Kraftproben in der Assemblée nationale und ein schlimmer Fall von Rassismus

Herbst der Macronie In der Assemblée nationale löst ein undemokratischer 49.3 den anderen ab. Die Macronie wackelt. Aber auch die Union populaire droht zu zerreißen. Davon profitierte der RN mit einfacher,effektiver Taktik. Bis ein Zwischenruf alles veränderte

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Grégoire de Fournas ist ein ehrenwerter Mann. Der studierte Weinbauer bewirtschaftet das Weingut Château Vieux Cassan im Médoc. Seine Cuvées („violette Farbe, eine Nase von roten Früchten und Erde, ein offener, fester, aber fruchtiger Mund. Sehr gutes Alterungspotential.Trauben: 40 % Cabernet Sauvignon, 60 % Merlot“) verkaufen sich gut. Tüchtige und vor allem preiswerte Erntehelfer aus Rumänien und Portugal tragen zum ökonomischen Erfolg bei. Und seit dem Frühsommer dieses Jahres ist de Fournas auch noch Abgeordneter in der Nationalverdammlung. Ein Mann mit Zukunft im Rassemblement national. So schien es. Der 37-Jährige sollte Vizesprecher der 89 RN-Abgeordneten werden, deren männlichen Mitglieder Krawatte zu tragen haben. Marine le Pen hat es so verfügt. Die Autoritären lieben Corporate Identity. Und dann passierte am späten Nachmittag des 3. November dieses:

Carlos Martens Bilongo, Abgeordneter der France insoumise, fragte gerade die Regierungsvertreter, wie sie mit dem Problem umgehen, dass das Rettungsschiff „Ocean Viking“ keinen italienischen oder maltesischen Hafen anlaufen dürfe. Plötzlich ertönte der laute Ruf: „Qu'il retourne en Afrique!“ („Soll er doch nach Afrika zurückkehren!“). Jähem Entsetzen folgte der Tumult. Abgeordnete sprangen auf, schrien ihren Zorn heraus und zeigten auf den Zwischenrufer: Grégoire de Fournas. „Raus!“-Rufe erschallten. Die sichtlich betroffene Präsidentin kündigte angesichts der „Schwere des Falls“ eine Sitzung der Fraktionsvorsitzenden an, die über die Sanktion zu entscheiden habe.

Natürlich stürzten sich die Medien auf das Ereignis. Die Vertreter des Rassemblement national versuchten ihrerseits Schadensbegrenzung. De Fournas habe nicht „Qu'il retourne en Afrique!“, sondern „Qu'ils retournent en Afrique!“ gerufen, also nicht Martens Bilongo, sondern die Flüchtenden gemeint. Und dies sei nicht als rassistisch zu bewerten. Damit wurde die Pronomenfrage zum Gegenstand der endlosen Expertenrunden in den Medien der Milliardäre. Die Vertreter anderer Parteien, vor allem die der NUPES, bestanden auf der ersten Version. Zudem seien beide Sätze offensichtlich rassistisch. Schwierige Tage für die Lepenisten deuteten sich an. Eine Maske war gefallen. Die viel gerühmte De-Diabolisierung der Partei war "Schnee von gestern". Wirklich?

Dabei war die „Session parlementaire“ bisher so gut für Le Pen und Consorts gelaufen. Die Macronie bekommt selbst mit ihrem Verbündeten, dem zentristischen MoDem, keine absolute Mehrheit zustande. Sie braucht den RN also gleich doppelt: als Mehrheitsbeschaffer (z.B. in der Frage der Nichterhöhung des Mindestlohns) und als NUPES-Bekämpfer. Letzteres zeigte sich, als die Ministerpräsidentin Elisabeth Borne gleich mehrere Male den Paragrafen 49.3 einsetzte, ausgerechnet in der Haushaltsdebatte (die Budget-Entscheidung ist das klassische Recht jedes Parlaments). Dem 49.3 folgt in der Regel ein Misstrauensantrag der Opposition. Diesmal schloss sich der Rassemblement national aus taktischen (wahrlich nicht aus inhaltlichen) Gründen dem ersten Antrag der NUPES an, so dass am Ende nur 50 Stimmen zum Sturz der Regierung fehlten. Die Macronie (und ihre allzeit zu allem bereiten Medien) nahmen dies natürlich zum Anlass, vor den Extremen der Linken und und der Rechten zu warnen. Rot war einmal mehr braun, und umgekehrt. Les extrêmes se touchent. Die NUPES-Mitglieder gerieten in die Defensive. Beim nächsten 49.3 und dem folgenden Misstrauensantrag der France insoumise hielten sich der Parti socialiste und die Ecologistes vornehm zurück. Im Resultat verstärkten sie damit den (falschen) Eindruck der Zusammenarbeit der extremen Rechten und der extremen Linken – und signalisierten en passant Uneinigkeit innerhalb der NUPES.

Zurück zu Grégoire de Fournas. Der wurde von der Parlamentsdirektion mit der schwerstmöglichen Strafe bedacht. 15 Sitzungstage lang darf er nicht die ehrenvolle Parlamentsbank drücken. Dass er während dieser Zeit nur die halben Bezüge erhält, wird er persönlich verschmerzen können, weniger wohl die Bilder, die zeigen, wie er aus dem Hohen Haus geleitet wird. Und der - auch lukrative - Parlamentsposten ist ebenfalls perdu. Interessanterweise – und darauf werden auch künftig die Frontisten hinweisen - erfolgte die Bestrafung nicht wegen Rassismus (der Begriff existiert nicht im Reglement der Assemblée nationale), sondern wegen "Provokation eines Tumultes", ein Urteil, das für andere Abgeordnete in Zukunft zum Bumerang werden könnte.

Aber immerhin. Plötzlich war der Kaiser nackt. Der Rassemblement national Marine Le Pens, der noch vor einem Monat sein 50jähriges Jubiläum feierte, zeigte sich als hässlicher Wiedergänger des rassistischen Front national des alten Le Pen. Schließlich fand die Partei folgende Sprachregelung: man bedauert nicht die rassistische Aussage, sondern befindet, dass die Assemblée sich durch einer Manipulation der extremen Linken habe mitziehen lassen. Und mit dieser Aussage kann wiederum die Macronie gut leben. Vor allem aber einer: Gérard Darmanin, der autoritäre Innenminster, der sich in den noch etwas großen Fußstapfen eines Nicolas Sarkozy in den frühen 2000er Jahren sichtlich wohlfühlt. Darmanin nutzte mit der Sicherheit des Instinktpolitikers die Gelegenheit, sich als Politiker des Rechtsstaats und Gegner eines jedes Extremismus zu präsentieren. Man ist weder links noch rechts. Er wird in einigen Tagen sein scharfes Immigrationskonzept verteidigen, das für den RN und den rechten Flügel der Republikaner noch nicht scharf genug ist. Vielleicht wird er, Rassismus hin, Rassismus her, ihnen entgegenkommen. Zwischenzeitlich punktet er bei den Rechtsextremen mit der Instrumentalisierung gewalttätiger Auseinandersetzungen bei einer Umweltdemonstration. „Öko-Terroristen“ seien da am Werk. Nach den „Islamo-Gauchistes“ also eine neue Wortkreation, eine, die Medien liebend gern aufnehmen, auch im Interesse ihres Erfinders.

Thomas Portes, Abgeordneter der France insoumise, kommentierte lakonisch: „Die extreme Rechte ist nicht mehr in der Opposition, sie regiert.“ Damit erkennt er implizit an, dass die Demaskierung des RN für die Linke leicht zum Phyrrussieg werden könnte. Der Rassismus der Partei wird die Wähler nicht unbedingt abschrecken. Vielleicht könnte sie mit einer Viktimierungsstrategie sogar zulegen. Jordan Badella, der neue Präsident des RN, ein smarter 27-jähriger Marine-le Pen-Vertrauter, wird die Partei weiter regierungs- und koalitionsfähig machen. Und dass "Zeitenwenden" wie diese die autoritär-identitäre Parteien begünstigen, ist mittlerweile Lehrbuchwissen.

Im Parlament wird Le Pen folgerichtig weiterhin taktieren, sich mal den einen, mal den anderen anschließen. Die NUPES kann dies nicht verhindern. Sie kann vielleicht auch nicht die Sprengung der Union populaire verhindern. Und spätestens hier stellt sich allerdings die Frage, ob die NUPES die Taktik des RN nicht einfach ignorieren sollte. Warum sollte man die Rechtspopulisten zu „nützlichen Idioten“ machen? Warum kann dies den Menschen nicht vernünftig, also offen, ehrlich und gut begründet kommuniziert werden? Denn ohne die RN-Abgeordneten kann die Regierung nun einmal nicht gestürzt werden. Was tun? fragte schon einmal ein Revolutionär. Um Vernünftiges zu tun, müssten allerdings nicht wenige über ihren Schatten springen. Aber haben sie tatsächlich vergessen, dass ein gewisser Mirabeau im Namen der Parlamentarier im Juni 1789 dem Abgesandten des Königs ein "Wir weichen nur der Gewalt der Bajonette" entgegenschleuderte?

Inzwischen mehren sich die Berichte, nach denen sich die Strategen der Macronie auf die Zeit nach der Parlamentsauflösung vorbereiten, und zwar gewohnt akribisch. On verra. Man wird sehen. Was aber sicher ist: die ehrenhaften Skrupel der NUPES haben die Macronistas nicht. Sollte man dies nicht auch berücksichtigen?

Sicher ist auch, dass der nächste 49.3 in Arbeit ist. Und so wird die Ministerpräsidentin mit entschlossener Miene vor das Rednerpult der Assemblée nationale treten und lauter als sonst verkünden, dass angesichts der Tatsache, dass ein „konstruktiver Dialog“im Parlament nicht mehr gegeben ist, die Regierung aufgrund des Artikels 49.3 der Verfassung ihre Verantwortung wahrnehmen muss. Die Präsidentin der Versammlung wird den empörten oder verzückten Abgeordneten mitteilen, dass damit die Debatte beendet und der Regierungsentwurf als Gesetz angenommen ist. Wie lange geht das noch gut? Wann löst Macron das Parlament auf? Wie gehen die Neuwahlen aus? Immerhin wäre es nur gerecht, wenn die Wähler einem Rassisten wie Grégoire de Fournas zu verstehen gäben: „Qu'il retourne dans son pays!“

1. Ihm Rahmen der Debatte über ein Gesetzvorhaben der Regierung erlaubt die Verfassung der 5. Republik von 1958 mit dem Artikel 49.3 die Gesetzesannahme ohne Abstimmung. Wenn der Premierminister diese Verantwortung wahrnimmt ("engage sa responsibilité"), ist die Debatte sofort beendet. Der Gesetzestext gilt als angenommen, wenn nicht innerhalb von 24 Stunden ein Misstrauensantrag gestellt wird.

2. Zusammensetzung der Assemblée nationale (577 Abg.):

Renaissance (ehem République en marche) 170

Rassemblement national 89

Modem 51

Les Républicains 62

Parti socialiste 31

Horizon 28

Gauche démocratique (darunter der PC) 22

Ecologistes 23

Libertés 20

Die "Macronie" kommt mit dem MoDem und Horizons auf 249 Abg., die NUPES auf 151 Abg.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden