Grausamkeit ohne Grausamkeit

Gnadenlos Henning Ritters neues Buch zeigt Reaktionen bestimmter Autoren auf das Paradoxon der "Grausamkeit ohne Grausamkeit". Es aber zeigt auch die Grenzen konservativer Kritik.

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Edler Freund, wo öffnet sich dem Frieden,

wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?

Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,

und das neue öffnet sich mit Mord.

Der "Sturm", den der Citoyen d'honneur der französischen Nation meint, war eigentlich als der große Befreier der Menschheit gedacht. Befreier auch von der feudalen Grausamkeit, die sich noch einmal in der Räderung Calas' und der stundenlangen Vierteilung Damiens zeigte. Der Schlaf der Vernunft hatte Monstren erzeugt, doch anscheinend machte es ihr Traum nicht besser.

Henning Ritter geht es in seinem neuen Buch darum, dieses Paradox zu verdeutlichen: im langen 19. Jahrhundert schreitet die Menschheit nicht nur im Bewusstsein ihrer Zivilität voran, sondern auch in der Praxis der Grausamkeit. Der ehemalige FAZ-Redakteur und Kenner französischer Literatur gilt als "bedächtiger Konservativer". Als solcher ist er auch von Linken mit Gewinn zu lesen - im Gesagten und im Beschwiegenen (1).

"Barmherzigkeit" und "Terror" - in der Französischen Revolution erscheinen sie komplementär. Während in Notre-Dame die Kinder Calas', des Opfers religiöser Intoleranz, gefeiert werden, debattiert der Konvent über die Notwendigkeit des Schreckens. Jules Michelet folgend, interpretiert Ritter die Sentenz: Le vrai roi moderne, le scribe. Die Hinrichtung Louis XVI., von den Monarchisten als "Königsmord" bezeichnet, zeige die "Kälte, die Mitleidslosigkeit" der Jakobiner.

Vor allem Robespierre gilt als "Typus des Vollstreckers", so Ritter, der sich als liberaler Konservativer hier (und an anderen Stellen) auf Sieburg und Furet beruft. Dies engt jedoch die Perspektive ein: hinter dem Bild des "Blutsäufers" verblasst der Einzelkämpfer der Constituante, der mutig für die Bürgerrechte der Juden, die Abschaffung der Sklaverei, die Pressefreiheit und gegen die Todesstrafe (!) eintritt. In der Législative ist Robespierre fast als einziger gegen den von der bürgerlichen Mehrheit geforderten Krieg: On n'aime pas les missionaires armés!

Dieser Einwand zeigt jedoch nicht, dassRitters Einschätzung Robespierres falsch ist. Der Benjamin Constant gewidmete Essay demonstriert dies. Der rastlose Constant ist in seinen politischen Analysen äußerst nüchtern und präszise. Es gilt das (liberale) Erbe der Revolution zu retten. "Freiheit" ist für ihn Freiheit von der Politik, der "doux commerce" sozusagen. Constant konstatiert, dass die revolutionären Rousseauisten ihr antikes Republikverständnis mit Gewalt auf eine komplexe ziviles Gesellschaft angewandt haben: ein fiktiver Anteil an einer abstrakten Souveränität war eben nicht die Opfer wert. Die moderne Gesellschaft brauche keine Helden mehr. Paradoxerweise muss er hellsichtig konstatieren, dass die Kriege umso grausamer werden, und sei es aus Gründen der Abwechslung. Der Leser denkt unwillkürlichan die zahlreichen Augsusterlebnisse von 1914.

Die politische Analyse wird weitergeführt im Essay über Tocqueville. Auf seiner Amerikareise entdeckt dieser die Zukunft Europas: die moderne Demokratie mit dem entsprechenden Ethos des Pursuit of happiness. Hindernisse, die sich dem individuellen Glück entgegenstellen, werden legal beseitigt. Egoismus verträgt sich durchaus mit Mitgefühl.

Die grausame Behandlung der Sklaven durch die Aristokraten des Südens wird von dem Aristokraten Tocqueville hart kritisiert. Er ist aber auch Realist genug, die "dunkle Seite" der Moral zu sehen. Nach der Sklavenbefreiung rechnet er mit verschärftem Rassismus: Die Ungleichheit setzt sich in dem Maße in den Sitten fest, als sie mit den Gesetzen verschwindet. Noch schlimmer geht es den Indianern. Nordamerika unterscheide sich von den Spaniern. Die "Lösung der Indianerfrage" mit der "Legalität als Mittel der Eroberung" vorangetrieben. Wie tröstlich, denkt man als Leser.

Interessant ist der Hinweis auf den oft vernachlässigten Schopenhauer. Während für Kant das Mitleid die überlegten Maximen in Verwirrung bringt (Léon Bloy sprach von einer "Ethik ohne Hände"), formuliert der ob dieser "Apotheose der Lieblosigkeit" entsetzte Schopenhauer seinen Imperativ: Verletze niemanden, sondern hilf allen, so viel du kannst. Mitleid habe grenzenlos zu sein und gelte - unter explizitem Bezug auf Rousseau (der zu dieser Zeit wieder zitierfähig wurde) allen Lebewesen.

Damit ist Schopenhauer in seiner Zunft allerdings ziemlich einsam. Andererseits ist zu dieser Zeit die humanitäre Hilfsbereitschaft auf dem Vormarsch. Ritter zitiert ausführlich die immer noch entsetzenden Passagen des Rote-Kreuz-Gründers Dunant über Verwundeten auf dem Schlachtfeld von Solferino (1859): Man tötet sich en gros, man tötet sich en détail.

Hilflos, und doch notwendig erscheint das Beharren auf dem philanthropischen Engagement. Denn da gibt es noch das Problem der menschlichen Natur. Ritter zeigt dies am Beispiel Darwins. Dieser ist ein entschiedener Gegner der Sklaverei und erschrocken über die "entsetzlichen Tatsachen" des Lebens. Allerdings ist er durchdrungen von Pessimismus. Eine Aussage wie Der Mensch braucht Zeit, viel Zeit ist da schon optimistisch. In Darwin kündigt sich zudem der Imperialismus an: Fortschritt ist möglich - durch den Sieg der "zivilisatorischen Rassen". Pech für alle anderen "Rassen".

Darwins progressive Nachfolger "retten" sich mit der Unterscheidung von "Natur" (die darwinistisch agiere) und "Kultur" (die lamarckistisch sei). Doch zerfällt - so Ritter - dieses "Bild der tröstlichen Kultur" spätestens mit Freud. Und so schließt derAutor mit der Erkenntnis Hans Blumenbergs, dass der Mensch an der Lebenszeit kein Genügen finden kann, aber von der Weltzeit ausgeschlossen bleibt. Ziemlich irritierend für Weltverbesserer und ziemlich ermutigend für die Grausamkeit.

Henning Ritters Stärke ist neben einem ungemein leichten Stil seine auktoriale Bescheidenheit. Er scheint geradezu hinter seinem Gegenstand zurückzutreten, um dem Leser die Arbeit an den Begriffen zu überlassen: der Genese des Mitleids (auch des organisierten) und der ... Resignation angesichts der ubiquitären Grausamkeit(en). Zudem liefert er eine subkutane Beschreibung der Gegenwart.

Andererseits zeigen sich die Grenzen des (klassischen) Konservativen. Die Urheber der grausamen Exzesse des 19. Jahrhunderts sind dem Bürger stets die "Königsmörder", die aristokratischen Sklavenbesitzer, die Tierquäler und sehr allgemein : die Kriege. Doch läuft er Gefahr, die Realität zu glätten.

Ein Beispiel: Ritter zitiert Babeuf, der auch nach dem Sturz Robespierres zu weiterem Terror aufgerufen habe. Er hätte auch Babeufs Antwort auf dessen rhetorische Frage Wie kann das Volk einen Aufstand machen? zitieren können: Friedlich... Das mag manche Leute, die diese Konklusion nicht erwarteten, erstaunen (Le tribun du peuple). Oder er hätte den Babeuf erwähnen können, der die Brutalismen des Volkes während der Revolution aus der Grausamkeit der früheren Herren ableitet (siehe Calas, Damien). Aber der "weiße Terror" (auch der Thermidorianer) kommt explizit nicht vor.

Dabei ist der Bourgeois als Urheber von Grausamkeit geradezu ein Topos des 19. Jahrhunderts. Die blutigen Repressionen der Aufstände des "Vierten Standes" sind kein Anlass zur Reflexion des Autors. Erwähnt wird kurz der Victor Hugo der "Misérables", nicht aber der Victor Hugo, der über die Parlementarier reflektiert, die den "Schächter" Cavaignac wegen seiner Verdienste ums Vaterland feiern. Bitter schreibt er in sein Tagebuch (25. November 1848):

Die Assemblée brach in Lachen aus, und diese Fröhlichkeit wurde immer verrückter. Mir zog sie das Herz zusammen, denn durch diese Lachsalven hindurch vernahm ich das Schluchzen des Volkes.

Henning Ritter, Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit. München 2013 (Beck)

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