Panikattacken. Ein neues Buch zur Bildungssoziologie.

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Eigentlich ist es so. Jahrzehnte schmerzhaft erlebter Schulreformperistaltik haben in mir eine Phobie gegen bildungspolitische Bücher erzeugt. Wenn man aber den Autor schätzt, und zwar nicht wegen seiner politischen Prämissen, sondern weil er ein kluger und belesener Soziologe ist, der zudem wunderbar ironsisch formulieren kann, unterliegt man doch der Neugier.

Es geht um das Buch Heinz Budes zur "Bildungspanik" (1), ein bemerkenswertes Buch. Bude schreibt aus Distanz, ohne pädagogisches Herzblut oder gar Karriereschweiß zu verströmen. Die Bildungsfrage ist für ihn verfahren. Panik beherrscht die Protagonisten. Das Beispiel Hamburg 2010 zeigt dies. Bezeichnend war nicht nur, dass die Hamburger Großbourgeois das politische Heft in die Hand nahmen, sondern auch und gerade, dass die "neue Mittelklasse", die ihren (kleinen) Aufstieg der (Schul-)Bildung verdankt, "virtuelle Statuspanik" manifestierte.

Und diese Verlustangst, so Bude, ist global. Das PISA-Winnerland Japan ist stolz auf seine modernen, freundlich wirkenden und bestens ausgestatteten öffentlichen Schulen mit ihren schülerorientierten Lehrern. Erst der zweite Blick offenbart, dass die japanischen Schüler in den letzten drei Jahren vor Studienbeginn in privaten Abendschulen gnadenlos in Richtung Aufnahmeprüfung an einer Renommierhochschule "gepaukt" werden. Bildung wird für die Familien zur "existentiellen Investition", für viele junge Menschen geht es buchstäblich um die Existenz, wie die hohe Selbsttötungsrate zeigt.

Wie ist die Lage in der BRD? Bude verweist zunächst auf die "Fahrstuhllkohorte", die in den achtziger Jahren vom damals (!) in Europa durchlässigsten Bildungssystem profitierte. Dann aber dramatisierte sich die Situation an den Rändern. Bildungsghettos entstanden. In der Mitte (der heute politisch heftigst umworbenen) bildete sich eine "soziale Abschottungsbewegung". Es ist dies in der Tat eine Zerreißprobe, wie der Autor am Beispiel der Hauptschule beschreibt:

Der grundlegende Widerspruch dieses Bildungsghettos scheint sich für den Blick von außen am Wert der Bildung zu entzünden. Der institutionellen Botschaft der Schule, dass man nur durch Bildung vorankommt, setzen die Beschulten ihre lebensgeschichtliche Erfahrung entgegen, dass Bildung einem im Zweifelsfall gar nichts nutzt. Weil es aus diesem Widerspruch offenbar kein Entrinnen gibt sind beide in diesem Kraftwerk der Affekte auf Gedeih und Verderb aneinandergefesselt: Niemand darf eingestehen, dass die ganze Veranstaltung eine Farce darstellt.

Das Paradoxe daran ist, dass das Hauptschuldilemma (das nach dem Aufgehen der Hauptschulen in den "Sekundarschulen" nur verschoben wird) das Resultat der Bildungsexpansion ist, die durch Chancenvermehrung vieler die Chancenverminderung weniger bewirkt. Bewirkt wird jedoch ein neuer Sozialtypus, den Bude fabelhistorisch den "Fuchs" nennt. Dieser mag zwar im Schulsystem scheitern, reüssiert aber auf dem Markt und dessen fuzzy logic des vibrierenden Alltags. Zu optimistisch gedacht, finde ich. Der Markt richtet's halt nicht immer, er richtet übrigens auch zugrunde.

Recht gebe ich dem Autor jedoch, wenn er das Scheitern der "deutschen Tradition", der "protestantischen Linie im deutschen Bildungsbürgertum" aufzeigt, inklusiver ihrer reformpädagogischen Variante, wie er etwas genüsslich feststellt. An dieser Stelle hätte ich eine Diskussion der links-humboldtistischen Positionen gewünscht. "Bildung" ist mehr als "nur" bürgerliche Bildung. Aber wie auch immer: angesagt ist der sozialtechnologische Diskurs, wie er in der PISA-Diskussion dominiert.

Mit PISA wurde die besagte Panik ausgelöst (ich ergänze: mit medialer Lust). Bude stellt die PISA-Tests überzeugend in den Kontext des "bildungsindustriellen Komplexes". Er zeigt den (in der kapitalistischen Marktwirtschaft) heuristischen Wert des Humankapitalansatzes (G. Becker). Am Ende weist jedes Elternpaar eine "Investitionsbilanz" auf: Für die Frauen der unteren Klassen ist es demnach "billiger", also "ökonomischer", für das Kind zu Hause zu bleiben, für die Frauen mit höheren Bildungszertifikaten rechnet es sich hingegen, Haushaltshilfen zu kaufen. Die "Qualität" des Kindes bemisst sich nach dem Gütereinsatz für dessen Bildung. Auf die Schulen bezogen heißt dies einen Nachfragezuwachs nach Kriterien und Methoden Erfolg versprechender Bildung. Und genau an dieser Stelle treffen sich die Propgandisten von PISA und Anbieter fürs häusliche Nachlernen, von Privatschulen für die optimale individuelle Förderung und von Exzellenzclustern für die Gewährleistung globaler Wettbewerbsfähigkeit. Überhaupt geht Bude - wie ich mit gewisser Schadenfreude lese - sarkastisch mit den PISA-Ingenieuren um, vor allem deren Anspruch auf Idelogiefreiheit, als könne man auf empirische Weise eine normative Frage behandeln. Trotzdem haben die PISAner den Status einer "epistemischen Polizei" (Latour)

Dass die Schulen unter diesen Panikattacken leiden, ist evident. Bude kreiert hier den etwas altertümlich wirkenden Begriff der "derangierten Institution". Vor allem die Lehrer sind an allem schuld und sollen doch alles richten, nicht die Wissenschaft, nicht die Bildungsadminstration - und die Bildungspolitiker sowieso nicht. In interessanten Passagen aktualisiert er - etwas überraschend - des alten Adorno "Tabus über dem Lehrerberuf" und stellt nüchtern fest: Die familienförmige Inanspruchnahme durch die Individualität des einzelnen Kindes widerspricht der schulgemäßen Verdurchschnittlichung des Kinderschicksals, um fortzufahren: Die Pädagogik als Wissenschaft tut so, als könne man diesen Widerspruch durch Methoden entgehen. Wie wahr! füge ich emphatisch hinzu. Das sage ich schon seit langem, aber auf Lehrer hört ja keiner! Nur folgerichtig ist das Budesche Postulat einer professionellen Autonomie des Lehrerberufes. So ist es, möchte ich ergänzen. Nur findet seit Jahrzehnten das Gegenteil statt.

Bildung, schreibt Bude am Ende, ist ein Anrecht und vergibt Anrechte, aber weder beherrscht sie den Markt noch schützt sie vor dem wechselhaften Marktgeschehen. Ein "Chancenausgleich" etwa durch Einheitsschulen, die verschämt Gesamtschulen genannt werden, fand bisher eben nicht statt, die gesellschaftliche Ungleichheit lässt sich durch Bildungspolitik nicht aushebeln. Bude trifft sich hier mit Bourdieu, der sich aber trotz des Befundes angesichts der Misere politisch engagierte. Und so wird es bei Bude am Ende ziemlich affirmativ, zumal er den Deus aus der Machina springen lässt: Die Demographie rettet alle. Das scheint mir dann doch nicht zu Ende gedacht, als ob ein Wortfetisch die vom Autor bis dahin so luzide beschriebenen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen könne. Die gelten wohl auch in einer zahlenmäßig geringeren Gesellschaft, wenn denn der demographische Faktor wirklich wirkt, was so sicher auch nicht ist.

Gilt also wirklich: Keine Panik auf der Titanik?

(1) Heinz Bude, Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München 2011 (Hanser-Verlag)

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