homo pirata - zu einer Sozialfigur der digitalen Revolution

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Nicht links ist er, und nicht rechts (meistens), nicht nur sozial, und nicht nur liberal. Aber "frei" ist er. Auch im Sinne des "Die Freiheit nehm' ich mir". Auch im Sinne von Fachwissen"freiheit". Dafür gibt es schließlich Wikipedia und Facebook. Er ist schon eine interessante Sozialfigur, der Pirat. Hans-Martin Lohmann hat ihm in der FR vom 9. Mai 2012 einen anregenden Aufsatz gewidmet (1).

Die permanente digitale Revolution bringt Lohmann zufolge einen "neuen Hominiden" hervor, dessen bürgerliche Avantgarde die Piraten sind, quasi Speerspitze einer neuen, revolutionären Bourgeoisie. Während die Gründergeneration der Grünen den Kapitalismus eher aufhalten, zumindest verlangsamen wollte, exekutieren die Piraten in ihrer ambivalenzfreien Liebe zum universalen Technoprojekt, das keine Scham- und sonstigen Grenzen kennt ... eine Phantasie von technischer Machbarkeit. Der rationelle Kern sei die Mobilisierung als solche. Egal, worum es geht, möchte ich ergänzen.

Lohmann erkennt das Ende der "analogen Welt" mit ihren Nischen und ihrem manchmal "sinnlos-Luxuriösen". Die "digitale Welt" kenne keinen "Reizschutz" mehr, kein "Innehalten", kein Schweigen.

Keine schönen Aussichten für einen Analogen.

Allerdings ist heute, dies sei gegen Lohmann gesagt, evident, dass die 68er und ihr sehr deutscher Ableger Die Grünen den Kapitalismus eher beschleunigt, denn aufgehalten haben. Der hierzulande nahezu unbekannte marxistische Philosoph Michel Clouscard fragt sarkastisch:

Ist Trigano (Chef des Club Mediterranée) der Agent des Neokapitalismus, der die libertären Thesen Foucaults paraphrasiert? Oder ist Foucault die ideologische Referenz der ultra-liberalen Freizeitindustrie?

In dieser Perspektive sind die Piraten die Kinder oder Enkel der in die Jahre gekommenen "Kinder von Marx und Coca-Cola".

Eine die These Lohmanns im Sinne Clouscards erweiternde phänomenologische Analyse findet man bei dem hier ebenfalls fast unbekannten Philosophen und Romancier Philippe Muray (gestorben 2006). Der gilt - horribile dictu - als konservativ, ja reaktionär. Aber er schreibt und beschreibt - nicht als einziger Konservativer - einfach gut: mit scharfem Verstand und enormen Wortwitz. Nicht ich bin reaktionär, sagt er irgendwo. Die Wirklichkeit ist reaktionär.

Murays Auseinandersetzung mit dem "Zeitgeist" beginnt in den frühen neunziger Jahren (2). Im "Empire du Bien" seziert er mit flaubertschem Sarkasmus die "Gutmenschen" (bei uns mittlerweile leider ein Kampfbegriff der Rechten). Die letzten Weltanschauungen "sind von den Mauern gekratzt", schreibt er. Die Geschichte sei "verschluckt", die "Operation saubere Vergangenheit" sei erfolgreich verlaufen. Im Grunde gibt es kaum noch etwas Neues. Wir leben im "Schon-Gedachten" ("déjà-pensé").

Mit der Jahrtausendwende diagnostiziert Muray endgültig das "Après-Histoire" (3). Er zitiert Kojève:

Die Geschichte hört auf, wenn der Mensch nicht mehr im starken Sinn des Begriffs handelt, wenn er nicht mehr negiert, wenn er die Natur und das Soziale nicht mehr in blutigem Kampf und schöpferischer Arbeit transformiert.

Die Rebellen des Après-Histoire sind synthetisch. Muray zählt die entsprechenden Phänotypen auf: Substitutionsgegner, Vertretungsrebellen, subversiver Ersatz (auf Deutsch), Agitatoren ehrenhalber, institutionelle Tabubrecher, gouvernementale Troublemaker, subventionierte Befreier ... Und "digitale Freibeuter mit Bedingungsfreiem Mindesteinkommen", möchte man ergänzen. Oder dem Gehalt eines Regierungsdirektors im Verteidigungsministerium.

Diesen Sozialtypus des "normalisiertenUnruhestifters", der sich "herdenhaft" aufzulehnen pflegt (als Schwarmintelligenz, als Sturm) nennt Muray homo festivus, seinen Nachkommen festivus festivus, der Hominide des "totalen Festes". Im Après-Histoire steht das Fest nicht mehr im Gegensatz zur Arbeit. Es wird zum Alltäglichen überhaupt. Maliziös beschreibt der Autor die Gay Pride und die diversen Love Parades. Obwohl er Duisburg nicht mehr erlebte, schreibt er über eine "fête qui tourne mal" und stellt lakonisch fest: Es gibt praktisch keine Arbeitskatastrophen mehr, sondern nur noch Freizeitkatastrophen. Die aber umso erschütternder wirken. Arbeitskatastrophen sind uncool. Der Dortmunder Envio-Skandal wird gerade mal in der Lokalpresse verfolgt. Das Beinaheuntergang eines Kreuzfahrtschiffes erregt wochenlang die Weltmedien. Homo festivus ist halt kein Proletarier. Festivus festivus weiß gar nicht mehr, was damit gemeint ist.

Das Denken in Widersprüchen erschreckt den neuen Sozialtypus. Er will Rosen ohne Dornen, Genie ohne Grausamkeit, Sonne ohne Sonnenbrand, Marx ohne Dogmatismus und das Leben ohne Tod, schreibt Muray. Homo festivus und festivus festivus sind auch als Erwachsene Kinder und als Kinder erwachsene Kinder. Sie spielen nicht mehr mit Tamagoshi, sie spielen mit und im Net. Das Spielerische - und hier trifft sich Muray mit Lohmann - wird an der ziel-, also inhaltsfreien Fortbewegung manifest. Genüßlich mokiert sich Muray über all die Skater, Roller und Raver, die Paris erobert haben.

Man würde gerne seine Bemerkungen über die Piraten lesen, über den kollektiven Narzismus, das Spielen von Politik und die Politik des Spielens, ihren Stolz, scheinbar Schrecken zu verbreiten, die stolz vorgetragene Ignoranz. Was hätte Muray von einem Spitzenkandidaten gesagt, der irgendetwas Unverständliches in die Mikrophone nuschelt, dies aber mit drohendem Gesichtsausdruck: Vorsicht, ich bin nicht verlegen, ich bin cool. Was von einer Nochgeschäftsführerin, die nassforscht: "Ich habe meine größten Kompetenzen in der Bildungspolitik." Schließlich studiere sie pädagogische Psychologie. In der Wirtschaftspolitik müsse sie aber noch stärker werden. Bei der Kandidatenbefragung wurden die Fragen wie im Fernsehquiz ausgelost. "Es ist so in unserer hyperfestiven Welt," würde Muray sinngemäß schreiben. Nichts ist mehr ernst. Wie zu erwarten bei einer Generation, die weder Kastration noch Bibel kennt.

Ich weiß, ich weiß: die Realität ist viel komplexer. Menschen lassen sich nicht auf einfache Phänotypen reduzieren, auch auf Generationen nicht. Bei Muray fehlt der Blick auf die Ökonomie, auf die sozialen Unterschiede. Die Jugendarbeitslosigkeit. Beschränkt er sich nicht allzu sehr auf die Kinder der pariser Bobos? Schwingt in seinen harschen Urteilen nicht die Nostalgie des Konservativen mit? Die Arroganz des belesenen Intellektuellen und Büchermenschen, der sein geistiges Eigentum keinen ungebildeten Vertretern der "Post-Privacy" überlassen möchte, die zudem ihr Piratenrecht aus ihrer vorgeblichen Jugend ableiten?Der sich von den lärmenden Ravern und von Kinderkreischen gestört fühlt?Müssen sich in unserer Gesellschaft des "rasenden Stillstands" die Menschen nicht dauernd präsentieren, sind sie nicht in einem permanenten Bewerbungsgespräch? Aber so ganz unrecht hat er, finde ich, nicht.Wie auch Lohmann beschreibt, gehen wir in diesen Jahren vieler lieb gewordener, weil oft schwer errungener Dinge verlustig. Verluste, die eventuell unwiederbringlich sind. Darüber sollten auch die nachdenken, die in den Piraten unsere rosige Zukunft sehen. Vielleicht auch einige Piraten selber.

1) Hans-Martin Lohmann, Jetzt sind wir dran! Wie die Piratenpartei sich als bürgerliche Avantgarde in Stellung bringt, in: Frankfurter Rundschau, 9. Mai 2012

2) Philippe Muray, L'Empire du Bien, Paris 1991

3) Philippe Muray, Après l'Histoire, Paris 2000

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