Urlaub auf dem Kopfbahnhof. Tagwerk eines Stuttgartreisenden.

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Wieso eigentlich zur Blockade nach Stuttgart fahren, es ist doch nun wirklich ein ordentliches Verfahren, es gab die ‚Schlichtung’, es gibt den ‚Stresstest’ und dann kommt auch noch der ‚Volksentscheid’. Soviel ‚Demokratie’, da muss doch mal genug sein mit dem Protest gegen Stuttgart 21 (Plus?!?). Immerhin, die Bewegung habe doch schon erreicht, dass bei künftigen Großprojekten die BürgerInnen vorab beteiligt werden sollen, schlussfolgerte der sogenannte Schlichter Geissler schon kurz nach Ende der Schlichtung.

Aber noch mal von vorn. Da muss hier nämlich erstmal ein riesen Arsch voll Respekt über die widerständige Protestbewegung ‚Kein Stuttgart 21’ ausgeschüttet werden. Was da alles am Gehen ist, bleibt doch selbst der geneigten Zeitungsleserin und dem geübten Internetrechercheur verborgen. Die Mahnwache am Nordausgang des Bahnhofs ist jetzt schon über ein Jahr Tag und Nacht besetzt, die Parkwache, der Pavillon, das Camp im Park, und obendrauf fast täglich Aktionen, in unterschiedlichsten Formen bis hin zu den ständigen ungehorsamen Blockaden der Baustellenzufahrten am Nordflügel oder beim Wassermanagement. Bei Wind und Wetter schlafen die Menschen vor den Toren, stehen nachts auf, um sich noch vor der Arbeit einen Platzverweis der Polizei abzuholen, nehmen Urlaub, um bei größeren Aktionen dabei sein zu können. Und das Bemerkenswerteste ist, es sind keineswegs Linksradikale, Autonome oder Anarchisten, es sind Empörte die durchaus den Querschnitt der Bevölkerung repräsentieren, altersmäßig wie vom (gehobenen) Stuttgarter Einkommensniveau, eine bunte Vielfalt von BürgerInnen, die hier mit aktionistischem Nachdruck ‚ya basta! – es reicht!’ sagt.

Die Parkschützer, die Anstifter, die Blockadegruppe, die Kampagne „AUS! sitzen“ und viele weitere Gruppierungen sind nach wie vor täglich am rühren der stinkenden Suppe S21, allein die bürgerliche Medienlandschaft schweigt es tot. Und das waren nur die, die ich kennen gelernt habe, als ich mir einen groben Überblick verschaffen durfte.

Ich fuhr also eines lauen Sommernachmittags nach Stuttgart, um an einer etwas größeren Blockade des Wassermanagements teilzunehmen, die auf Grund der Mobilisierung einiger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ein wenig mediales Aufsehen erregen sollte. Das Ziel war, den laufenden Aktionen zivilen Ungehorsams etwas mehr Aufmerksamkeit zu kommen zu lassen und darüber hinaus Menschen zu motivieren, daran teilzunehmen. Die These: wo rationale Argumente nix zählen, wo herkömmliche Protestformen einfach ausgesessen werden, wo die Befürworter des Projekts - trotz der ausstehenden Ergebnisse von äußerst fragwürdig angelegtem Stresstest wie Volksentscheid - einfach immer weiter mit Baumaßnahmen Fakten schaffen wollen, wo also alle ‚normalen’ Mittel und Wege versagen, da hilft nur ein entschiedener Widerstand, der bewusst Regelverletzungen in Kauf nimmt.

So trafen sich um halb fünf Uhr morgens mehrere duzend AktivistInnen und ‚Prominente’ vor dem Gelände des Wassermanagements, bis zum offiziellen Arbeitsbeginn um sechs Uhr war die Zahl der Demonstrierenden auf knapp 400 angewachsen. Das Wassermanagement hatte auf Grund der angekündigten Blockade offensichtlich alle Bauarbeiten für diesen Tag abgeblasen. Ein Zeichen dafür, dass ein Baustopp so teuer, wie von den Bauträgern behauptet, kaum sein kann. Und wegen der vielen Teilnehmenden musste sogar für mehrere Stunden die Straße (teil-)gesperrt werden. Später des Morgens wurde bekannt, dass die Arbeiten am bereits abgerissenen Nordflügel fortgeführt wurden. So entschloss sich ein Teil der Gruppe auch dort die Baustellzufahrt zu blockieren, was rechtzeitig vor dem Eintreffen der LKW gelang, die den Bauschutt abholen wollten. Weil dies möglicherweise den Tatbestand der versuchten Nötigung darstellte, kesselte die Polizei, nach der Aufforderung den Platz zu verlassen, die knapp 50 sich Widersetzenden, um sie nach und nach davon zu begleiten bzw. zu tragen.

An dieser Stelle muss ich, wenn auch mit einigem Unbehagen, das Verhalten der Stuttgarter Polizei – insbesondere im Vergleich zu den Erfahrungen mit den Berliner KollegInnen – positiv würdigen. Trotz des politischen Versagens, den Konflikt nicht auf die Konfrontation von Protestierenden und Polizei hinauslaufen zu lassen, gehen die BeamtInnen dort sehr umsichtig vor. Keine weiträumigen Absperrungen im Vorfeld trotz Ankündigungen von Aktionen, keine (von mir beobachteten) Übergriffe beim Abtransport und auch nicht das übliche, komplexbehaftete Machtverhalten der Menschen in grün bzw. blau. So, jetzt langt's aber auch. Denn der wahrscheinliche Hauptgrund für den recht menschlichen Umgang ist die absolute Transparenz mit der die OrganisatorInnen der Aktionen arbeiten. Ein Vorschuss-kooperatives Verhalten gegenüber der Polizei, was in vielen anderen Städten bei solch einer Bündnisvielfalt und besonders bei solchen Aktionen nur schwer vorstellbar ist.

Nichts desto trotz, die Linie ist klar, Abschreckung und Gängelung sollen den Widerstand brechen. Eine ‚Wegtragegebühr’ von 80€ für Sitzblockierende, einmalig in der Republik. Und welche Folgen die Anzeigen wegen versuchter Nötigung nach sich ziehen, ist für mich nicht abzuschätzen. Es werden wohl kräftig Strafbefehle in die Häuser der AktivistInnen flattern. Auf Dauer bringt das eine Situation, die durch die Bewegung nicht mehr zu stemmen ist.

‚Und wieso machst du das’, wurde ich vielfach gefragt, ‚extra nach Stuttgart reisen, wenig schlafen, sich eine Anzeige abholen und am Ende noch eine Strafe bezahlen?’ Persönlich wollte ich vor allem Lernen von der dortigen Bewegung. Und dass mensch dann die Konsequenzen des sogenannten 'Rechtsstaates' in Kauf nimmt, ist gerade ein Merkmal des zivilen Ungehorsams, welches der Wichtigkeit des Anliegens Nachdruck verleiht.

Es wäre daher durchaus überlegenswert, von Seiten der Bewegung die Zuspitzung des Konflikts um das Immobilienprojekt Stuttgart 21 so voran zu treiben, indem juristisch Verfolgte Menschen sich zusammen schließen – auch wenn sich die juristischen Verfahren möglicherweise noch lange hinziehen – und jetzt schon deutlich machen:

Keinen Strafbefehl bezahlen, in den Knast gegen Stuttgart 21!

Auf Reaktionen der MitstreiterInnen aus Stuttgart warte ich gespannt und verbleibe mit dankbaren und solidarischen Grüßen sowie einem lauten:

AUS! sitzen! Schlossgarten retten! oben bleiben! Stuttgart 21 verhindern!

PS: Wer den Rechtshilfefond Kritisches Stuttgart unterstützen möchte, der Kosten für Rechtsbeistand, Gebühren und Verfahrenskosten von Menschen mit wenig Geld übernimmt, bekommt Spendenkontoinformationen unter www.kritisches-stuttgart.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Yann Döhner

nichts als kreatives gemeingut...

Yann Döhner

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