Toujours korrekt? Die "Geiselfrage" 1941

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Paris, 22. Oktober 1941. Spaziergang mit einer südlichen Modistin, die von der spanischen Grenze kommt und sich bei mir nach einem Kameraden erkundigte. Ich machte mir das Vergnügen, ihr in einem Salon unweit der Opéra einen Hut zu kaufen...

Châtaubriant, 22. Oktober 1941. Erschießung von 27 Geiseln, darunter viele Kommunisten. Einer von ihnen ist der siebzehnjährige Guy Môquet. Ein Berichterstatter hält etwas später akribisch fest: Unter den Kommunisten befanden sich einige Juden. Er weist auch auf die "Rechtmäßigkeit" der "Sühnemaßnahme" hin. Schließlich entspreche sie der Bekanntmachung des Militärbefehlshabers, nach welcher sämtliche männliche Franzosen, die sich wegen kommunistischer oder anrchistischer Betätigung in Haft bei französischen Dienststellen befinden ... gleichzeitig auch für den Militärbefehlshaber in Haft zu halten seien. Allerdings bemängelt er - so scheint es -, dass die Auswahl nicht kategorisch gehandhabt worden sei: Zu dieser Art der Auslese hatte diesmal offenbar die zur Verfügung stehende Zeit nicht ausgereicht.

Sehr sachlich beschreibt er das "ruhige und feste Verhalten" der Geiseln, die im "Kommunistenlager Châteaubriant" die Priester abgelehnt hätten. Er berichtet, dass die "ausgesonderten Geiseln" die Internationale sangen und mit "Vivent les Soviets!", "Vive l'Allemagne bolchéviste!" und "Vive la France!" auf den Lippen starben.

Der erste Textauszug stammt - natürlich - aus den Kriegstagebüchern des Bestsellerautors Ernst Jünger, der zwei Jahre zuvor die regimekritischen "Marmorklippen" veröffentlicht hat. Der Autor des Berichts über die Geiselerschießungen ist der Hauptmann Ernst Jünger in der erst 2003 veröffentlichen Denkschrift "Zur Geiselfrage".

Wahrscheinlich ab Ende Oktober 1941 bearbeitet Hauptmann Jünger im Auftrag seiner militärischen Vorgesetzten die Umstände der Geiselerschießungen im Gefolge von Aktionen der sich konstituierenden Résistance. So wird am Morgen des 20. Oktober 1941 in Nantes der Feldkommandant Karl (eigentlich Fritz) Hotz erschossen (am Tage darauf Kriegsverwaltungsrat Reimers in Bordeaux). Schon wenige Stunden nach dem Attentat übermittelt Keitel vom OHK, dass der Führer eine exemplarische Vergeltung für angemessen halte und die Erschießung von 150 Geiseln fordere. Der Militärbefehlshaber Otto von Stülpnagel erreicht von Hitler die "Reduzierung" der Zahl auf 100 zu erschießende Geiseln. Am 21. Oktober wird - auf rotem Papier - die von Stülpnagel unterzeichnete zweisprachige Bekanntmachung veröffentlicht, dass zur "Sühne" dieses "Verbrechens" zunächst 50 Geiseln erschossen werden - und weitere 50, wenn bis zum Ablauf des 23. Oktober diie Täter nicht ergriffen sind.

Keine leere Drohung: den Erschießungen vom 22. Oktober (an 3 Orten in der Umgebung von Nantes) folgt am 23. die Hinrichtung von 50 Geiseln in Bordeaux. Am selben Tag veröffentlicht die Zeitung "L'oeuvre" die Liste der 48 Ermordeten von Nantes und Châteaubriant. Neben der Nummer 20 lesen wir: MOQUET Guy, de Paris, communiste.

Die Konstellation ist interessant, wie geschaffen für das Szenario, wie Schlöndorff es jetzt mit "Das Meer am Morgen" realisiert hat: der junge Märtyrer als Identifikationsfigur, ein Militärbefehlshaber, der wider Willen Geiselerschießungen anordnet (anordnen muss?), der bekannte Schriftsteller und hochgebildete Prototyp des "Soldatischen". Im Hintergrund: das schwierige deutsch-französische Verhältnis. Ideal für die Entwicklung moralischer Dilemmata zwischen "Verantwortungsethik" und dem soldatischen Treueeid, Ehre und Gehorsam.

Ernst Jünger hat im Anhang an seinen Bericht auch den Abschiedsbrief Guy Môquets übersetzt. Der Brief muss seit Sarkozys Antriff 2007 an jedem 22. Oktober an den Schulen verlesen werden. Der Sohn des inhaftierten kommunistischen Abgeordneten Prosper Môquet wird am 13. Oktober 1940 wegen Verteilung von Flugblättern von französischen Polizisten festgenommen. Trotz Freispruch bleibt er in "Sicherheitsverwahrung". Ins Barackenlager Choisel bei Châteaubriant verlegt, gehört er den "Ausgelesenen", von denen Jünger in seinem Bericht schreibt. Er ist einer jener gefährlichsten internierten Kommunisten, die zur Zeit in Châteaubriant konzentriert sind", schreibt M. le Sous-Préfet an den deutschen Kommandanten, eine Liste von 60 Namen anfügend.

Nach der Ankündigung seiner Hinrichtung schreibt Guy Môquet eine schnelle Notiz an seine ebenfalls internierte junge Liebe Odette Leclan und den berühmten Abschiedsbrief an seine Familie. Am Nachmittag des 22. Oktober werden die Geiseln in drei Gruppen erschossen - in einem ehemaligen Steinbruch. Die meisten Geiseln tragen bewusst keine Augenbinden. Ihre Hinrichter schauen ihnen in die Augen. Heute ruht der Leichnahm Guy Môquets auf dem pariser Friedhof Père Lachaise.

Auf der anderen Seite des tragisch erscheinenden Geschehens findet sich die Täterhierarchie: die französischen Beamten, die deutschen Soldaten des Hinrichtungskommandos, der Innenminister Pétains, der letztlich die Namen der Geiseln festlegt, der Militärbefehlshaber und - der Hauptmann Ernst Jünger.

Otto von Stülpnagels Name steht unter der Bekanntmachung vom 21. Oktober. Trotzdem hält er wie sein Stabschef Speidel und der Botschafter Abetz die Geiselerschießungen für unzweckmäßig. Selbst Pétain protestiert und kündigt an, sich selbst als Geisel zur Verfügung zu stellen. Und trotzdem befiehlt Stülpnagel neue Massenerschießungen. Und trotzdem schlägt er neue "Maßnahmen" wie Geldbußen für in Paris lebende Juden und - besonders fatal - die Deportation von 1000 Juden und 500 Jungkommunisten in den Osten vor, was Hitler (gern) bestätigen lässt.

Am 15. Januar 1942 schreibt ein resignierender Stülpnagel an das OHK: Massenerschießungen kann ich jedenfalls in Erkenntnis der Auswirkungen solcher harten Maßnahmen - wenigstens zur jetzigen Zeit und unter den derzeitigen Umständen - nicht mehr vor meinem Gewissen vereinbaren, noch vor der Geschichte verantworten. Die Antwort Keitels folgt prompt: Stülpnagel solle sich nicht um Politik kümmern, er solle gewissermaßen nur Soldat sein. Am 5. Februar meldet Stülpnagel sich krank, am 15. Februar reicht er sein Gesuch um Abberufung ein. Es wird prompt angenommen. Stülpnagel hat ein privates Schreiben an Keitel hinzugefügt, von "Kamerad zu Kamerad": Nicht also aus Opposition - denn ich verehre den Führer außerordentlich - sondern aus dem Willen heraus, der Sache zu dienen, verfasste ich den beiliegenden Antrag.

Es gibt bei Stülpnagel, wie Zeitgenossen berichten, ein "ausgeprägtes Empfinden für Korrektheit". Darum wohl wird ins Zimmer des Hauptmanns Ernst Jünger ein besonderer Stahlschrank für die Bearbeitung der Alten im Kampf um die Hegemonie in Frankreich zwischen dem Oberbefehlshaber und der Partei aufgestellt, wie Jünger am 21. Oktober - es laufen gerade die Vorbereitungen für die Geiselmorde - erwähnt. In diesem Kampf steht Jünger auf der Seite des Militärbefehlshabers. Er verfasst die "Denkschrift" zur Geiselfrage, Bericht ist der bessere Begriff. Jüngers Freund Speidel findet ihn mit politischen Blick geschrieben, mit souveräner Sachkenntnis und minuziöser Kleinarbeit verfasst. Der Herausgeber des Berichts sieht ihn eher als nüchterne Chronik der Ereignisse. Er übersieht Ausdrücke wie "kleine Terrorgruppe", "Kommunistenlager", "Sühnemaßnahmen", "Vollzug". Jünger beherrscht eben auch die Textsorte NS-Polizeibericht. Die Belegschaft eines Werkes, in dem mal eben 20 Kommunisten zum "Auffüllen" der Geiselkontingente festgenommen werden, werden dann schnell einmal zur "Gefolgschaft".

Aber die Übersetzung der Abschiedsbriefe, darunter der Guy Môquets! Jünger schreibt 1945: Ich hatte meiner Schilderung die Übersetzung der Briefe angehängt... Sie spiegeln die Größe, die der Mensch gewinnt, wenn er den Willen verabschiedet, die Hoffnung aufgegeben hat. Will Jünger also den Opfern ein Denkmal setzen, sie vor dem Vergessen bewahren? Oder will er sein früheres Funktionieren im Repressionsapparat der deutschen Besatzer rechtfertigen? Er wusste um die Ereignisse, die Tagebücher geben sie aber kaum preis. Beim Besuch der "Schinderhütten und "Lemurenwälder" im Osten wird er deutlicher - aber immer in der Technik der Doppelbelichtung, wie der Historiker Hannes Heer es formuliert.

Von Stülpnagel hat die Konsequenz gezogen - nach übergroßer Schuld und in seinen Augen falscher Besatzungspolitik. Er hatte eine Wahl. Jünger lässt - bei aller Distanz - sich weiter verwenden - auch er hatte eine Wahl.

Guy Môquet hatte keine Wahl.



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