Welt gratis herunterzuladen, legitimiert von der "Nouvelle idéologie de la gratuité".

Was Marx und Engels im Manifest der Bourgeoisie noch zugute schreiben, ist nach Versäumen des Augenblicks als humanitäre Katastrophe ausgewachsen. "Liberale und postmoderne Metaphysik" postulieren konnivent eine "A-moralité constitutive". Generell findet eine "Lumpenisation" (überdies ein schönes Wortspiel: Le Pen - Lum Pen), und zwar Unten und Oben, wo dies allerdings nicht immer mit materieller Armut einhergeht. Meredith Hanf hat diesen Prozess neuerdings für die so genannten TINA-Kinder (die "Kinder" bis Mitte Dreißig) illustriert.

Und die ihre revolutionäre Vergangenheit tabuisierende Linke war und ist stets dabei - als Sozialdemokraten, Stalinisten, Achtundsechziger, Foucaldianer. Die Divergenzen zur parlamentarischen Rechten sind reine Oberfläche. letztere distinguieren sich mit der "Strategie des roten Tuchs": kleine Provokationen, Polizeiaktionen gegen "illegale" Arbeiter, Debatten über "nationale Identität" (bei uns "Leitkultur") treiben die Linke auf die Barrikade - der Pressekonferenz.

Ein Köder ist für Michéa auch der Begriff des Neoliberalismus. Der "neue" ist der alte Liberalismus. Schon der Urliberale Bastiat forderte 1849 die Privatisierung von Polizei, Schule, Kirche.

Fazit: Die Menschheit befindet sich in einer "absoluten Sackgasse". Die katastrophischen Konsequenzen - menschlich und ökologisch - stehen noch aus.

Vor dem Fressen die Moral

Wo wächst das Rettende in der Gefahr? Paradoxerweise - so Michéa - verweist das lange Überleben (sich Überleben) des liberalen Kapitalismus auf die Traditionen. Es sind gerade die "kulturellen Sedimente" tradioneller Moral (Ehrsamkeit, Arbeitsstolz, gegenseitige Hilfe etc.), die den Kapitalismus mit seiner liberalen Utopie an der Autodestruktion (im doppelten Sinne?) gehindert haben. Doch sind diese immensen Kräfte fast verzehrt. Es sind dies die Kräfte, die Orwell "Common Decency" genannt hat, auf die Michéa in seinen Werken immer wieder zurückkommt, Tugenden, die auf dem quasi anthropogenen Sockel "Geben, Empfangen und Zurückgeben" (Marcel Mauss) beruhen. Und dieser moralische Sockel ist für Michéa (der übrigens auch Fussballtrainer ist) noch eher im "peuple" zu finden. Für die Mitglieder der herrschenden Klasse benutzt er mit sichtlicher Freude die Sartreschen Definition des Lumpen: "die absolute Unempfindlichkeit gegenüber jedem Zweifel."

Kein wirklicher Sozialismus ohne Common Decency, kein Überleben der Common Decency ohne Sozialismus. Der "Libertaire et solidaire" ist weder reaktionär noch (pseudo)links. Er ist "aufgehoben" in lokalen und regionalen Strukturen. Ein Merkmal ist Mißtrauen gegen jede Form von Gewaltbeziehungen (auch gegen die eigenen). Michéa folgt (nicht nur hier) Camus: Er ist ein freier Mensch, niemand dient ihm. Er hätte übrigens auch Marx zitieren können. Die freien Menschen leben (und arbeiten) in Face-to-Face-Situationen, d.h. ökonomisch die weitgehende Auflösung der globalen Economie du marché und deren Ersetzung durch kooperative Formen einer Economie de la proximité. Das Privateigentum wird eingeschränkt, aber nicht abgeschafft. Es ist zum Beispiel im Verlagswesen konstitutiv für die Meinungsfreiheit. Insgesamt bleibt der Autor hier notgedrungen vage . Er ist sich sicher, dass die sozialistische Zukunft nicht konfliktfrei verlaufen wird (warum sollte sie auch?). Grundbedingung aber ist die Selbstverständlichgkeit der "sozialistischen (=dezenten) Moral" (er weiß sicher um deren Konnotationen).

Damit ist die zentrale Frage angesprochen. Der erzogene Erzieher Michéa weiß als ehemaliger Lehrer für Philosophie: Das menschliche Subjekt muss immer instituiert werden. Die "Schule der Ignoranz " (Michéa gehörte zu den ersten Kritikern der liberalen Schulreformen) mit ihrer Infantilisierung muss abgelöst werden, um autonome und solidarische Subjekte zu erziehen (für viele schon ein Widerspruch: Erziehen und autonome Subjekte). Erzogen werden, bedeutet auch, sich zu erziehen, sich anzustrengen, sich zum Beispiel um eine klare, lebende und präzise Sprache zu bemühen, was - Michéa bezieht sich wieder auf Orwell - schon einen "Akt täglichen politischen Widerstands" bedeuten kann. Dazu gehört auch eine "sinnvolle" Arbeit, kein "Job", sondern das, was früher "Métier" genannt wurde und von Menschen ausgeübt wurde, die ihr "Handwerk" verstanden. Michéa klingt hier bewusst konservativ.

Ja, aber

In der Diskussion um und mit Michéa gibt es zahlreiche Fragen und Einwände.

1. Der Diagnose stimmen viele Kritiker zu (auch "echte" Konservative): die Geschichtsvergessenheit (nicht nur) der Linken, der Tunnelblick auf den technischen Fortschritt, die Ideologie der Mobilität, der Entwertung der Arbeitskraft und der drohen ökologischen Katastrophe - wer könnte hier ernsthaft widersprechen? Eine Therapie ohne vollständige Ursachenforschung kann aber selber Krankheiten erzeugen. Marxisten bereitet die Krisenherleitung hauptsächlich aus der Ideologie des Liberalismus und einem politisch-notwendigen "Sündenfall", dem Orpheuskomplex der republikanischen Linken unter Vernachlässigung einer kohärenten ökonomischen Analyse Bauch-, besser Kopfschmerzen. Andererseits bestimmt auch das Bewusstsein das Sein. Wenn nicht, wäre das Ganze trostlos.

Und wer ist für Michéa das "revolutionäre Subjekt"? Die parlamentarische Linke und die Gewerkschaften fallen für Michéa aus den bekannten Gründen aus, die Piraten und Okkupierer sind nicht ernst zu nehmen. Andererseits: die Implosion des liberalen Kapitalismus abzuwarten, wäre a) zynisch und b) ein Widerspruch zu,m Theorem der abnehmenden Common Decency.

In einer einstündigen Radiodiskussion (France-Culture, worüber in Frankreich noch diskutiert werden darf! Trotz alledem!) wies der Historiker und Leitartikler Julliard bei prinzipieller Zustimmung zur Diagnose Michéas darauf hin, dass alle wichtigen echten Fortschritte in Frankreich stets von einer Art Front populaire erreicht wurden. Michéa antwortete eher ausweichend.

2. Michéas Beharren auf der Notwendigkeit einer neuen (aber alten) empathischen Moral des Volkes ist sicher zuzustimmen. Aber ist es wirklich so einfach, wie er suggeriert. In der "Revue du MAUSS permanente" vermisst Anselm Jappe eine klare Definition der Common Decency und erwähnt kritisch als Beispiel auf die Moral der Deutschen im Nationalsozialismus. Die dezenten "gens ordinaires" waren auch die "Quite ordinary men" (Chr. Browning) der Judenvernichtung. Innerhalb der Gruppe waren sie solidarisch, desto besser funktionierten sie als Massenmörder. Nach dem Krieg waren sie natürlich immer "anständig" gewesen. Um zuzuspitzen: Wodurch unterscheidet sich die Moral des Volkes à la Michéa von der völkischen Ideologie der zur heiligen Johanna der Schlachthöfe gewandelten Marine Le Pen?

In Frankreich ist diese Frage bisher kaum expliziert worden. Und in der Tat unterscheidet sich die französisische populäre Kultur wesentlich von der deutschen (vor kurzem noch fand ein mediales Erinnern an den vor dreißig Jahren gestorbenen anarchistischen Sänger Georges Brassens statt, das bei uns undenkbar wäre. Die Reaktionen auf den Tod Degenhardts belegen es). Zurecht könnte Michéa auf die universelle und tendenziell herrschaftsfreie Konzeption der Common Decency verweisen (im Unterschied zu Le Pen jun.).

Er idealisiert nicht das "gesunde Volksempfinden und "dreht" den allgegenwärtigen Vorwurf des Populismus. Der Universalismus der "Kerosin-Linken" (inklusive Negri und Badiou) übersehe vorhegelianisch die Beziehungen zwischen Universalem und Partikularem. Letzteres werde "unterdrückt", aber nicht "aufgehoben". Dichotomisch werden bei den genannten Autoren der Migrant zur "Erlösungsfigur" stilisiert und die "travailleurs traditionels" zu faschistischen Kleinbürgern denigriert. Der Orpheuskomplex funktioniert: die historischen Kämpfe der Arbeiter (LIP) und Bauern (Larzac) werden durch mediales Vergessen vernichtet.

Michéa denkt seine "Apologie des Populismus" so weit, dass ich ihm zumindes tin der Formulierung nicht mehr folgen möchte: Ein Wähler des Front National ist ein ehemaliger Wähler der kommunistischen Partei, bei dem dreimal eingebrochen wurde. Die Linke habe für die konkreten Sorgen der kleinen Leute keine Antworten (außer Verachtung). Sie speise die Menschen with their eyes gloomed on economic facts (Orwell) ab, so dass diese sich in ihrer Not Sündenböcke phantasieren (Ausländer, Juden, Araber, Intellektuelle), was ihnen dann wieder als Ressentiment vorgeworfen werden kann. And so on.

Aber ja

Man muss wahrlich nicht mit allem einverstanden sein, aber anregend und weiterführend (ich höre manche schon "zurückführend" denken) ist das Buch allemal, auch - und gerade - wenn man mit Adorno das halsstarrige Beharren auf Wertenund Bindungen als verlogen betrachtet. Michéa lenkt den Blick zurück auf die Klasse(n), die die sozialdemokratischen Parteien, auf die Mittelschichten fixiert, aufgegeben haben. Und er verweist auf die Fragen der Moral und des Glücks in unserer Société du spectacle. BILD weiß das besser (und verdreht dies), die Linken wohl nicht mehr. Sie sollten (auch) Michéa lesen. Oder Brecht: Der Kommunismus ist nicht radikal, radikal ist der Kapitalismus.

(1) Jean-Claude Michéa, Le comlexe d'Orphée. La gauche, les gens ordinaires et la religion du progrès. Paris 2011 (Flammarion)

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