Nach der ersten Schlacht

Rentenreform im Parlament Können die Macronie und die Versicherungskonzerne die Renten-Debatte in der Nationalversammlung als Sieg feiern? Risse in der Opposition werden sichtbar. Aber gemach! Die Auseinandersetzung geht weiter. Und dann ist da noch Monsieur Dussopt

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Nationalversammlung, 17. Juni 2023. Wenige Minuten vor Mitternacht. Eine große Gruppe vonAbgeordneten verlässt, laut schimpfend, den Sitzungssaal. Einige singen den Gelbwesten-Song „On est là“:

Wir sind da! Wir sind da! Auch wenn's Macron nicht gefällt, wir sind da!

In der Mitte des Saales steht ein kleiner Mann unbestimmten Alters. Er krächzt:

Das Ende der Debatte ist da... Die 20.500 Änderungsanträge der NUPES haben unsere Versammlung an der Debatte des ganzen Textes. Die Regierung kann die Debatte nicht verlängern, ohne die für den Senat notwendige Zeit zu verkürzen. Die Regierung beauftragt den Senat mit der Debatte des Textes.

Doch plötzlich scheint er zu wanken. Die Macronisten und Republikaner stehen auf, applaudieren, als wollten sie ihn tragen. Sie beginnen die Marseillaise zu singen. Die Republikaner und die Le-Penisten schließen sich an. Die Hände des Redners zittern. Mit hochrotem Kopf, nach Atem ringend, presst er die Worte heraus:

Meine Damen und Herren Abgeordneten der France insoumise, Sie verlassen den Saal. Sie singen. Aber sie haben mich 14 Tage lang beleidigt! Sie haben mich beleidigt! Aber niemand ist eingeknickt. Niemand ist eingeknickt. Wir stehen aufrecht vor ihnen – für die Reform!

Eine gespenstische, ja filmreife Szene. Dabei gilt der 46jährige Olivier Dussopt als besonnener – seine Gegner sagen lieber, berechnender – Mann. Oft wirkt er wie eine lebendige Bestätigung der Bourdieuschen Hexis-Theorie: Sein Gehen, seine Gesten, sein leicht nuscheliges vorsichtiges Sprechen, ja sogar seine Kopfhaltung lassen ihn als typischen Vertreter der in der französischen Geschichte so wichtigen Figur der „Girouette“ (Wetterhahn) erscheinen. Bis 2017 war er Miglied des linken Flügels der sozialistischen Partei, ein strenger Gegner aller neoliberalen Reform(versuche). Als Arbeitsminister Macrons verkörpert er nun das Gegenteil. Das sorgt allerdings für ein immenses Glaubwürdigkeitsproblem. Und zu allem Überdruss belastet ihn noch ein Gerichtsverfahren wegen Begünstigung und Bestechlichkeit. Dass sich die Attacken der Opposition vor allem auf ihn konzentrieren, ist also verständlich. „Girouette“ zu sein, war schon einmal leichter.

Das Volk will es anders. Ja und?

Aber worum geht es? Nach dem Scheitern der ersten Rentenform im Jahr 2020 unternimmt die Macronie den nächsten Versuch. Anlässlich eines angeblich drohenden 2027 drohenden Defizits von 12 Milliarden Euro hat sie sich – so die offizielle Begründung – für die Anhebung des „Age légal“ (Renteneintrittsalter) auf 64 Jahre entschieden. Die Lohnarbeitenden müssten dem Arbeitsmarkt also 2 Jahre länger zur Verfügung stehen. Auch die Lebensarbeitszeit der in „Régimes spéciaux“ Stehenden (Eisenbahner, Polizisten u.a.) wird entsprechend verlängert. Eine Hilfspflegerin könnte demzufolge erst mit 60 statt mit 58 Jahren in Rente gehen. Wahrscheinlich mit Abschlägen. Für eine Vollrente müssen nämlich 43,5 Annuitäten erreicht werden, was angesichts der strukturellen Arbeitslosigkeit für viele illusorisch ist. Vor allem Frauen würden durch diese Bedingungen benachteiligt.

Dass sich großer Widerstand regt, ist also nachvollziehbar. Viele Umfragen bestätigen: Über 90% der arbeitenden Bevölkerung sind gegen die Reform. Zu dreist erscheint der Raub von 2 Lebensjahren. Die Spanne zwischen dem Ableben der ärmsten 5 Prozent und dem der reichsten 5 Prozent der Bevölkerung beträgt 13 Jahre! Die Zahl der armen Rentner hat unter Macron dramatisch zugenommen. Selbst das "Recht auf Glück" (nach der Arbeit) wird den Menschen genommen. Alle Beschäftigten sind einem enormen Druck ausgesetzt: Arbeitsintensivierung, Fixierung auf Leistungszahlen, Benchmarking, permanente Kontrolle etc. etc. Und dieses Elend wird auch nicht durch "die Fähigkeit" kompensiert, die wir, Olivier Dussopt zufolge "alle haben, um in der Arbeit, die man gerade ausführt, Sinn und Genuss zu finden". Für alle ist es jedoch klar, dass es viele andere Wege gäbe, um das angeblich drohende Defizit zu beheben: Besteuerung der Superreichen, Erhöhung der Löhne, vor allem des Mindestlohns, Schließung des Gender-Gap etc. Angesichts der Finanzgeschenke an die großen Unternehmen oder auch des neuen horrenden Rüstungsetats kann diese „Reform“ nur als unnötige Provokation verstanden werden. Aber die Macronie "knickt nicht ein", verweist auf Europa, Schweden, Deutschland...

Die oft so unterschiedlichen Gewerkschaften bilden diesmal tatsächlich eine Einheitsfront. Streiks und Demonstrationen in ganz Frankreich mit Millionen Beteiligten zeigen ihre Entschlossenheit, trotz gouvernementalen und medialen Gegenfeuers. Die Schlacht an der Meinungsfront hat der präsidiale Monarch längst verloren, aber den Krieg um die Rente noch lange nicht. Macron verfügt nicht nur über den tapferen Soldaten Dussopt, sondern auch über eine relative Majorität im Parlament. Die Républicains sind mehrheitlich für die Reform (Macron hat ihnen zuliebe das geplante Renteneintrittsalter um 1 Jahr auf 64 Jahre gesenkt). Die NUPES würde selbst durch eine unwahrscheinliche Allianz mit dem RN Le Pens keine Mehrheit erreichen. Das bedeutet: für die linke Opposition kann das strategische Ziel in der „Bataille de la retraite“ nicht die absolute Mehrheit sein, sondern es gilt die altbewährte (aber oft erfolglose) Strategie, durch zahllose Änderungsanträge die Gesetzgebung zu verlangsamen und durch die Debatte der Bevölkerung die Haltlosigkeit der Regierungsnovelle zu demonstrieren. Die Sache selbst wird dann „auf der Straße“ entschieden.

Die schärfste Gegenwaffe der Macronie ist der bisher ziemlich unbekannte Artikel 47.1 der gaullistischen Verfassung. Sein Einsatz erlaubt es der Regierung, den Gesetzgebungsprozess zu beschleunigen. Der Debattenrahmen wird einfach eingeschränkt. Nach der Einbringung des Textes verbleiben der Nationalversammlung gerade ein einmal 20 Tage bis zur Beschlussfassung. Dann geht der Text für 15 Tage in den Senat (wo die Konservativen traditionell die Mehrheit haben), anschließend in eine gemischte paritätische Kommission, um im Fall der Nicht-Einigung wieder im Parlament zu landen. Wenn sich dieses innerhalb des Gesamtraumes von 50 Tagen nicht zu einem Beschluss durchgerungen hat. verkündet die Regierung ihren Text als Dekret. Alles klar? Aber ja: so etwas nennt man einen autoritären Staat.

Die Macht im Staat

Die Debatte zeigte dann, was parlamentarische Macht bedeutet. In Wirklichkeit wurde nur an 9 Tagen debattiert. Bei kritischen Themen hatte sich die macronistische Parlamentspräsidentin Yael Braun-Pivet den Vorsitz reserviert. Am letzten Tag präsidierte sie sage und schreibe 15 Stunden! Die France insoumise hatte 13.000 Veränderungsanträge vorbereitet. Viele wurden wieder zurückgenommen, alle übrig gebliebenen wurden mit zunehmender Routine abserviert, gemäß folgender Prozedur: Antrag (maximal 2 Minuten, dann wurde sofort das Mikro abgedreht), Meinung der Berichterstattenden (bei Anträgen der FI immer ablehnend), Meinung des Ministers (immer ablehnend), elektronische Abstimmung (immer mit ablehnender Mehrheit). Als Zuschauer glaubte man, auf einer Versteigerung zu sein.

Die Intention der Manöver waren für (fast) alle Beteiligten klar war evident. Die Öffentlichkeit sollte den Eindruck gewinnen, dass die NUPES, vor allem die FI, reine Obstruktionspolitik mache (was ja nicht ganz falsch war). Der Innenminister erhob den Vorwurf, die FI wolle Frankreich "bordelisieren". Die Fraktionsvorsitzende der Macronisten wurde sprachschöpferisch und nannte die "France insoumise" die "France indigne" (das unwürdige Frankreich). Die Medien kollaborierten und stürzten sich auf vermeintlich spektakuläre Beispiele. Mit sichtlichem Plaisir nahm der Rassemblement national den Ball auf und forderte von der FI die Rücknahme der zahllosen Anträge, um endlich auf den entscheidenden Artikel 7 zu kommen (in dem es um das Renteneintrittsalter geht), eine durchaus geschickte Taktik: Der RN konnte sich als "vernünftig" präsentieren (wohl wissend, was die Mehrheitsverhältnisse in dieser Frage bedeuteten). Einige Gewerkschaftsführer mahnten ebenfalls „vernünftiges Verhalten“ der Parlamentarier an. Laurent Berger, Generalsekretär der reformistischen Gewerkschaft CFDT nannte die Obstruktion eine schlechte Lösung. „Das ist eine Dummheit“. Die FI liefere „ein jämmerliches Schauspiel, das nichts mit der Würde der Bewegung der Straße zu tun hat". Ähnlich lautete das Urteil seines Kollegen der „radikalen“ (wie man sie in der BRD qualifiziert) Gewerkschaft CGT, Philippe Martinez. Er forderte ein abschließendes Votum der Nationalversammlung vor dem 17. Februar. Es schien für beide Arbeiterführer kein Problem zu sein, dass sie damit genau auf der Argumentationslinie der Macronie und ihrer Alliierten balancierten (diesmal inklusive der Le-Pen-Partei). Die France insoumise hütete sich, ihrerseits von einem „jämmerlichen Schauspiel“ der Gewerkschaftsführer zu sprechen, aber auch innerhalb der NUPES wurden gewisse Divergenzen sichtbar. Die Abgeordneten des PS und die Kommunisten hielten sich merklich zurück. Die Ecolos zeigten vor allem bei der Frage der Frauendiskriminierung, verzichteten aber ansonsten auf jede Radikalität. Dabei wusste jeder: Wer die Rentenform auf parlamentarischem Wege aufhalten will, unterliegt einer politischen Illusion. Die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Und dann brachte die Macronie ihre zweite Waffe in Stellung: Die A-Moralisierung des Gegner durch gespielte Empörung. Man muss anerkennen: an dieser Waffe sind sie gut ausgebildet. Zunächst wurde ein medienwirksamer Tumult bei einem Antrag des wegen Gewalt in der Ehe verurteilten FI-Abgeordneten Adrien Quatennens inszeniert. Und der nächste Skandal folgte schnell. Ein Abgeordneter der FI, der ehemalige Eisenbahngewerkschaftler Thomas Portes, hatte ein Foto gepostet, das an Sansculotten-Karikaturen aus der Französischen Revolution erinnert: der Abgeordnete in stolzer Pose, mit trikolorer Schärpe, der rechte Fuß ruht auf einem Ball, auf den wiederum ein Bild des armen Olivier Dussopt geklebt ist. Die Medien verbreiteten das Bild. Eine Art Karnevals- oder Kirmesspaß. Aber wo hört der Spaß auf? Ein Symbol für die Stärke des Parlaments gegenüber den Herrschenden? Aber nein! Ein Aufruf zum Mord! Portes „zerdrückt“ den Kopf von Dussopt. Inakzeptabel! Als Portes einen Antrag begründen wollte, begann die rechte Parlamentsseite eine Art Tumult. Portes konnte nicht sprechen. Die Präsidentin bedeutete ihm, sich zu entschuldigen. Ihre Partei applaudierte. Ich entschuldige mich, wenn ihr die Rentenreform zurückzieht, rief Portes. Er gab nicht nach. Suspension der Sitzung für 4 Stunden. Schließlich verkündete Braun-Pivet das Urteil für die „Tat“, die – wohlgemerkt – außerhalb des Hohen Hauses stattgefunden hatte: Portes wurde für 15 Sitzungstage gesperrt, sein Gehalt halbiert. Die Höchststrafe also. Eine Strafe auch für die France insoumise, die damit um eine Abgeordnetenstimme gebracht wurde. Als ein anderer Insoumis Minister Dussopt in seinem Rede-Elan einen Mörder nannte (es ging um die Zahl der Arbeitsunfälle), entschuldigte er sich schnell. Dussopt nahm die Entschuldigung an, betonte aber, dass er dem Abgeordneten nicht verzeihe. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich die Pariser Kulturwelt an der Fiktion "'Qui a tué mon père?" (Wer tötete meinen Vater?) eines Edouard Louis ergötzte.

Die Schein-Moralisierung der Debatte hörte übrigens bis zum Ende nicht auf. Immer wieder wurde neben der Obstruktionspolitik der Linken der außerparlamentarische Druck erwähnt. der auf dem Parlament laste: die armen Leute, die durch den Streik nicht ihr Grundrecht auf Arbeit wahrnehmen können, die Drohungen über die Sozialmedien, die Beschimpfungen durch die Opposition, die lauten Stimmen der FI (besonders der wenigen weiblichen Abgeordneten aus der Arbeiterklasse) oder auch das ungeheure Verbrechen von Gewerkschaftlern, die den Abgeordnetenbüros der Macronisten für eine Stunde den Strom abdrehten (Angriff auf die Demokratie!). Und all dies wurde dann noch einmal ausführlich durch den Medienwolf gedreht. Dass die ehrbaren Abgeordneten des Bürgertums mit ihren Klagen die französische Klassengesellschaft ins Parlament trugen, fiel ihnen nicht auf. Selbst über die Kleidung der jüngeren Insoumis rümpften sie ihre vornehme Nase. Die uniforme Kleidung der Le-Pen-Mannen (dunkler Anzug, Krawatte und glatte Rasur) schien ihnen mehr zu gefallen. Wie auch nicht? Überhaupt scheint Geschichte nicht so ihr Ding zu sein. Zumindest ist ihre Sicht ziemlich gegenrevolutionär. Auch diesbezüglich waren die Sitzungen schwer erträglich, aber höchst lehrreich.

Muss man also von einem parlamentarischen Sieg der Macronie sprechen? Nicht unbedingt. Das permanente Nachfragen hat offensichtliche Lügen der Regierung aufgedeckt. Die Zahl von 4 Millionen Menschen, deren Rente auf 1200 Euro gehoben würde, ist in sich zusammengefallen. Immer wieder konnte auf die erneute Benachteiligung der Frauen hingewiesen werden. Jeder sah, wie „jämmerlich“ (Laurent Berger) die Ausflüchte der Vertreter Macrons waren. Deutlich wurde, dass die Arbeitslosigkeit durch diese Reform steigen wird. Und auch die mögliche Behebung eines angeblichen Defizits durch schnell durchführbare politische Maßnahmen wurde für jeden ersichtlich. Es gibt Alternativen. Das Renteneintrittsalter könnte mit 60 Jahren beginnen. Wenn man denn wollte. Und nebenbei lernte man, dass nicht wenige Abgeordnete recht großen Aktienbesitz haben, also eigentlich in einem originären Interessenkonflikt sind. Darunter, Ehre, wem Ehre gebührt, die Präsidentin des Parlaments. Die legt vor allem in l'Oréal an. Zumindest eins ist der NUPES, vor allem der France insoumise gelungen: Die Linke agierte als Repräsentantin des Volkes. Einige ihrer Abgeordneten sangen sogar das Gelbwestenlied: "On est là!" Hoffen wir, dass das Volk es mitsingen wird.

Dass es keine finale Abstimmung über den Gesetzestext gab, wird von der France insoumise als Sieg bezeichnet. Der Reform fehle fortan die parlamentarische Legimität. Die anderen Parteien der NUPES und die Gewerkschaftsführer halten sich diesbezüglich diskret zurück. Wir werden die Wirklichkeit am 7. März erleben, dem Tag, an dem der große Generalstreik beginnt, der Frankreich still stellen soll. Es scheint jedoch, dass bis dahin noch viele Gespräche zwischen den Reform-Opponenten notwendig sind. Der Gegner, das haben wir gelernt, schläft nicht. Und ein Olivier Dussopt knickt nicht ein. Es sei denn, sein Chef befiehlt es.

Post eventum. Nach der Sezession der NUPES stand noch ein Programmpunkt zur Abstimmung: Ein Misstrauensantrag des Rassemblement national gegen die Regierung. Er scheiterte.... jämmerlich.

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