"Sackgasse Adam Smith" - kein Ausweg?

Liberalismuskritik Hollandes poltische Praxis zeigt es wieder: Die Linke ist genauso (neo)liberal wie die Rechte . Der Philosoph Michéa behauptet, echter Sozialismus ist konservativ.

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So kommunizieren französische Linke: Mélenchon, Führer des Parti de gauche kritisiert den Wirtschaftsminister Moscovici wie folgt: Moscovici denkt nicht französisch (en francais), sondern internationale Finanz. Der Parti socialiste und seine verbündeten Main-Medien reagieren so: Das ist die Sprache der 30er Jahre (Harlem Désir), Mélenchon wildert in den Gefilden Marine Le Pens (Luc Carvonnas), Das ist alles näher an Maurras und Daudet als an der humanistischen und marxistischen Tradition (Jacques Julliard).

Die französische Linke hat allen Grund, nervös zu sein. Nicht erst seit der Cahuzac-Affaire weiß jeder, dass der Parti socialiste "kapitalistischer" als die politische Rechte agiert. Der Staat "muss" sparen, d.h. die Mittel- und Unterklassen werden ärmer. Die Arbeitslosigkeit steigt unaufhörlich. Dafür werden die Rechte der Arbeiter und Angestellten abgebaut. Frankreich führt wieder einen quasi-kolonialen Krieg, und im Innern kämpfen die Parteien und ihre "Truppen" den Ersatzkrieg der "Ehe für alle". Und wir sind noch nicht einmal enttäuscht, denn eigentlich haben wir nichts anderes erwartet. Doch im Halbdunkel wartet eine Marine Le Pen. Bei den letzten Teilwahlen im Département Oise hat sie der Linken keine Chance gelassen.

Höchste Zeit, sich von der "Linken" zu verabschieden. Vom Begriff sowieso. Dies verkündet erneut der Philosoph Jean-Claude Michéa (1), der in seinem letzten Buch die Geschichtslosigkeit der Linken seziert hat (2). "Links-Sein" ist für Michéa kein "Maître-Signifiant" mehr. Natürlich habe die Linke bis zur Befreiung 1944/45 eine ungemein wichtige Funktion gehabt: Abwehr des Antisemitismus in der Dreyfus-Affaire, Volksfront, Résistance, das Schleifen der letzten "Bastilles" der feudalen Reaktion (Kirchenmonopol, Patriarchat etc.).

Diese Emanzipation hatte jedoch ihren Preis: Entwurzelung der Menschen (die man auch in Frankreich gerne die "Leute" nennt), das Ertränken des moralischen und spirituellen Erbes im eisigen Wasser des egoistischen Kalküls, wie Michéa so konservativ wie marxistisch schreibt. Kurz und prägnanant stellt er die Genese der politischen Linken in Frankreich dar und arbeitet heraus, dass sich die Frühsozialisten, Utopisten, Anarchisten und auch Marx und Engels nie als "Linke" verstanden haben. Politisch "links" waren im 19. Jahrhundert die eher liberalen Unterdrücker vom Juni 1848 (Cavaignac) und Mai 1871 (Thiers). Der - historisch notwendige - Ort der Allianz von Arbeiterbewegung und (antiklerikalen) Liberalen sei die "Défense républicaine" in der Dreyfus-Affäre gewesen. Damit war die "Linke" als "Lager des Fortschritts" geboren: mit der Aufklärung (ohne Dialektik) gegen Klerikalismus und "Reaktion". Und letztere war - so Michéa - bis 1945 alles andere als ein Papiertiger.

Doch dann entwickelte sie sich bekanntermaßer zum puren Liberalismus - aller ziemlich müden Rhetorik zum Trotz. Für Michéa das logische Ende eines langen historischen Prozesses. Der Autor analysiert die "quasi-religiösen" Konstanten dieses "Quellencodes":

- Szientisimus und Positivismus

- die angeblich historische Notwendigkeit der kapitalistischen Produktion

- die Unabdingbarkeit der Großindustrie als "Befreierin" (analog zur Faszination der "Linken" für das Internet).

Die Konsequenzen sind wahrhaft dramatisch. Alles, was die Kapitallogik behindert, gilt als "konservativ", als "retrograd", zum Beispiel der positive Bezug zum Land, die Ehre der Handwerker. "Fortschrittlich" hingegen sind die technischen Kader, die cleveren Unternehmer, diejenigen, die für "Wachstum" sorgen. Die Linke, so Michéa, vertritt als liberale Partei die reine Freiheit, die alles gleichmacht (Debord). Nur folgerichtig ist der Orpheus-Komplex der Linken: alle Spuren und Wurzeln zu de-konstruieren, alles Gewesene als "konservativ" oder "reaktionär" zu entlarven (Du passé faisons table rase" forderte schon die Internationale). Kampf gegen jede historisch entstandene Abhängigkeit - von einer Region, einer Kultur, einer Sprache. EinzigeSozialisationsinstanz sei der Markt. Links-Sein, so ironisiert Michéa, heißt nichts anderes als ständig bereit zu sein, das Freiheitsrecht jeder isolierten Monade zu verteidigen. Die Menschheit wird des-aggrediert.

Soweit die Analyse, die trotz einiger möglicher Einwände pertinent ist. Doch was folgt daraus für die politische Praxis?

1. Ad fontes! Zu den Quellen des Anarchismus, Sozialismus und Kommunismus vor der Vereinigung zum sozialo-liberalen Mainstream (in Frankreich 1898, in Deutschland spätestens mit dem August 1914). Ich möchte ergänzen: zur zeitgemäßen Lektüre Ernst Blochs.

2. Verzicht auf den Begriff "links" (was in Deutschland eine bestimmte Partei verstören müsste). Michéa scheint den alten Namen "Sozialismus" vorzuziehen. Die materiellen und moralischen Grundlagen des Lebens "en commun" in Stadt und Land werden kapitalzwangshaft zerstört. Darum gilt: Zurück, d.h. in der gegenwärtigen, fast auswegslosen Situation: vorwärts zum "anthropologischen Fels" (Mauss) des gegenseitigen Gebens. Die politische "Rechte" nimmt die berechtigten Verlustängste geschickt auf, die "Linke" instrumentalisiert sie ebenfalls - für eine andere bürgerliche Klientel. Dabei ist evident, dass auch das "petit peuple de droite" gute Gründe hat sich zu empören. Auch den kleinen Leuten von rechts steht ein Minimum von Empathie zu.

Michéa formuliert die politische Aufgabe à la Rousseau: es gilt, die Bedingungen für die größte individuelle und kollektive Autonomie zu schaffen, ohne dass die "Freiheit" die Basis des sozialen Bundes zerstört. Das schließt die Sorge um sich, auch das legitime Bedürfnis nach Einsamkeit und Privatheit ein. Der Autor nennt dies "konkreten Universalismus" und verdeutlicht das Gemeinte am Beispiel des "wirklich antirassistischen Gefühls" (gemeinsame Situation gegenüber gemeinsamen Gegnern) im Unterschied zur "abstrakten Rhetorik" der Medienlinken und -rechten. Michéa geht so weit zu behaupten, dass ein Front-national-Wähler konkret eventuell "humaner" agiere als ein "Le-fascisme-est-partout"-Linker.

Wir Linken lesen so etwas nicht gerne. Auch der Rekurs auf bestimmte traditionelle Werte irritiert: Sinn für symbolische Grenzen und Pflichten, Bedeutung familialer und schulischer "Transmissonen", Bewahrungvon kollektiven Traditionen und Gewohnheiten. Dagegen sind die Achtundsechziger angerannt (allerdings gegen offene Tore). Diese Werte sind nicht an sich "reaktionär", entgegnet Michéa, sondern sie sind - richtig verstanden - Ausgangspunkt des sozialistischen Projekts. Und die einzige wirksame Waffe gegen den gleichmacherischen universellen Liberalismus. Die alte kommunistische "Familie" in Frankreich habe dies bewiesen - trotz der stalinistischen Perversionen. Er gibt ein anderes beeindruckendes Beispiel: die protestantische Bevölkerung der Cévennen knüpfte zur Zeit der Résistance bewusst an die Tradition der Pflicht jeder "Kirche" an, die Verfolgten zu schützen:

Les enfants des Cévennes/Réfactaires et maquisards/Montrent qu'ils ont dans les veines/Le sang pur des Camisards.

Die stolzen Kinder der Cévennen/Widerständler und Maquisards/Zeigen, dass es fließt in ihren Venen/Das reine Blut der Camisards.

Diesem religiös und historisch bedingten Pflichtbewusstsein verdankten Hunderte verfolgter Juden ihr Leben.

Michéas Ansatz könnte einen Ausweg aus der "Sackgasse Adam Smith" bedeuten, in der wir alle uns befinden. Wir haben der "Nummer 2" (Schirrmacher) das Steuer übergeben und sehen zu, wie dieser in Richtung Wand beschleunigt. Nach Michéa müssten spätestens gestern die humanen Werte auch des Konservativen wirksam werden. Dies ist schon in Frankreich fast unerreichbar - trotz aller revolutionären Traditionen. Was aber ist mit Deutschland und seiner obrigkeitlichen Tradition? Begriffe wie Pflicht, Ehre, Stolz lassen uns schaudern - mit Recht. Sie sind Eigentum der Rechten und ihrer Extreme. Und das ist unantastbar.

Michéa kritisiert den jakobinischen Zugriff auf die Politik und fordert eine empathie-orientierte Politik "von unten". Eine "commune". Vielleicht aber braucht diese doch den Schutz "von oben". Und vielleicht entsteht dann aus beiden Richtungen eine Politik, deren Namen eigentlich zweitrangig ist: die Volksklassen werden selber die Symbole finden, die ihren Kämpfen angemessen sind, schreibt Michéa. Und vielleicht ist der Begriff "Kommunismus" doch nicht so unangemessen, wie er uns momentan erscheint.

(1) Jean-Claude Michéa, Les Mystères De La Gauche, Paris 2013 (Climats)

(2) Jean-Claude Michéa, Le Complexe d'Orphée, Paris 2011 (Climats)

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