Céline, Adrien und ihre "Camarades", für die das Private immer politisch ist.

Gewalt gegen Frauen Der populäre Insoumis Adrien Quatennens soll seine Frau misshandelt haben. Der Skandal löst in der FI eine Schockstarre aus. Medien und Politik reagieren wie üblich. Und der Extremfeminismus zeigt sich als Kinderkrankheit der Linken.

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Unter den zahlreichen Scheidungsfilmen ragt Ingmar Bergmanns Drama „Szenen einer Ehe“ (1978) heraus. Der Film zeigt unerträglich langen archetypischen Sequenzen die Geschichte der Trennung von Marianne und Johan: von glücklicher Zweisamkeit über Routine zur Entfremdung, von geduldeten Seitensprüngen zu Streit und Versöhnung , und schließlich zur tiefen Kränkung und verzweifelten Gewalt des „verletzten Ehemanns“. Bis heute wird das Stück auf den Bühnen gespielt, noch immer mit großem Erfolg. Es geht allen unter die Haut. Jede(r) weiß irgendwie, dass glückliche Beziehungen in Hass, ja sogar in Gewalt umschlagen können. Jede(r) ahnt, wozu wir Menschen fähig sind.

Céline und Adrien stammen beide aus der nordfranzösischen Stadt Lille. Seit 13 Jahren leben sie als Paar zusammen. 2019 kommt ihre Tochter zur Welt. Im August dieses Jahres, nach der Rückkehr aus dem Urlaub, verkündet Céline ihrem Adrien, dass sie die Scheidung eingereicht habe. Anfang September zeigt sie ihren Mann an, wegen „ehelicher Gewalt“. „Une histoire ordinaire en France“, um den Sänger Francis Cabrel zu zitieren. Das Ende einer Ehe. Eine so traurige wie banale Geschichte. Aber eine Geschichte, deren Enthüllung wie eine Bombe einschlug. Der Fiesling ist nämlich Adrien Quatennens, und der ist nicht weniger als die Nummer 2 der „France insoumise“, ein potentieller Nachfolger Mélenchons.

Quatennens trat stets für Frauenrechte ein. Er war es, der im November 2019 in der Nationalversammlung der Regierung vorwarf, nicht genug gegen die Feminizide zu tun. Von den 118 im Jahr 2019 getöteten Frauen habe ein signifikanter Anteil eine Anzeige gestellt. Die Feminzide seien also vorhersehbar und vermeidbar gewesen. Es war Adrien Quatennens, der einige Tage vorher auf „Europe 1“ feststellte:

Sobald jemand Klage erhebt, um zu sagen „Ich bin bedroht“, sollte uns das alarmieren. Wir brauchen ein klares Vorgehen.

Immer forderte Quatennens die Erhöhung der öffentlichen Gelder für die Prävention von Gewalt gegen Frauen. So wie die gesamte „France insoumise“, in der sich viele militante Feministinnen engagieren. Im Wahlprogramm von 2022 liest man neben vielen konkreten Vorschlägen dieses:

Trotz der Bewegungen #METOO und #Nous Toutes haben sich die Rechte der Frauen in Frankreich nicht bewegt. Um das Patriarchat zu beenden, werde ich... Jean-Luc Mélenchon wählen.

Der 1990 geborene Adrien Quatennens gilt (galt?) als enormes politisches Talent. Anders als die meisten seiner parlamentarischen Kollegen (vor allem der Macronie) kann er zwar keine langen Universitätsstudien vorzeigen, erst recht keinen Abschluss einer „Grande École“. Er arbeitete als Kundenberater in einem Callcenter, was makronistische Abgeordnete zu Beginn mit der üblichen Klassenverachtung kommentierten. Aber er trat sein Amt nicht unvorbereitet an. Schon mit 16 Jahren engagierte er sich politisch, u.a. bei Attac. 2012 wurde er Mitglied im „Parti de gauche“ Mélenchons, 2017 für die „France insoumise“ Abgeordneter (mit gerade einmal 50 Stimmen Vorsprung), und 2022 konnte er seine Wiederwahl mit grandiosen 65 Prozent feiern. Mit seinen rhetorischen Fähigkeiten, seiner argumentativen Sicherheit, seiner stets guten Vorbereitung und einem gewissen Charisma (inklusive der Marke roter Bürstenschnitt) ragt(e) er aus der agilen „jungen Garde“ Mélenchons hervor. Als Koordinator der Partei/Bewegung wurde er medial bekannt, vor allem aber als unerschütterlicher Kämpfer gegen die neoliberale Rentenreform 2020 (die von Corona vorübergehend auf Eis gelegt wurde, aber in diesem Herbst wiederdroht). Und nun dieser Choc. Ein Choc auf allen Ebenen.

Céline Quatennens hatte die Polizei gebeten, ihre Anzeige nicht an die Medien weiterzugeben. Sie wolle weder eine Anklage ihres Mannes noch irgendeine gerichtliche Auseinandersetzung. Beim gegenwärtigen Zustand der Polizei eine vergebliche Bitte. Das in Enthüllungen geübte (und von diesen lebende) Magazin „Le Canard enchaîné“ ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen. Die Quatennens liefen plötzlich Gefahr zur medialen Jagdbeute zu werden, mit den entsprechenden kolossalen Kollateralschäden für die Bewegung. Das (Noch-)Ehepaar reagierte mit einem Communiqué, in dem sie „die Achtung ihres Privatlebens“ einforderten. Vergebens. Der Druck nahm zu – von allen Seiten (auch von der eigenen Seite). Am 18.September musste Quatennens ein neues Communiqué veröffentlichen. Zunächst verurteilte er die „Böswilligkeit" der Polizeibehörde (die die Anzeige durchgereicht hatte):

Als politisch engagierter Mensch weiß ich, wie die Medien und die politische Welt funktionieren. Das ist aber nicht der Fall meiner Frau, die sich stets ferngehalten hat...

Quatennens beschreibt, wie schwer ihn die Scheidungserklärung seiner Frau getroffen hat. Und er sieht sich gezwungen, die Fakten zu reportieren. Damit verstößt er jedoch gegen seinen und Célines Vorsatz. Da die Fakten nun bekannt sind, erwähne auch ich sie (ungern) an dieser Stelle. Es gab natürlich Dispute und Handgreiflichkeiten. In einer Auseinandersetzung, so Quatennens, habe er Céline fest am Handgelenk gepackt. Einmal habe er ihr das Telefon abgenommen. In der folgenden Rangelei habe Céline sich den Ellbogen gestoßen. Und er berichtet von einer Ohrfeige, verabreicht in einer „Situation gegenseitiger Aggression“. Er spricht auch von seiner Reue und seinen Entschuldigungsversuchen. Politisch verzichtet Quatennens auf das des Amt des Koordinators, nicht aber auf sein Abgeordnetenamt. Am Ende verlangt er,

dass unser Recht auf ein Privatleben respektiert wird... Niemand wünsche ich das Rampenlicht, das wir ertragen müssen, in einer so harten Situation wie eine Scheidung.

Jean-Luc Mélenchon, der dreifache Präsidentschaftskandidat im Unruhestand, kam sofort seinem „Protégé“ zu Hilfe und twitterte: Je salue son courage.

Er beging jedoch den Fehler, Céline nicht zu erwähnen. Sofort setzte der Shitstorm ein. Hauptvorwurf: Er habe das Opfer, Céline, „invisibilisiert“, wie der eher linke einflussreiche Rhetorikprofessor Clément Viktorovitch es formuliert. Die Ministerpräsidentin Elisabeth Borne gab zu Protokoll, es sei extrem schockierend, dass man jemand habe, der innerfamiliale Gewalt banalisiere. Marine Le Pen, von der man wenig über den Virilitätskult ihrer Bewegung hört, hielt es für „unglaublich“, dass man jemand loben könne, der gerade Gewalttätigkeiten zugegeben habe. Vielleicht müssen die Insoumis der Queen und den Hofmedien dankbar sein, dass Letztere sich nicht mit der üblichen Verve des Themas angenommen haben (obwohl sogar die New York Times und die Frankfurter Zeitungen berichteten). Aber die Flamme köchelt und ist jederzeit hochziehbar. hochzuziehen.

Mélenchon jedenfalls erkannte seinen Fehler und korrigierte ihn drei Stunden später.

Ich bin mit Céline und Adrien befreundet. Céline wollte nicht zitiert werden. Aber ich sage es hier : eine Ohrfeige ist immer inakzeptabel.

Es war zu spät. Vor allem die Feministinnen in der France insoumise waren in der dilemmatischen Falle. Da der Wille Célines zu achten ist (als Wille einer Frau), kann man kaum auf die Gewaltakte ihres Gatten eingehen. Diese als das, was sie sind, nämlich eher mindere, vielleicht sogar verständliche Reaktionen in einer privaten Extremsituation, wäre eine Rechtfertigung von Gewalt „an sich“. Der Verweis auf die Gewalt anderer wäre seinerseits eine billige Diversion.

Jedenfalls ist der Schaden für die LFI und die NUPES enorm. Und nicht nur für diese. Man kann einen so guten Politiker wie Adrien Quatennens nicht einfach fallen lassen (zumindest nicht für eine Ohrfeige im Affekt). Das wird spätestens in der anstehenden Rentendebatte deutlich werden. Andererseits werden die Macronie , die Republikaner und die Lepenisten (und ihre Internetkrieger) – auch über die bürgerlichen Medien – die angeblich „ungeklärte Gewaltfrage“ der Linken dosiert in die Öfffentlichkeit streuen. Die Trolls der bürgerlichen Parteien gaben schon einmal einen Vorgeschmack: Quatennens ist begeisterter Musiker. Seine Spezialität ist... das Schlagzeug („batterie“). Ich muss die intelligenten Wortspiele der Infohelden und -innen hier nicht erwähnen.

Auf der politischen Ebene gab die Ministerpräsidentin Borne bei einer Rede schon einmal einen Vorgeschmack:

Das Versprechen der LFI ist klar: überall das Chaos säen, im Parlament und auf der Straße. In diesem Moment stellt man allerdings fest, dass das Chaos bei ihnen selbst ist (leiser Applaus, feines Lächeln der Ministerpräsidentin).

Aber vielleicht liegt das Problem eher im eigenen Lager, nämlich in jenem uralten politischen Masochismus der Linken, dessen Lieblingsübung das genussvolle Waschen schmutziger Wäsche in der Öffentlichkeit zu sein scheint. Am 19. September fühlte sich die ökolinke extremfeministsiche Abgeordnete Sandrine Rousseau berufen, in einer beliebten Infotainmentsendung ihren Kollegen Julien Bayou psychischer Gewalt gegen seine Ex-Frau zu bezichtigen.

Sie war in sehr deprimiertem Zustand, es ging ihr sehr schlecht. Sie hat übrigens einige Wochen später einen Suizidversuch unternommen... (Bayou) soll Verhaltensweisen gehabt haben, die die moralische Gesundheit von Frauen naturgemäß brechen. (Ich habe hier bewusst ganz wörtlich zitiert)

Rousseau evozierte einen schon fast vergessenen Fall, der seit Juli die für „sexistische und sexuelle Gewalt“ zuständige Zelle ihrer Partei beschäftigt, bisher ohne Lösung. Bayou sprach damals von „einer schmerzhaften und schwierigen Trennung“, wies aber jede Gewaltanwendung zurück. Nach dem Auftritt Rousseaus musste aber auch er – auf Druck der Partei -von seinem parlamentarischen Amt als Ko-Präsident der Fraktion zurücktreten.

Aber zurück zu Adrien und Céline. Dass die „Camarades“, die mit Quatennens eng zusammenarbeiten, große Probleme haben, eine der menschlichen Würde und der politischen Aufgabe entsprechende Reaktion zu finden, ist offensichtlich (und gut so). Keine Probleme haben jedoch 558 (eher unbekannte) Extremfeministinnen, die in der sehr bürgerlichen „Monde“ eine „Tribune“ veröffentlichen, die einen zum Frösteln bringen kann. Darum sei sie hier etwas länger zitiert.:

Die Geständnisse (sic) von Adrien Quatennens machen ihn politisch verantwortlich.

Eric Coquerel, Taha Bouhafs und die unerträglichen Worte von Jean-Luc Mélenchon, Julien Bayrou wegen psychologischer (sic) Gewalt, Thomas Piketty... Und heute also Adrien Quatennens, der die Anzeige seiner Ex-Frau ohne deren Zustimmung enthüllt. Und in der LFI herrscht seit mehreren Tagen ein bleiernes Schweigen...

Wir, Feministinnen, Militante, Wählerinnen und Exkandidatinnen (in der korrekten Schreibweise: „féministes, militant.e.s, électeur-rice.s, ex-candidat.e.s“) verurteilen die von Adrien Quatennens zugegebenen Gewalttaten an seiner Ex-Frau und versichern diese unserer bedingungslosen (sic) Unterstützung.

Die Fakten sind klar (sic): eine Ohrfeige ist ein Akt physischer Gewalt, die Konfiszierung (sic) eines Telefons entspricht psychologischer Gewalt.

Wir verurteilen mit größter Bestimmtheit (sic) die Reaktion von Jean-Luc Mélenchon und Seinesgleichen, die die patriarchalische Kultur (sic) verstärken. Es steht den Freunden („ami.e.s“) des Aggressors (sic) nicht zu, die Schwere der Fakten zu beurteilen und an den Respekt des Privatlebens zu appellieren. Das Private ist politisch...

Wir Feministinnen sind mit dem Rückzug Adrien Quatennens' von seinen Verantwortlichkeiten in der LFI nicht zufrieden..., wir fordern, dass er von seinem parlamentarischen Mandat zurücktritt (sic) und dass die VSS-Zelle der LFI ernsthaft alle möglichen Sanktionsgrade (sic) in Erwägung zieht...

Man verzeihe mir die zahlreichen „Sic“. Aber ich mag diesen für mich unglaublich dummen Text nicht groß interpretieren, sondern nur darauf hinweisen, dass die Macronie im Begriff ist, die letzten öffentlichen Bastionen in Frankreich zu schleifen, dass die soziale Verwüstung wie überall in Europa noch weiter zunehmen wird, dass im Moment in einem elenden Krieg unglaubliche Gewalt (von allen Seiten) ausgeübt wird etc. etc. etc. Kann man sich angesichts einer solchen Verbindung von Ignoranz und Arroganz bei diesen „Unbedingten“ noch wundern, dass es die Linke einfach nicht bringt? Warum schaffen diese „Electeur-rice.s“ es wenigstens nicht bis zur Position von Clémentine Autain, Abgeordnete der LFI und Feministin:

Es ist ein wirklicher Choc, eine Prüfung für unsere Bewegung, schwierig auf der menschlichen Ebene. Wir sind keine Maschinen.

Ist es so schwer zu verstehen, dass die Menschen nicht von „kalten Engeln“ vertreten werden wollen, für die es keine Widersprüche gibt, schon gar nicht menschliche Schwächen? Ist der unbarmherzige Extremfeminismus eine der Kinderkrankheiten der Neuen Union populaire? Oder der unvermeidliche Spiegel unseres viel zu späten Kapitalismus? Dann Gnade uns Gott!

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