Kein Recht auf die "Tage des Glücks"?

Rentenreform in Frankreich. Die Macronie versucht die finale Reform der Renten, "um sie zu retten". Ihre Chancen stehen nicht schlecht, obwohl eine große Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist. Es steht sehr viel auf dem Spiel. Vor allem die Frage eines Lebens in Würde

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„Du sollst dein Brot im Schweiße deines Angesichts verdienen.“ Gott wollte es so. Fast ohne Ausnahme. Gott wollte auch dies: Wer nicht arbeiten muss oder darf, hat den Armen, den Witwen und Waisen zu geben. Und es war wahrlich nicht leicht für einen Reichen, in den Himmel zu kommen. Oder sie mussten Gottes schöne Erde schützen – wie es die „Bellatores“ heute immer noch tun. Auch dies wollte Gott („Deus lo vult“). Damit das Schicksal nicht ganz so hart zuschlug, vertraute man den Gebeten der „Oratores“. Die bekamen für diese Dienstleistung den Zehnten, was ja wohl das Mindeste war. Das System, das wir heute so wissenschaftlich wie unkonkret „Trifunktionalismus“ (Piketty) nennen, machte es den Arbeitenden extrem schwer. Und hatte man es tatsächlich bis ins hohe Alter von 50 Jahren geschafft, erwartete einen ein sehr ungemütliches und kurzes „Vorzimmer zum Tode“. Vielleicht war der folgende Sermon aus einer mittelalterlichen Heiligenlegende beim Rückblich auf das eigene Leben ein - sehr schwacher - Trost:

Gott hätte alle Menschen reich machen können, aber er wollte, dass es Arme gab, damit die Reichen sich von ihren Sünden befreien konnten.

Die französische Revolution macht jedenfalls Tabula rasa. Sie schafft den Zehnten ab und verkauft den Großgrundbesitz der Kirche, immerhin ein Viertel des gesamten Landbesitzes in Frankreich. Das ist bourgeois-progressiv, zerstört aber gleichzeitig die Grundlagen der Armenfürsorge. Die Arbeitenden sind nicht mehr ans Land gebunden... und so frei, dass sie ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Was aber geschieht, wenn die Pauperes alt und gebrechlich sind? Handwerkervereine zur gegenseitigen Unterstützung existieren zwar schon seit dem Mittelalter, sie werden jedoch durch das das Gesetz Le Chapelier 1791 verboten:

Es gibt keine Korporationen mehr im Staat. Es gibt nur noch das besondere Interesse des Individuums und das allgemeine Interesse.

Das klingt nicht gerade nach "Fraternité". Die jakobinische Verfassung von 1793 revidiert dies in bester Absicht im Artikel 210:

Die öffentliche Hilfen sind eine heilige Schuld. Die Gesellschaft ist zur Unterstützung der unglücklichen Citoyens verpflichtet, durch die Beschaffung von Arbeit oder durch die Sicherung der Existenzmittel derer, die nicht arbeiten können.

Aber die Verfassung tritt bekanntlich nicht in Kraft. Die extrem liberalen "Thermidorianer" verhindern dies. Es bleibt beim Glücksversprechen. Der Sozialhistoriker Robert Castel kommentiert:

Diese Geschichte war fast zu schön, um wahr zu sein. Man muss sich aber fragen, warum dieses Programm sich nicht durchgesetzt hat, ja ein Jahrhundert lang vergessen wurde.

"Zweifüßige Werkzeuge"

Die Antwort ist einfach. Es ist liegt im Interesse der Bourgeoisie, deren herrschende Ideen kein geringerer als der revolutionäre Abbé Siéyès („Was ist der Dritte Stand?“) in empathischen Worten wie folgt ausdrückt:

Nennen Sie die immense Masse der zweifüßigen Werkzeuge, die ohne Freiheit, ohne Moral sind und nichts als ihre wenig verdienenden Hände und eine arme Seele besitzen, Menschen? Ist darunter auch nur einer, der fähig wäre, in die Gesellschaft zu treten?

Schon damals gilt für den „Pöbel“ „there's no such a thing as society... and people must look after themselves first.“ Die Arbeiterklassen werden zu den „classes dangereuses“, die man gleichzeitig als "Werkzeuge“ braucht und als „Barbaren“ fürchtet. Aber ist es nicht im Eigeninteresse der Bourgeoisie, den Paupern zu helfen? Adolphe Thiers, Verfechter des quasi sakralen Eigentums und späterer „Boucher de la Commune“, warnt 1851 in seinem „Rapport über die Unterstüzung und Vorsorge“ eindringlich davor, die Büchse der Pandora zu öffnen:

Wichtig ist, dass die Tugend der Wohltätigkeit , wenn sie nicht mehr partikular, sondern kollektiv wird, nicht den Charakter der Tugend verliert. D.h., sie muss freiwillig, spontan, frei bleiben, sonst würde sie aufhören, eine Tugend zu sein und zum Zwang zu werden, ein katastrophaler Zwang.

Aber trotz dieser „großen Angst“ der Herrschenden sind die Assoziationen gegenseitiger Hilfe nicht aufzuhalten. Schließlich sind sie durchaus mit den Interessen der Unternehmer vereinbar, zumindest wenn sie auf politische Forderungen verzichten. Also wird die „Mutualité“ überwacht, aber geduldet. 1869 gibt es im Frankreich des dritten Napoleon fast 7000 „Sociétés de secours mutuelles“. Der unternehmerische Paternalismus macht Schule. Die berühmt-berüchtigte Familie Schneider in Le Creusot richtet einen medizinischen Dienst ein, eine Hilfskasse für kranke Arbeiter, für deren Witwen und Waisen u.ä.m. Ihr Ideal ist die Osmose von Betrieb und Alltsgsleben der Arbetierfamilien, von der Wiege bis zum – oft recht frühen – Tod. Wohltaten und Interesse.

Erst gegen Ende des 19. Jahrhundert wird das Gesetz Le Chapelier obsolet. Die CGT wird gegründet. Erste allgemeine Sozialgesetze werden verabschiedet, zur medizinischen Hilfe der Armen (1893), zu den Arbeitsunfällen (1898) zur Unterstützung der bedürftigen Alten und Invaliden (1905) und – schließlich – zu den Renten (1910). Beschlossen wird endlich eine allgemeine, auf Beiträgen beruhende Rente für die Arbeiter und Bauern (bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze und mit einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren). Die 1898 gegründete Gewerkschaft CGT protestiert massiv gegen diese „Rente für Tote“ (ein angemessener Vorwurf angesichts einer Lebenserwartung von 50 Jahren).

Diese kleinen Fortschritte sind – ausgerechnet – der Kriegsbereitschaft zu verdanken. Politiker und Demographen sind nämlich zutiefst beunruhigt. Um die Jahrhundertwende hat Frankreich viel weniger Geburten als der tüchtige Erbfeind jenseits des Rheins. Familienhilfen werden propagiert - bei gleichzeitigem Verbot von Abtreibung und Emnpfängnisverhütung. Die Gesundheit der Rekruten wird zum Faktor des künftigen Sieges. Impfkampagnen gegen Typhus werden initiiert (und eventuelle Nebenwirkungen gekonnt verschwiegen). Nach dem Ersten Weltkrieg hat der „Sozialstaat“ die 600.000 Witwen und 700.000 Waisen zu versorgen, von den Millionen Arbeitsinvaliden zu schweigen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Arbeiter und Angestellten enorm. Deren Elsässer Kollegen haben bis 1918 vom deutschen Sozialsystem „profitiert“. Schon aus strategischen Gründen wird eine gewisse soziale Sicherheit ein Muss für die Dritte Republik – auch im Kampf gegen den Kommunismus. Ende der 20er Jahre werden wichtige Sozialgesetze verabschiedet, neue Rentenkassen eingerichtet, die nach nach dem Kapitaliserungsprinzip funktionieren. Die Beiträge (8%) werden für die zukünftige Pension angelegt. Die Krankenkassen funktionieren ihrerseits nach dem Verteilungsprinzip: die Beiträge eines Jahres finanzieren den Bedarf desselben Jahres.

Die Gewerkschaften reagieren unterschiedlich. Die christliche CFTC (Vorläuferin der CFTD) und die reformistische CGT-Confédérée (Vorläuferin der heutigen FO) begrüßen die Gesetze, auch wegen der vorgesehenen Kollaboration zwischen Unternehmern und Arbeitern. Die revolutionäre CGT-Unitaire fordert hingegen die Abschaffung des Arbeiterbeitrags, die Anhebung der Erbschaftssteuer und eine Teilfinanzierung aus dem Kriegsbudget. Das Kapitalisierungsprinzip der Renten sei abzuschaffen. Diese gewerkschaftlichen Divergenzen ziehen sich durch die französische Sozialgeschichte bis heute.

"La Sécu" - das Unmögliche wird möglich

1944 – mit der Befreiung – beginnt ein anderes Kapitel: der Kampf um das „Régime général de sécurité social“, die „Sécu“. Seine Helden sind der kommunistische Gewerkschaftler Ambroise Croizat (der 4 Jahre in vichystischen Gefängnissen verbracht hat) und Pierre Laroque , ein hoher Beamter aus dem Arbeitsministerium, Experte für Sozialpolitik und Résistant. Croizat spricht in seiner Antrittrede als Arbeitsminister in der Natuonalversammlung im Dezember 1945 folgende emblematischen Sätze:

Das Leiden, der Verlust der Würde und die Exklusion müssen beendet werden. Künftig werden wir den Menschen vor der Not schützen. Wir werden aus der Rente nicht das Vorzimmer zum Tod, sondern eine neue Etappe des Lebens machen.

Entsprechend steht in der Präambel der neuen Verfassung von 1946:

Die Soziale Sicherheit garantiert allen, vor allem dem Kind, der Mutter und den alten Arbeitern Schutz der Gesundheit, universelle Sicherheit, Ruhe und Muße.

Das nimmt – auch sprachlich – den „roten Faden“ der Jakobiner und der Commune weider auf. Laroques Plan sieht die Vereinigung der Renten- und Gesundheitssysteme und der Familienhilfen vor. Pro geographischer Zone soll es nur eine Kasse für alle geben, verwaltet zu einem Viertel von den Unternehmern und zu drei Vierteln von den Arbeitnehmern. Wie zu erwarten, sträuben sich die reformistischen Gewerkschaften, die „Mutuelles“ und die Unternehmerverbände. In der Assemblée nationale setzen sich jedoch die Sozialisten und Kommunisten durch. Die „Sécu“ wird nicht nationalisiert (wie z.B. Renault), sondern sozialisiert. Sie ist in den Händen der Betroffenen, d.h. angesichts des Fernbleibens der reformistischen Gewerkschaften, in den Händen der CGT. Und der gelingt es tatsächlich, in den wenigen Wintermonaten des Jahres 1946 funktionierende Kassen aufzubauen, tatkräftig unterstützt vom Arbeitsministerium. Für den kommunistischen Rentenexperten Bernard Friot ist zwischen 1945 und 1947 „etwas Unmögliches möglich geworden“: die Arbeiterklasse hat den modernen französischen Sozialstaat geschaffen und verwaltet ihn selbst.

Einige Jahre später hat sich der Wind gedreht. 1947 werden die letzten kommunistischen Minister entlassen. Im politischen Spektrum ist der PCF in der gesellschaftlichen „Tiefe“ zwar noch mächtig, in der Nationalversammlung aber marginialisiert. Die „Sécu“ wird scharf kritisiert, auch mithilfe der Presse. Sie sei, so der Figaro, „ein Monster auf fünf Beinen, dass seine Kinder ernährt und frisst“. Argumente werden vorgeschoben und bis heute ruminiert: das berühmte „Loch in der Sécu“, die Schulden, die Ineffizienz der Bürokratie, die Verwaltungskosten, der Missbrauch etc. Außerdem werde die Bevölkerung doch immer älter. Und die anderen Länder sind einfach besser. Das internationale Benchmarking. Der rechte Abgeordnete Paul Reynaud z.B. weiß schon 1949:

Es gibt ein übrigens von Sozialisten regiertes Land, Schweden. Und dort hat man die Alterspyramide genau studiert.Sie wissen, dass die demographische Situation in Schweden der unsereren ähnlich ist.Und man ist zum Schluss gekommen, dass das normale Eingangsalter in die Rente – von Ausnahmen natürlich abgesehen – 67 Jahre ist.

Die Sécu steht trotzdem ehern auf seinen Hauptpfeilern, der Alterssicherung und der Krankenversicherung. Allein sie bilden mehr als 70 Prozent der Sozialausgaben. Im „Régime général“ der Rentenversicherung sind alle Arbeiter und Angestellten der Privatwirtschaft erfasst. Das System funktioniert – wie in Deutschland – nach dem Verteilungsprinzip. Der öffentliche Dienst hat eine eigene Rentensicherung, ebenso die leitenden Angestellten, Ärzte etc. Hinzu kommen noch seit 1947 paritätisch verwaltete Zusatzversicherungen. Private Rentenversicherungen werden bisher relativ wenig nachgefragt. Die Konfliktlinien haben sich bis heute kaum verändert. Es geht um die Mitbestimmung von Politik, Verbänden, Unternehmern und Gewerkschaften, deren Einfluss seit 1946 permanent abnimmt, im Unterschied zu dem der Versicherungen. Inhaltlich geht es vor allem um die Höhe der Rente. Immerhin bekam 2018 ein Rentner mit 2000 Euro Gehalt eine Vollrente inkl. Zusatzversicherung von ca. 1830 Euros. Der für Europa relativ geringe Unterschied zwischen Pension und Gehalt bewirkt, dass die Armutsrate der Rentner in Frankreich „nur“ knapp 9% , die der Restbevölkerung jedoch fast 15% beträgt. Interessegetrieben und entsprechend hart diskutiert werden aber auch der Rentenunterschied zwischen Männern und Frauen, die Anteile von Unternehmer- und Arbeitnehmerbeiträgen und – vor allem – um das Renteneintrittsalter. Das betrug 1946 noch 65 Jahre und liegt - für wie lange? - bei 62 Jahren.

Zu Beginn der Präsidentschaft Mitterands werden – die Rose liegt noch in der Faust – das Renteneintrittsalter auf 60 Jahre und die Beitragsjahre auf 37,5 reduziert. Allein, die Freude währt nicht lange. Die Liberalen sind de retour. Die Selbstverwaltung wird ausgehöhlt. 1993 erhöht der Ministerpräsident Balladur die Beitragsjahre auf 40 und lässt die Renten neu berechnen. Nun gelten nicht mehr die besten 10 sondern die besten 25 Berufsjahre als Basis, was eine Minderung der Pension bedeutet .Die Renten werden nun vom Staat jedes Jahr neu „indexiert“, richten sich also nicht mehr automatisch nach der Gehaltserhöhung. Durch die Rentenreform des Ministerpräsidenten Fillon 2010 wird das Renteneintrittsalter auf 62 Jahre erhöht, mit der schönen Perspektive eines progressiven Verschiebens auf 67. Wir Ko-Europäer kennen dieses Verfahren. Hollande darf nicht fehlen. Sein MP Valls legt 2014 nach und fixiert die notwendigen Trimester auf 172 statt 166. Und dann kommt er, der neoliberale Revolutionär Emmanuel Macron. Sein MP Edouard Philippe versucht die finale Systemänderung: die gearbeiteten Trimester werden in Punkte umgerechnet, die das ganze Berufsleben erfassen (und nicht nur die 25 besten Jahre). Macrons „Haut Commissaire à la Réforme des retraites“, Jean-Paul Delevoye (der später wegen lukrativer Ämterkumulation zurücktreten muss) begründet dies so:

Die Rente ist der Spiegel der Karriere. Und das ist etwas, was gerecht (juste) ist.

Eine „Gerechtigkeit“, die vor allem die Frauen benachteiligen würde, die prozentual längere Berufsunterbrechungen haben als die Männer. Es kommt zu Massenstreiks und Redeschlachten im Parlament. Zuletzt setzt sich Philippe im Januar 2019 mit der Anwendung des Paragraphen 49.3 durch; dank Covid wird die ganze Reform jedoch zunächst auf Eis gelegt (und die Franzosen in ihre Wohnungen oder Häuser).

4 Jahre später. Macron ist wiedergewählt (um Le Pen zu verhindern) und seit 9 Monaten in seinem verantwortungsvollen Amt. Zurückgekehrt ist auch die Rentenfrage. Schließlich hat er sie im Wahlkampf angekündigt. Die „Réréréréforme“ (Libération) steht also an. Sie wird mit den gleichen Argumenten wie immer legitimiert und ist – natürlich - „juste et solidaire“. Macrons MP Elisabeth Borne will angeblich drohende schwere Defizite abbauen und die Renten damit zukunftssicher machen. In Macron-Speech: „die Renten retten“. Eine „Rettung“ mit gravierenden Konsequenzen: Für eine Vollverrentung braucht man 43 Beitragsjahre. Das Renteneintrittsalter soll erst mit 64 Jahren (ab 2030) möglich werden. Erst ab 67 Jahren ist die Rente abschlagsfrei. Besondere Rentenrégime (Bahn, Strom, Gas, Banque de France u.ä.) werden abgeschafft. Die Reform gilt auch für den öffentlichen Dienst. Für „penible“ Tätigkeiten gibt es begleitende Maßnahmen (die noch nicht konkretisiert sind).

Die Ministerpräsidentin gibt sich siegessicher, zumal sie mit der Rücknahme des Renteneintrittsalters um 1 Jahr die Républicains im Parlament auf ihre Seite geholt hat. Zur Absicherung beruft sie sich auf den Verfassungsartikel 47.1, der De Gaulleschen Verfassung von 1958, die auf alles eine staatliche Antwort hat. Danach kann die Regierung 20 Tage nach dem Gesetzesantrag bei noch laufender Debatte in der Nationalversammlung den Senat mit dem Beschluss beauftragen. Und dort hat die Rechte eine satte Mehrheit. Vertrauenkann die Ministerpräsidentin sicher auch in die bürgerlichen Medien, und die braucht sie. Denn mindestens 70 Prozent der Bevölkerung lehnen die Rentenreform ab – aus verständlichen Gründen. Mit Ausnahme der wohlhabenden Fraktion der Rentner, die aus Angst vor Steuererhöhungen die Rentenreform unterstützen. Und der Unternehmerverbände, versteht sich.

Auf der anderen Seite der Barrikade stehen die Gewerkschaften in Kampfstellung. Für den 19. Januar haben alle großen Gewerkschaften zum Generalstreik aufgerufen, selbst die reformistischen CFDT und Force ouvrière. Streiks der Eisenbahner und – vor allem – Blockaden der Raffinerien pflegen Wirkung zu zeigen, worauf die Medien schon jetzt mit dem bewährten verbalen Kampfmittel der „Geiselnahme der ganzen Bevölkerung“ reagieren. Im Parlament und auf der Straße werden die linken Parteien gegen die „Contre-Réforme“ kämpfen, auch sie mit ihren Mitteln (endlose Debatten, tausende Veränderungsanträge etc.). Ob die NUPES (Nouvelle Union populaire écologique et socialiste) hält, was sie verspricht, ist etwas zweifelhaft. Es gibt nicht wenige Differenzen. Aber vielleicht macht Einigkeit ja stärker. Die Frage, ob es eine Renaissance der Gelbwesten geben wird, ist schwer zu beantworten.. Erste Wiederbelebungsversuche hatten wenig Erfolg. Viel hängt vom Mobilisierungsgrad des ersten Generalstreiktages ab. Vielleicht gelint es ja, den Herrschenden das Mögliche unmöglich zu machen.

Auf der argumentativen Ebene hätte Borne – wenn es eine herrschaftsfreie Debatte gäbe – keine Chance. Die Rentenkasse hat momentan leichte Überschüsse. Relativ geringe Defizite werden für das nächste Jahrzehnt prognostiziert, die aber ohne größeren Aufwand kompensiert werden könnten (gerechte Besteuerung, keine Geschenke an die Börsenunternehmen, Erhöhung des Mindestlohns, Aufhebung des gender gap etc.). Sie muss nicht „gerettet“ werden. Die staatlichen Ausgaben für die Pandemie und die Folgekosten des Krieges zeigen, dass es - anders als von Macron behauptet - "magisches Geld" en masse zu geben scheint.

Wie wenig die Contre-Réforme „juste“ ist, zeigt ein Vergleich der Lebenserwartung. Vor 20 Jahren (2003) konnte ein leitender Angestellter von 35 Jahren damit rechnen, noch 47 Jahre in Gesundheit zu leben, ein Arbeiter hatte gerade einmal 24 „glückliche Jahre“ vor sich. Beide haben es mit der Borne-Rente zu tun – jedoch mit gewissen Unterschieden. Von den in Armut (oder mit entsprechendem Risiko) lebenden Männern sind ca. 10 Prozent schon vor Erreichen der Rente (in der jetzigen Version!), von den Frauen 6 Prozent gestorben. Die Rente genießen können viele Angehörige dieser Kohorte nur kurz. Sie ist für sie also tatsächlich das "Vorzimmer zum Tode". Bei den"Catégories supérieures" (wie man so sagt) beträgt das Risiko, nicht in den Genuss der Rente zu kommen, gerade einmal 2 resp. 1 Prozent.

Es ist offensichtlich:: Die „Jours heureux“, wie der Zentralrat der Résistance 1944 sein Programm nannte, die "Tage des Glücks", sind nicht gerecht verteilt. Was will der Marktgott denn noch?

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