It's stupid economy, stupid

Unsere blöde Dummheit Angesichts der gegenwärtigen Ereignisse schütteln viele nur noch den Kopf. Geht es noch dümmer? Ein französischer Ökonom untersucht die psychologischen Ursachen der neoliberalen Politik und kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis.

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Das Problem mit der Dummheit zeigt sich schon im Halbdunkel der Geschichte, im ägyptischen Mythos der Himmelskuh.

Am Anfang lebten die Götter und die Menschen auf unserer schönen Erde zusammen, in friedlicher Harmonie, wie die schönäugige große Himmelskuh jeden Tag erfreut feststellen konnte. Aber als der Schöpfer der Erde, der Sonnengott Rê, alt und gebrechlich wurde, erwachte in den Herzen der Menschen (für die Ägypter das Verstandesorgan) schlummernde Dummheit. Nicht länger wollten sie den Göttern dienen und ihnen vom Produkt ihrer Arbeit opfern (diese Frühmarxisten!). Der alte Rê geriet in Zorn und schickte seine Tochter auf Strafexpedition. Sekhmet, eine riesige furchterregende Löwin, fraß viele der Aufrührigen auf und schleckte mit wachsender Gier ihr Blut. Als Rê erkennen musste, dass die Erde menschenleer zu werden drohte (und damit die Opferlieferung an die Götter), rief er seine Tochter zurück. Doch der Alte hatte in seinem Zorn nicht bedacht, dass die Löwin nicht mehr auf Menschenblut verzichten konnte. Sie weigerte sich zu gehorchen. Erst als die Götter eine List anwandten und ihr rotgefärbtes Bier zu trinken gaben, folgte sie brav (und dumm) den Anweisungen. Von den Menschen enttäuscht, zogen sich Rê und seine Götterschar auf den Rücken der Himmelskuh zurück. Die Menschen mussten allein mit sich und ihrer Ignoranz zurechtkommen - und damit, so ergänze ich, mit den großen geschichtlichen Dummheiten: Arbeit, Herrschaft, Krieg und Naturzerstörung.

Dieser uralte reaktionäre Mythos zeigt: die alten Ägypter sind so dumm auch wieder nicht. Sie erkennen die Funktion des Mehrprodukts, ergreifen angesichts der Schwäche des Herrschers den richtigen Moment der Revolution. Sie sind es aber noch nicht gewohnt, das Surplus untereinander aufzuteilen. Dumm ist das Löwenmonstrum, das seiner unersättlichen Gier verfällt. Sein Geschmackssinn kann nicht einmal Blut von Bier unterscheiden. Dumm ist aber auch Rê persönlich, weil er den Ungehorsam der Löwin nicht vorher bedacht hat und sich sich schmollend zurückzieht. Nun muss er auf den faktischen Genuss des Mehrprodukts verzichten. Pharao freut's. Er kriegt jetzt mehr.

Wir sind Epimetheus

Es ist offensichtlich: alle bisherige Geschichte ist auch die Geschichte der Dummheit(en). Wir haben viele Begriffe für sie: Idiotie, Debilität, kognitive Differenz, Unwissen, Leichtgläubigkeit, historische Verblendung (für die es unzählige Beispiele gibt), Arroganz, Fanatismus, Torheit, Patriotismus, Bellizismus (würden die Pazifisten sagen), Pazifismus (würden Bellizisten sagen) u.v.a.m.. Wir alle besitzen sie, diese „unvollendete Klugheit“ (Platon). Wir alle sind manchmal „vorher bedenkend“ wie der kluge Prometheus (der aber auch nicht "vorher bedachte", wie brutal Zeus ihn Zeus bestrafen würde). In der Regel sind wir jedoch „danach bedenkend“ wie sein Bruder Epimetheus, dessen dummer Besitzgier wir es verdanken, dass die von den Göttern gesandte Pandora die Büchse öffnete, aus der sich Laster, Krankheit und Tod über die Menschheit ergossen. Eine Welt ohne Trost entstand, denn die Hoffnung blieb, wohl verschlossen, in der Büchse zurück. Wenn wir unsere kleinen und großen Katastrophen - wie Epimetheus - nur „danach bedenken“ würden, um die nächsten zu verhindern! Aber "danach" sind wir auch nicht "schlauer", klüger bestimmt nicht.

Im Gegenteil. Wir verweigern uns obstinat dem Lernen. Wir trotzen dem Vernunftgebot der Aufklärung und begehen munter eine große Dummheit nach der anderen. Natürlich ist das kollektive Wir an dieser Stelle nicht gerecht. Nicht „wir“ haben die Menschen während der Corona-Pandemie verunsichert, Hunderttausende von Toten zu verantworten, die Hospitäler down-ökonomisiert, die Alten in den Heimen gequält, den Kindern den normalen Unterricht (und eine gewisse Grundimmunität) genommen, sondern es waren Politiker und Experten von „unvollendeter Klugheit“. Nicht „wir“ haben die wohl sichere Klimakatastrophe zu verantworten, sondern die Profiteure des klimaziden industriellen Kapitalismus. Nicht „wir“ haben die Gas- und Strompreise in astronomische Höhen getrieben, sondern Politiker, die vermeinten, einen Aggressor durch Boycott bestrafen zu können – und damit die Frackinggasproduzenten und die Gashändler beschenkten, uns, die eigene Bevölkerung, aber bestraften. Nicht „wir“ haben die Attacke auf die Ukraine zu verantworten, auch nicht die „nicht vorab bedachte“ Anheizung des Krieges mit immer mehr todbringenden Waffen und Hunderttausenden von Toten und Verletzten...

Es stimmt aber auch: Wir haben das sich Abzeichnende hingenommen. Es ist verständlich, dass wir uns an denVerhaltensgesetze des Kapitalismus anschmiegen. Wir wollen dieses unser einziges Leben so gut wie möglich verbringen. Aber wir haben diese "dummen" Politiker nun einmal gewählt, wenn wir uns denn überhaupt zur Wahl aufmachen. Wir haben wissenschaftsgläubig den Experten vertraut. Wir hatten Angst, diese schlechte Ratgeberin. Nicht wenige von „uns“ befürworten noch immer in bester Absicht die Waffenlieferungen und "unsere" gigantische Aufrüstung, glauben dem Argument, diese diene nur unserer Verteidigung, obwohl „sie“ uns schon tausendmal damit belogen haben und uns die Klugheit doch warnen sollte. „Wir“ erörtern noch nicht einmal die Möglichkeit, dass „sie“ es diesmal nicht wieder so tun. Und so wird es sein. Wir lassen uns buchstäblich für dumm verkaufen und drehen heldenhaft und solidarisch das Thermostat um 1 Grad herunter. Es braucht angesichts des omnipräsenten Mitmachens tatsächlich Mut, sich seines Verstandes zu bedienen. Und eine wirkliche, das System transzendierende Alternative sehen wir nicht. Wo auch? Kurz: Es fehlt die Hoffnung auf das bessere Morgen (sie blieb ja in Pandoras Büchse). Und nun steht dieses Jahr 2023 an, das irgendwie zum Hundertsten von 1923 passt. Herzlichen Glückwunsch!

Wir müssen uns resigniert eingestehen: die Chancen, "die Dynastie des Königs der Idioten“(George Brassens) zu stürzen, sind sehr, sehr gering. Und eine perfekte "rationale" Welt ist auch nicht unbedingt erstrebenswert. Aber diese Zunahme der Dummheit! Es ist ver-rückt. Nehmen wir die Wirtschaftspolitik. Der Ökonom Jacques Généreux hat viele Bücher über die neoliberale Ökonomie geschrieben. In seinem neuen Buch über die Herrschaft der ökonomischen Dummheit konstatiert er etwas verzweifelt:

Alle Systemfehler sind dargelegt, alle Katastrophen sind angekündigt, alle alternativen Optionen sind ausgearbeitet, ja sogar experimentiert worden. Und dennoch. Bis heute hat auch nicht ein Desaster die zerstörerische Ausdehnung der Macht des Kapitals aufgehalten... In dieser besten der produktivistischen Welten wird man sicherlich noch eine biologische Agrikultur finden, mechanisiert und numerisch gesteuert. Wir werden eine Landwirtschaft ohne Landwirte, Handel ohne Händler, Passagen ohne Passanten und ein soziales Leben ohne Gesellschaft haben (1).

Die Büchse der Pandora, so Généreux, wurde zu Beginn der 80er Jahre geöffnet. Die Epigonen des Epimetheus hießen Reagan, Thatcher, Kohl, später Blair, Schröder, Delors, also auch wackere Sozialdemokraten mit linker Vergangenheit auf der Suche nach dem Dritten Weg. Sie alle (und viel mehr) stehen für den „Großen Sprung zurück“ (Serge Halimi). Bis dahin schien der neoklassische Liberalismus ein toter Hund zu sein. Methodisch waren der homo oeconomicus, die Angebotsökonomie und die extreme Mathematisierung des „ökonomischen Gleichgewichts“ erledigt. Auch politisch: Der einflussreiche liberal-demokratische Politiker Pierre Mendès France hatte 1954 noch befunden:

Die Stunde ist gekommen, den Dogmen des laisser-faire, laisser-passer, den Status der Zukunft entgegenzusetzen, den des starken Staates gegen das starke Geld.

Und doch wurde der neue Liberalismus der Friedman, von Hayek, Stigler, Lippmann, in den 30ern und 40ern zur Rettung des nach der großen Krise arg wankenden Kapitalismus, erfunden, auf einmal zum ökonomischen Glücksversprechen geadelt. Hayek hatte schon 1947 dekretiert:

Wenn wir auch nur die leiseste Hoffnung der Rückkehr zu einer Ökonomie der Freiheit aufrecht erhalten wollen, ist die Frage der Eingrenzung der Gewerkschaftsmacht primordial.

1960 zeigte er den leuchtenden Pfad:

Dereglementieren, privatisieren, die soziale Sicherheit reduzieren und vereinfachen, die Arbeitslosensicherung vermindern, die Wohnungssicherung und die Mietenkontrolle unterbinden, die Kontrolle der Preise und der landwirtschaftlichen Produkte abschaffen und die Gewerkschaftsmacht zurückfahren...

Amen. Es ist vollbracht. Die neuen Männer des Neoliberalismus sitzen nun seit zwei Generationen an den Schaltstellen; erst mit, dann ohne Krawatte, besetzen sie die ergonomischen Bürostühle in den Ministerien, der Weltbank, der europäischen Kommission, im Vorstand der großen Banken. Sie kontrollieren die relevanten Fachzeitschriften und die Hochschulcurricula. Ihre Experten haben den Status von Hohen Priestern. Ex cathedra verkündete ein George Stigler allen professoralen Ernstes:

Nun, nicht die ökonomische Wissenschaft ist falsch, die Realität ist falsch.

Généreux gehört zu den (nicht wenigen) französischen Ökonomen, die sich kopfschüttelnd fragen: Was treibt „unsere“ Herrschenden zu ihrer verheerenden Politik? Warum missachten sie die Interessen der Bevölkerung, die sie dummerweise auch noch wählt? Denn dass ihre Regierungspraxis wider alle Vernunft ist, springt in die Augen. Warum sehen das so wenige?

Das breite weiche Zentrum der Dummheit

Interessanterweise verwirft Généreux das unter Linken und Linksliberalen gängige Urteil, Macron sei der „Président des riches“. Die These, er sei von den Superreichen quasi eingesetzt worden, ist sicher nicht ganz falsch, aber sie ist simplizistisch, also „dumm“. Die offensichtliche Politik „pro riches“ verleitet zum vorschnellen Urteil. Macron, so Généreux, sei vielmehr der Favorit all derer, die glauben, seine Strategie sei die beste für das Land und/oder sie selbst. Die Sympathien der Upper Classes muss er sich mit dem Kandidaten der traditionellen Rechten teilen. Und im Jahre 2017 wählten immerhin auch 19% der Angestellten und 16% der Arbeiter den jungen Dynamiker, stimmten also gegen ihre Interessen. Das entspricht den Erkenntnissen der Soziologen Bruno Amable und Stefano Palombaria über den neuen „Bloc bourgeois“ oder „Bloc néolibéral“, bestehend aus „linken“ Sozialliberalen und „gemäßigten Rechtsliberalen“. Généreux fasst zusammen:

Hinter Macron versammelten sich offensichtlich nicht die Reichsten. Es war zum Teil die Republik der Zufriedenen, dieses breite weiche Zentrum der Nation, zufrieden genug, um einer gerechteren Gesellschaft den Status quo vorzuziehen. Aber es war auch die Republik der Dummen, die mangels eines Besseren ihren König wählte und es bitter bereuen sollte.

Sie hätten ja zum Beispiel Mélenchon wählen können, der immerhin eine reale Alternative bot. Eine knappe Million Stimmen hätte gereicht. Und die Lektüre der Parteiprogramme hätte nicht wenige sicherlich eines Besseren belehrt. Aber die Programme sind ja geschrieben, um nicht gelesen zu werden. Eine Debatte findet nicht statt. Und so verzichtet man auf den Einsatz der eigenen Intelligenz und wählt – in der „bewährten“ Tradition des „Juste milieu“- einen dynamischen Vertreter der „Noblesse administrative“, einen Ex-Banker, obwohl man im voraus weiß, dass der einen schröpfen wird. Man wählt die Kontinuität, nicht das vermeintliche Risiko, auch aus Angst, mehr zu verlieren als zu gewinnen. Das erinnert an Roosevelt, der über den Diktator Somoza sagte: „Er mag ein Hurensohn sein, aber er ist unser Hurensohn.“ Trotzdem sollte man doch auf die „Schlauheit“ verzichten und die „Klugheit“ einsetzen, auch wenn keine "Hurensöhne oder-töchter" unsere Politik bestimmen, sondern nette JuristInnen und Philosphen. Auch wenn diese keine direkte Politik für die Reichen machen. sondern werteorientierte sozialliberale Politik für die Reichen aus Überzeugung.

Die Klugheit ist eine Tugend, so Généreux, die Dummheit ist die Faulheit des Geistes... Wenn die Reflexion nicht gelegentlich, sondern systematisch suspendiert wird, also zu einem Persönlichkeitsmerkmal wird, wird die Dummheit ein Laster.

Ich möchte ergänzen: nicht nur ein persönliches, sondern ein soziales und politisches Laster, denn es gibt viele Lernsituationen der Dummheit (durch dumme politische Praxis hervorgerufen), glücklicherweise aber auch der Klugheit (die sich einfach nicht vermeiden lässt). So wie es dumme und kluge Reduktionen der Komplexität gibt. Unser aller gemeinsames Gehirn gibt sich jedoch diesem Laster nur zu gerne hin. Wir verdanken der kognitiven Psychologie die Erkenntnis: Die Evolution hat unserem Denk- und Fühlorgan die Liebe zu so genannten „Bias“ vermacht, darunter echt fiese Fallen: falsche Attribution, Backfire-Effekt, Confirmation-Bias, Kausalitätsillusion, Blind Spots, Dichotomie, Kontroll-Illusion, Labeling, Verlustangst, Weißkitteleffekt. Unser Gehirn ist unvollkommen, folgt „dumm“ dem ersten Eindruck, verallgemeinert zu schnell, rationalisiert seine Irrtümer. Allerdings ist es durchaus denkbar, dass genau dies die Evolution begünstigt hat. Zumal es Daniel Kahnemann zufolge neben diesem "System 1", dem zerebralen „Auto-Pilot“, noch das subtile reflektive "System 2" gibt. Die berühmte Plastik Rodins zeigt, wie anstrengend diese eher seltene Arbeit ist. "System 2" ist faul. Und wenn es sich doch noch bewegt, verbraucht es viel Zeit (= Geld) und Energie (= noch mehr Geld). Ihm fehlt das Kurzzeitgedächtnis, daher eignet es sich fast ausschließlich für das „Grundsätzliche“. Und das bringt bekanntlich nichts. Sagt man. Daniel Kahnemann ist überzeugt (vielleicht unterliegt er aber auch dem Bias der Verallgemeinerung):

Unsere poltischen Überzeugungen werden nicht durch Argumente determiniert. Wir glauben an sie, weil wir bestimmten Personen glauben, die wir lieben, denen wir vertrauen. Die Emotion kontrolliert in großem Ausmaß die Politik.

Zurück zur Ökonomie, und damit automatisch zur Dummheit. Trotz der Maxime „Sunk costs are sunk“ verschwenden „wir“ weiterhin fröhlich Zeit (also Geld) und Kapital in Projekte, die nur momentanen Profit versprechen und/oder eine düstere Zukunft erahnen lassen (und ärgern uns über harmlose Aktionen von „Ökoterroristen“, die uns den Weg zur Arbeit versperren). Das neoliberale Ich ist unfähig, andere Gesichtspunkte auch nur ernst zu nehmen. Wenn das Reale doch unverschämterweise in seine Welt einbricht, weiß es die Schlagstöcke auf seiner Seite (siehe Gelbwesten). Das ist beruhigend. Es ist Opfer (und Täter) seines „natural myside Bias“, das allerdings so natürlich auch nicht ist, denn es entwickelt sich klassen- und gruppenspezifisch. Généreux ist sich sicher:

Mit der Entfernung zu sozialen Strukturen, die Koexistenz, Kooperation und die Assoziation verschiedener Gruppen begünstigen, verstärkt sich unser egozentrisches Bias.

Das beste Beispiel bietet - wieder einmal - der Krieg (der ja auch Elemente des Wirtschaftslebens und -sterbens in sich trägt). Hannah Arendt verweist 1964, in einem Gespräch mit Joachim Fest, auf eine Tagebuchnotiz Ernst Jüngers. Der Besitzer eines Bauernhofs in Pommern habe Jünger von einem russischen Kriegsgefangenen berichtet, der Viehfutter gegessen habe und dies so kommentiert:

Na, dass das Untermenschen sind und wie Vieh, kann man ja sehen – sie fressen den Schweinen das Futter weg (2)

Arendt nennt dies eine „empörende Dummheit, der Unwille, sich vorzustellen, was mit dem Anderen ist“. Und diese „empörende Dummheit“ ist in der Tat so banal wie das Böse. Wie locker (und dumm) sprechen wir zum Beispiel von „den“ Arbeitslosen, „den“ Einwanderern, „den“ Extremisten, „den“ Drogenbenutzern, „den“ Ukrainern etc. und ordnen ihnen bestimmte Attribute zu.„Den „Amis“ und den „Rusksis" sowieso. Schließlich kennen wir einige persönlich.

"Empörende Dummheit" - ein klassischer Fall

Diese Art Dummheit findet sich in den populären Klassen, besonders aber bei den Reichen und Schönen, den Finanzkapitalisten und den reichen Erben – und bei den Regierenden. Berlusconi, Sarkozy haben dies zur Genüge bewiesen, Trump ist (war?) ein echter "Künstler der empörenden Dummheit". Die deutschen Kollegen hielten sich - wegen ihrer peinlichen Vorgänger - bisher bescheiden zurück. Aber sie scheinen momentan aufzuholen. Die Neujahrsansprachen dieses Jahres sind ein guter Beweis. Geht es noch dümmer? Wahrscheinlich.

(Nicht nur) für Généreux ist auch der französische Präsident ein „klassischer Fall von Dummheit“. Macron ist offensichtlich ein sehr intelligenter Mensch, geformt durch die besten Schulen mit den besten Lehrern, seine berühmte (berüchtigte) Maxime „Aber zur gleichen Zeit“ ("mais en même temps") spiegelt ein komplexes Denken wider, das jeden Manichäismus zurückweist. Von seiner frühen Beschäftigung mit Hegel hat er zumindest die dialektische Methode behalten. Und dieser brillante (nicht mehr ganz so) junge Mann erweist sich in der Praxis als rüder neoliberaler Thatcher-Nachfolger und präsentiert die oben erwähnten Bias in Reinkultur. Seine „kleinen Sätze“ könnten mittlerweile Bücher füllen. Darum werde ich mich zunächst auf ihn konzentrieren (auf Befehl meines Systems 2). Fälle deutscher Kollegen des Präsidenten sind einfach nicht so gut dokumentiert. Es folgen einige repräsentative Sottisen des Meisters:

In diesem Unternehmen gibt es mehrheitlich Frauen, darunter solche, die viele als ungebildet bezeichnen (17.9.2014, im Radio nach der Besichtigung eines Schlachthofes. M. war gerade Wirtschaftsminister geworden),

Es gibt Leute, die – statt hier Chaos anzurichten (M. benutzt hier die Vulgärsprache: foutre le bordel) – sich besser woanders nach Arbeitsplätzen umschauen sollten (4.10.2017 vor der Kamera, während draußen streikende Arbeiter mit Tränengas pazifiziert werden. Es geht um die Schließung einer Firma in einer industriell verwüsteten Region, in der man 1 ½ Stunden zur nächsten Fabrik fahren muss),

Wenn ich arbeitslos wäre, würde ich nichts vom Anderen erwarten, ich würde zunächst versuchen, zu kämpfen (18.2.2015. M. in einem Fernsehinterview auf die Frage, wie er sich als Arbeitsloser fühlen würde),

Hotels, Cafés, Restaurants, ich brauche nur die Straße zu überqueren ,und ich finde etwas für Sie. Die wollen einfach nur arbeitsbereite Leute (14.9.2018, Jonathan, ein junger Gärtner hatte M. vor den Kameras berichtet, dass er keine Arbeit finde), und eine vorletzte Sottise:

Sie mit Ihrem T-Shirt machen mir keine Angst. Die beste Methode, sich einen Steuren Anzug erlauben zu können, ist zu arbeiten (Mai 2016, vor Kameras. Ein junger Gewerkschaftler, der seit dem 16. Lebensjahr arbeitet, hatte ihm gesagt, er habe kein Geld, sich einen Schneideranzug und Krawatte zu leisten).

Es ist offensichtlich: dieser Mann beherrscht das Vibrato bei großen Reden. Er scheint aufrichtig zu glauben, was er sagt, aber er hat keinerlei Empathie für die Benachteiligten dieser seiner Welt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden bloßgestellt, ohne dass er dies zu bemerken scheint. Immer wieder perlen diese „petites phrases“ aus ihm hervor. Und immer wieder zeigt sich diese „empörende Dummheit“, von der H. Arendt spricht. Eine Diskussion mit Macron ist, als ob man mit einer Mauer spricht. Der „natural myside Bias“ als Klassenmauer. Myside vs. Yourside. Wie? Ihr habt keine Arbeit? Sucht euch welche! Die Arbeit liegt auf der Straße! Ihr könnt euch keinen Anzug leisten? Arbeitet doch! Die richtige Antwort auf die Frage nach seiner supponierten Arbeitslosigkeit, so Généreux, wäre diese gewesen:

Ihre Frage macht keinen Sinn. Ich laufe nicht Gefahr, arbeitslos zu werden, nach Sciences Po, der ENA, der Rothschildbank und mit dem Adressbuch eines Wirtschaftsministers.

Aber Macrons wirkliche Antwort bleibt ein Indiz der … Dummheit. Natürlich eine Dummheit höheren Grades. Généreux:

Er sagt den Arbeitslosen, was er an ihrer Stelle machen würde, aber die erwarten vom Minister, dass er sich in ihre Lage versetze.

Jeder Widerspruch löst beim Präsidenten anscheinend eine affektive Reaktion aus. Er handelt, als ob sein System 2 eher schwach ausgebildet ist (das würde auch sein Ausrasten bei Fusballspielen erklären) .Er, der über fast alles verfügt, Bildung, Reichtum, Schönheit, fast absolute Macht, fügt denen, die nichts haben, tiefe symbolische Verletzungen zu. Er nimmt ihnen das Letzte, die Würde. Und er tritt nach und verschont manchmal auch sein eigenes Land nicht:

Frankreich ist kein Reformland; unser Land reformiert sich nicht nicht. Weil unsere Landsleute sich so lange wie möglich aufbäumen, widerstehen, ausweichen, um die Reformen nicht machen zu müssen (7.9.2017. Macron hielt seine „große Rede“ in Athen, vor dem erleuchteten Hintergrund der Acropolis, dem Hort der Klugheit Athenes, während in Frankreich massive Streiks gegen seine „Reformen“ stattfanden)

Hier wird es schon grotesk. Frankreich, das Land der Revolutionen und Reformen, das mittlerweile an die Pforten einer 6. Republik klopft, ist reformfeindlich? Das ist Nonsens. Aber der Präsident kann sich wohl nicht die Frage stellen, warum diese angebliche Reformresilienz seinen eigenen neoliberalen „Reformen“ gilt. Sie sind notwendig. Er nimmt sich auch nicht als „arrogant“, sondern als „entschlossen“ wahr, wie er dem SPIEGEL am 17.10. 2017 mitteilt. Vielmehr „liebe er (sein) Land und (seine) Landsleute“ (TF1, 18.10.2017). Es gehe ihm immer um die „Wahrheit“. Die arrogante Sicherheit, eben diese zu besitzen, zeigt jedoch, dass Macron neben vielem anderen auch das Bias kognitiver Verzerrung besitzt, und zwar in reichem Maße. Aber er glaubt sich in der Pflicht, die Wahrheit sagen zu müssen, gerade wenn sie (den anderen) weh tut. Das ist wahre Größe, auch wenn man nicht immer geliebt wird. Im Unterschied zu seinen eher scheinheiligen Vorläufern Sarkozy und Hollande ist Macrons Marke die obsessive Wiederholung der neoliberalen Dogmen und der permanenten Belehrung der Bevölkerung. Die Macronie nennt dies „faire de la pédagogie“. Die Elite und ihre „Zöglinge“.

Am seinem Hofe hat Jupiter immer recht

Kann es uns beruhigen, dass Macron – wie alle Regenten dieser Welt – von hochintelligenten Beratern umgeben ist? Nicht unbedingt: in der Macronschen Interpretation der Verfassung gelten die Gesetze jener „eigentümlichen gesellschaftlichen Formation“, die Elias die „höfische Gesellschaft“ genannt hat. Und zu Hofe grassiert spätestens seit den 1990ern das „Virus neoliberalis“, eine spezifische Variante ökonomischer Dummheit. Chronisch infiziert sind nicht nur die „Princesses“ und die „Princes“, sondern auch die Finanzbourgeoisie, ihre konservativen Politiker und die „progressiven“ dynamischen Eliten. Und die bürgerlichen Medien, sowieso. Kritikern wird augenzwinkern bedeutet: „It's economy, stupid!“ Davon verstehen „wir“ nun einmal nichts. Es reicht ja auch, wenn wir konsumieren und arbeiten. Am besten immer mehr und immer länger arbeiten. Die Höflinge haben fast alle die gleichen Bildungswege. Sie repetieren die Lehrpläne der „Schulen der Macht (Sciences Po, ENA, die großen privaten Business-Schools HEC und Essec). Bourdieu und Boltanski sprechen von einer „zirkulären Zirkulation, die eine permanente Selbstbestätigung und Selbstverstärkung bewirkt“. Bei Verstößen gegen die reine Lehre droht ein Karriereknick (es sei denn, man ist ein geübter „Bullshitter“. Frequentes Coaching soll auch helfen). Jedenfalls sollten die Höflinge folgende Denkgebote auf ihrem „Autopiloten“ programmieren, und zwar im Standby-Betrieb ( Das System 2 dient dann der Selbst- und Fremdkontrolle):

Erstes Denkgebot. Die Menschen selbst, nicht die Gesellschaft, sind für ihre Situation verantwortlich. Wer unten steht, hat sich nicht angestrengt. Folglich ist nicht die Gesellschaft, sondern das Verhalten der Menschen zu ändern. Man muss sie erziehen, sie „responsabilisieren“, auch mit den Methoden der kognitiven Psychologie (z.B. mitden berühmten „Nudges“) Sie müssen mehr arbeiten, unternehmen wollen, riskobereit sein (mittlerweile auch „wehrbereit“). Und wenn sie gefehlt haben (und nicht der Oberklasse angehören), Schuldbewusstsein zeigen. Bis zur nächsten Chance. Gesellschaft ist im Grunde nur ein temporärer Vertrag zwischen rational handelnden Individuen. Rechte werden durch Pflichten ausbalanciert: Übrleben gegen Arbeit, Sozialhilfe gegen Engagement etc.

Zweites Denkgebot. TINA. Wenn es keine Gesellschaft gibt, kann die Aufgabe der Politik nur sein, einen riesigen Markt mit frei zirkulierenden Kapital und Gütern zu garantieren, auf dem die Kapitalien und Güter frei zirkulieren. Der Markt wird dann zum Naturzustand, in dem die Menschen zu konkurrierenden Wölfen werden und die Staaten zwangsläufig zu konkurrierenden Rudeln (bis zum Krieg). Das Leben ist wie eine große Börse, mit den preislichen Ups- and Downs, die auf lange Frist zum Gleichgewicht tendieren. Es ist die Ökonomie des „Als ob“. Als ob alle Menschen rational handelnde Kleinunternehmer wären (was sich im Kult um die „Startups“ wiederfindet). Also ob es keine sozialen Klassen gäbe. Als ob alle Konsumenten oder Unternehmer dieselben Reaktionen hätten. Als ob es keine Marktbeherrschung gäbe. Als ob es keine Krisen gäbe. Eine „Science-fiction-Ökonomie“, so Généreux.

Drittes Denkgebot. Wenn die neoliberale Politik bisher nicht die gewünschten Resultate zeigt, liegt das am Kompromisscharakter der Maßnahmen. Wir müssen noch radikaler werden. Zum Beispiel die Vermögenssteuer abschaffen, um Arbeitsplätze zu kreieren („Trickle-down“), den Ersten der Seilschaft schützen und nicht das Seil abschneiden (de schöpferische Unternehmer), den Profitbegriff aufwerten (Milliardäre als Vorbild), das Leistungsdenken institutionalisieren (gemäß dem Spruch des Werbegurus Jacques Séguéla : „Wer mit 50 noch keine Rolex hat, hat sein Leben vermasselt“).

Viertes Denkgebot. Der Staat muss wie ein Unternehmen geführt werden. (der mikro-ökonomische Bias) und seine Ausgaben kürzen (Schuldenbremsen). Ansonsten komme es zum „Eviction effect“: der Staat müsse also seine Einnahmen verringern, z.B. durch Steuerreduktion, um den Unternehmen höheres Kapital zu ermöglichen – und damit Arbeitsplätze zu schaffen. Die alte klassisch liberale Mär hat sich 1929 schon als Schauermärchen erwiesen. Aber die Dummheit hat die Angewohnheit, stets von neuem zu beginnen – und genau das Gegenteil zu erreichen: die Zahl der Arbeitsplätze im privaten Bereich verringert sich. Das Kapital findet halt immer bessere Jagdgründe.

Die Glaubenssätze sind schon lange falsifiziert –und was macht das? Es reicht bekanntlich, dass eine Mehrheit sie unersch n Schein der Allgemeingültigkeit zu verleihen. Sie alle sind „native Speakers“ des „Neoliberal“, so wie ihr Chef, der in einer Videobotschaft zu Beginn des Schuljahres 2020 diese kindgerechte Sprache findet: (das letzte Zitat Macrons. Versprochen):

Voilà. Dies sind die Horizonte, die sich öffnen werden, viele neue Herausforderungen, viele neue Begegnungen. Morgen beginnt das neue Schuljahr. Ich werde an euch denken.

Pessimismus ist heute progressiv

Natürlich reicht eine kognitiv-psychologische Lektüre nicht aus, um den Glauben an die Absurditäten des Neoliberalismus zu erklären. Das absolute Überzeugt-Sein, das Mitmachen, die Strategien des Sich-Anpassens in der "Misère du monde" (Bourdieu), die Akzeptanz der Alternativlosigkeit, das Manufacturing of consent, die Resignation, Verlustangst angesichts einer schwarzen Zukunft - all diese Verhaltensweisen sind das Resultat einer extrem komplexen sozialen Situation, die die Menschen formt und für die sie nichts können. Die Bias mögen erklären, warum man so viele Absurditäten erträgt oder auch ihnen widersteht. Wenn unter den Regierenden so viele "Unbedingte" wirken, sollte man ihnen keine großen Chancen geben, ihre Überzeugung in Praxis umzusetzen. Doch das Gegenteil geschieht seit Jahrzehnten. Der Kapitalismus scheint - wieder einmal - verrückt geworden zu sein. Und niemand hält ihn auf. Wie die Löwin des Sonnengotts Rê hat er nun einmal Blut geleckt.

Généreux selbst ist pessimistisch (wie der Autor dieser Zeilen). Er setzt immerhin auf die mühevolle und geduldige Erarbeitung einer "kollektiven Intelligenz":

Wenn man auf allen Feldern des sozialen Lebens die solidarische Kooperation fördern würde, wenn es dabei um die Kommunen, die Schulen, das Management, die Redaktionen der Informationsmedien, die politische Debatte etc. ginge,... würde die kollektive Intelligenz einen gewaltigen Sprung nach vorn machen.

Aber die Macronie wird dagegensetzen. Die deutsche Ampel auch. Die EU sowieso. Biden, Putin und Zelensky auch etc. etc. Sie glauben, den Geist der Zeitenwende zum Verbündeten zu haben. Vielleicht ist dieser Glaube einem kognitiven Bias geschuldet, vielleicht aber auch nur vorgeschoben, dumm ist er allemal. Vielleicht ist aber auch der Glaube an eine andere Ökonomie, eine andere partizipative Demokratie, eine andere, kollektive Intelligenz, der für nicht wenige Menschen (darunter wieder der Autor dieser Zeilen) notwendig ist, und zwar dringend, für noch mehr Menschen aber einfach... dumm. Aber das werden wir auch noch aushalten. Wir wissen: in bestimmten Situation ist der Pessimismus progressiv. Zumindest nicht dumm.

Ein besseres Jahr 2023.

1) Jacques Généreux, Quand la connerie économique prend le pouvoir. Paris 2021 (Seuil)

2) In den „Strahlungen“ (Bd. 1, Ausgabe 1988) steht wörtlich: Fahrt zum Friseur. Dort Unterhaltung über die russischen Gefangenen, die man aus den Lagern zur Arbeit schickt. „Da sollen böse Brüder drunter sein. Die fressen den Hunden das Futter weg.“ Wörtlich notiert. Jünger hielt sich nicht in Pommern, sondern in seinem Wohnort Kirchhorst in Niedersachsen auf.

Allgemein: Jean-Francois Marmion (édit.), Psychologie de la connerie, Paris 2018 (éd. Sciences humaines) u. Ders., Histoire universelle de la connerie, Paris 2019.

Robert Musil, Über die Dummheit (1937), Berlin 2002 (Alexander Verlag)

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