Millionen und Er

Geschichtspolitik 2013 wird ein Erinnerungsjahr. In Deutschland ist historische Erinnerung immer auch politisch. Götz Aly zeigt dies exemplarisch.

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Wir werden uns in diesem Jahr viel erinnern. Schließlich ist 1933 ein Epochenjahr und gespickt mit erinnerungswürdigen Ereignissen - besonders mit solchen der unheimlichen Art. Und obwohl oder weil die Erinnerung an den Nationalsozialismus "erkaltet" (Norbert Frei), wird unheimlich interpretiert.

Der 30. Januar vor allem. Wir nennen wir das Geschehene? "Machtergreifung", wie die Nazis sagten und übrigens auch noch kritische Historiker in den achtziger Jahren? "Machterschleichung"? "Machtübernahme"? "Machteinsetzung"?

Bleiben wir doch bei der nüchternen "Ernennung Hitlers zum Reichskanzler". Raum für Fragen und Antworten gibt es auch so genug. Götz Aly zum Beispiel fragt in der Frankfurter Rundschau vom 30.1.2013: Was machte Adolf Hitler und seine Partei in den Jahren 1929 bis 1932 so attraktiv? und gibt sogleich mit dem folgenden für ihn repräsentativen Zitat die Antwort. Der Chemiestudent Robert Havemann "schwärmte" nämlich für die "nationale Bewegung" , weil er hoffte, den Juden ihre unrechtmäßigen Privilegien zu entreißen., wie er im März 1933 an seine Eltern schrieb.

Für Aly ist es evident: Totalitäre Utopien hatten Konjunktur, und zwar bei fast 60 Prozent der Wahlbevölkerung, die im Juli 1932 für Hitler (und Thälmann) gegen die Weimarer Demokratie stimmten. Der Erfolg der NSDAP erklärt sich aus dem Volksparteicharakter und - jetzt kommt das Aly-Spezifikum - aus dem doppelt egalitären Anspruch der Partei, national und sozialistisch zu sein.

Aly zeichnet in groben Zügen das Bild einer Konkurrenz von NSDAP und KPD, beide für ihn sozialistische Parteien, in der Wirtschaftskrise. Sie stellten sich gegen die "Erfüllungspolitik" der SPD, und auch die KPD forderte 1932 den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und die Rückgabe der abgetrennten Gebiete. Noch krasser erscheint die KPD-Aussage: Jüdisches und nichtjüdisches Kapital sind untrennbar versippt... Jüdisches Geld nährt auch den Faschismus.

War die KPD also durch und durch antisemitisch wie die NSDAP? War das also auch ein Grund für die Schwächung der Weimarer Parteien? Angesichts solcher Programme - so Aly (er meint wohl Programmpunkte) - habe sich manch "Schwankender" gefragt, warum er nicht gleich das "Original" wählen sollte.

Und die Nazis haben für Aly in gewisser Weise Wort gehalten. Nach dem 30. Januar habe eben nicht nur Terror geherrscht, sondern man habe auch "sozialpolitische Geschenke" verteilt und damit Vertrauen gewonnen. Was so falsch nicht ist, aber warum wählt er zum Beispiel für die Senkung der Krankenscheingebühr den Begriff "Geschenke", der nicht zufällig an den aktuellen Begriff der "Wohltaten" erinnert?

Der Aufsatz ist provokant Heartfield zitierend mit "Millionen stehen hinter mir" betitelt, natürlich ohne das entsprechende Bild. Damit wird in Alys Perspektive der antifaschistische Blick verändert. Mit Recht zeigt er er auf (immer noch?) Beschwiegenes und mit bissigem Vergnügen verweist er auf die Leichen im Keller der Ankläger. Aber ..., ja aber:

Großzügig übersieht Aly zum wiederholten Male das nicht zu Übersehene: die Kollusion von Bourgeoisie, Adel und Nationalsozialisten. Locker spricht er von "Rechtsgleichheit in einem bestimmten Volkskollektiv", um den postulierten nationalen Egalitarismus zu erklären. Er beschweigt aber seinerseits die sozialdarwinistischen und anti-egalitären Lobpreisungen der Autorität im Werben Hitlers um die "Großen" der Wirtschaft. Diese nahmen dies, wie die Quellen zeigen, wohlwollend zur Kenntnis (trotz der Bedenken gegenüber dem "Radaufaschismus" und den Strasser-Brüdern).

Vereinseitigend charakterisiert er die KPD und Widerständler wie Havemann als antisemitisch. Die zitierten Aussagen aus der Programmerklärung der KPD vom August 1930 sind in der Tat unangenehm (wenn auch alles andere als nationalsozialistisch), Aly übersieht aber, wiederum sehr großzügig, den Kontext: die KPD schlingerte von 1929 bis 1933 von einer Taktik in die andere. Ihre Strategie wurde, wie schon Hermann Weber minutiös herausgearbeitet hat, von den Komintern entwickelt. Sie beruhte auf den Vorstellungen der UdSSR unter Stalin (Weber). Aly müsste also präzisieren, auf welche Taktik er sich jeweils bezieht. Ich weiß, dass dies einen Zeitungsartikel überschreitet und dass wir alle zum Rosinenpicking neigen. Bleiben wir also beim Zitierten.

Die entscheidende Aussage aus dem KPD-Programm vom August 1930 lautet:

Die Hauptstoßkraft der Partei muss gerichtet sein gegen den Faschismus, sowohl National- als auch Sozialfaschismus, und insbesondere gegen das Zentrum, das den Faschisierungsprozess des Staatsapparates im Augenblick führt.

Diese Einschätzung durch die damalige Parteiführung der KPD wirkt heute bizarr. Die Wechsel in der Taktik (erst ist die SPD der Hauptfeind, dann wird die "Einheitsfrot"-Politik propagiert, darauf folgt die "nationale Wende", auf die Aly anspielt, und erst Ende 1932, nach weiteren Kehren, gibt es wieder Schritte zur "antifaschistischen Aktion") zeigt hauptsächlich die tödliche Heiligung der Mittel des Zwecks durch die Parteiführung, die eben auch vor antisemitisch interpretierbaren Aussagen nicht zurückschreckte, um die Nazis zu schlagen.

Aly verschweigt auch, dass viele Kämpfer gegen den Antisemitismus damals ähnlich argumentierten (wenn auch weniger grob): Walter Mehriung zum Beispiel sagte am 3.2.1931 in einer Rede vor der "Liga gegen den Antisemitismus" in Paris:

Goebbels' Partei nährt sich aus den Geldern der Schwerindustrie: der Thyssen, Siemens, Borsig - auch aus den Geldern reicher Semiten...

Anschließend erläuerte er die ebenso charmante wie simple Wirtschaftsformel des "raffenden und schaffenden Kapitals", die die Nazis gefundenn hätten. Um zu schließen:

Der arme Arbeitslose ..., um nicht Hungers zu sterben, tritt er den Hitlerwehren bei, wird Antisemit, wird Militarist.

Am Ende seines Textes wird der Historiker Aly zum Erinnerungspolitiker. Aus den populären "sozialpolitischen Geschenken" Hitlers resultierten "schnell anwachsende Staatsschulden". Er schlußfolgert und aktualisiert:

.Die Methoden, die er insoweit anwandte, gelten gemeinhin nicht als nazistisch - aber anders als die Tiraden in 'Mein Kampf' funktionieren sie noch immer.

Sind sie das, die Lehren des 30. Januar?

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