Unter dem Pflaster - die Geschichte. Zum 1. Mai in Paris.

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Als proletarischen Klassenkämpfer kannten wir ihn bisher noch nicht, und so meint es Nicolas Sarkozy auch nicht, wenn er zu einer Demonstration am 1. Mai aufruft. Eine "Fête du Travail" möchte er am Fuße des Eiffelturms feiern, und zwar der "vrai travail", der "echten" Arbeit, "la France qui souffre" (das leidende, malochende Frankreich) soll sich versammeln, nicht das - wie er es zu nennen pflegt - "Assistanat".

Am selben Tag wird die schon traditionelle, aber diesmal hochbrisante Demonstration des Front National vor der Statue der Jeanne d'Arc stattfinden. Auch wenn Sarkozy sich bewusst ihrer Sprache bedient, wird die sozialnationale Ikone der "Nouvelle Droite" keine Wahlempfehlung für ihn aussprechen, und sie wird den bisherigen Amtsinhaber ziemlich alt aussehen lassen.

Vergessen wir darüber nicht die große Manifestation der Gewerkschaften C.G.T. und C.F.D.T. Viele Sozialisten und Anhänger des Front de gauche werden sich ihr anschließen. Hollande und Mélenchon vor allem haben empört auf die gezielte Provokation reagiert.

Immer wieder brechen in der französischen Geschichte die klassischen Konfliktlinien auf, und zwar auf dem Straßenpflaster. "Sous le pavé l'histoire."

So war es am 6. Februar 1934. 30000 Anhänger der extremen Rechten (Action francaise, Veteranenverbände, Royalisten und Faschisten) demonstrierten gegen die angeblich korrupte Regierung Daladier (Parti radical). Ihre Motive: Antiparlamentarismus, Nationalismus und - in Teilen - Antisemitismus. Die "Erfolge" der italienischen und deutschen Nazis hatten sie ohne Zweifel beflügelt. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. 17 Tote und zahlreiche Verletzte waren die Folge. Einen Tag später trat Daladier zurück.

Die Ereignisse des 6. Februar wirkten wie ein Schock. Mittelfristig sollten sie Frankreich verändern. Die Linksparteien und ihre Organisationen mussten auf die offene faschistische Bedrohung reagieren. Auch sie mussten sich ändern. Bisher hatte die Kommunistische Partei die "Klasse-gegen-Klasse"-Strategie vertreten. Noch am 6. Februar hatte Maurice Thorez im arlament gehöhnt: Ihre Diktatur, Herr Jakobiner Daladier, ist die Diktatur gegen die Arbeiterklasse.

Die sozialistische Partei, damals noch S.F.I.O. genannt (Section Francaise de l'Internationale Ouvrière) war nun für Massendemonstrationen. Vor allem der die massenhaften Antidreyfusdemonstrationen erinnernde Parteiführer Léon Blum und die sozialistische Gewerkschaft C.G.T. setzten sich für einen Generalstreik der Arbeiterklasse ein. Auch heute noch interessant ist der Aufruf:

Junge Männer. Euch ist die Zukunft verschlossen. Und doch habt Ihr ein Recht auf das Leben...

Bauern. Die Arbeiterklasse kennt Euer Elend.

Intellektuelle und Techniker. Ihr seid zutiefst von der Krise betroffen, die Euch die Existenzmittel nimmt....

Am 1. Mai 2012 werden wir ähnliche Diskurse hören. Das "leidende Frankreich", es ist Realität.

Erst in letzter Minute und auf Druck der Kommunistischen Internationale schlossen sich die Kommunistische Partei und ihre Gewerkschaft, die C.G.T.U., dem Aufruf zum Generalstreik an.

Der Grève générale wurde am 12. Februar, einem Montag, zumindest in Paris weitgehend befolgt. Am Nachmittag kam es zu einer hochsymbolischen Demonstration. Die Sozialisten und ihre Gewerkschaft versammelten sich auf der linken Seite des Cours de Vincennes, die Kommunisten und ihre Arbeitervertretung auf der gegenüberliegenden. Die Züge marschierten parallel - in knisternder Spannung. Da ertönte - woher auch immer - der Ruf "Unité". Und die 5000o Demonstranten marschierten gemeinsam. Zufall und Geschichte.

Am 5. März 1934 veröffentlichten der Philosoph Alain (Parti radical), der Physiker Langevin (PC-nah) und der Anthropologe Paul Rivet (S.F.I.O.) den Aufruf "Aux Travailleurs":

Vereint, über alle Divergenzen hinweg, durch das Schauspiel der faschistischen Unruhen in Paris und des Volkswiderstandes, erklären wir allen Arbeitern, unseren Genossen, unsere Entschlossenheit, mit Euch gegen die faschistische Diktatur und für die Bewahrung der vom Volk errungenen öffentlichen Rechte und Freiheiten zu kämpfen...

Auf der Straße war sie begründet worden. Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis der Front populaire die Regierung übernahm. Sie sollte trotz der sozialen Errungenschaften scheitern. 1940 hieß dann die Devise: Travail, Patrie, Famille.

"Zurück" in die Gegenwart. Am 1. Mai 2012 haben wir eine andere, und doch ähnliche Situation. Die Themen, die Diskurse der dreißiger Jahre, sind weiterhin lebendig. Die Rechte und die "Neue Rechte" werden von "echter" Arbeit, Familie und Vaterland reden. Die Linke wird den Diskurs des Front populaire wieder aufnehmen.

Es geht nicht um Faschismus, aber es geht um die Bewahrung der sozialen Errungenschaften und die Verhinderung eines autoritären Regimes. Wahrscheinlich wird Hollande am 6. Mai der neue Präsident sein. Herkulische Aufgaben stehen vor ihm. Scheitert seine Wirtschafts- und vor allem Finanzpolitik, wird die Präsidentin des Jahres 2017 mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Marine Le Pen heißen.

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