Wie wir das doch schaffen können

Flüchtlinge Wir können diese Menschen bei uns aufnehmen. Und wir müssen darüber reden, wie die Fluchtursachen beseitigt werden können, die wir mit verschulden

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"Ein Volk ist eine Geschichte. In seiner Geschichte spiegelt sich die Vieldeutigkeit seines Charakters. Die Selbstauffassung seiner Geschichte ist sein Wille zum Gegenwärtigen und zur Zukunft. Die Darstellung seines Charakters ist die Darstellung seiner Geschichte.
Diese ist als Schicksal seines Daseins politische Geschichte. Kennzeichnend für uns ist: Als Volk und als Staat sind wir nie im Ganzen eines geworden. Die Deutschen waren niemals in einem allumfassenden Staat verbunden, so wenig wie einst die Griechen. [...]
Der Name Deutschland wurde in seiner politischen Verengung infolge der sensationellen Erfolge Bismarcks merkwürdig schnell überall anerkannt. Er wurde für Kleindeutschland usurpiert ohne Österreich und ohne die seit dem Mittelalter deutschen Länder, die Schweiz und Holland. Deutsch ist aus dem geistigen, geschichtlichen, geographischen Begriff einer umfassenden unpolitischen Gemeinschaft ein politischer Begriff geworden. Dass wir diesen politischen Deutschlandbegriff wieder loswürden, wäre fürs innigste zu wünschen. Das ist schwer, da nicht nur Deutsche, sondern die Welt seit dem Bismarckstaat die für unser Selbstbewusstsein verhängnisvolle Identifizierung des Deutschen mit ihm vollzogen hat. [...]
Die Welt hat sich, mit dem amerikanischen Ausdruck, ein immage von ihm gemacht. Es trifft Realitäten, die uns vorgehalten wurden und die wir immer bedenken sollten. Aber die Deutschen überhaupt und im Ganzen sind nicht diese immages. Wir werden lange Zeit brauchen, um herauszukommen. Zwei Tatsachen sind, als ob sie gegenwärtig wären [...] Erstens: Es war, als ob im eigenen Volk aus den Untergründen ein Fremdvolk aufsteige, nicht groß an Zahl. Zweitens aber: Das Schreckliche war, dass es nicht erkannt wurde. Die überwältigende Mehrheit unseres Volkes unterwarf sich Verbrechern. Man ließ nicht nur ihre Akte zu, die Recht und Ehre vernichteten, sondern stimmte ihnen bei. Massen jubelten.
Nichts im Abendlande ist je von solcher Niedrigkeit gewesen, so ohne jeden Zug eines noch spürbaren menschlichen Adels, nie eine solche Verbindung von konsequenter Rationalität und Dummheit, von Lächerlichkeit und Entsetzen, von idealistischem Schwindel und totalem Verbrechen wie sie in Hitler und seinen Kumpanen auftrat. Das Fremdvolk ergriff die Macht und bildete den Staat zum Instrument seiner Gewaltherrschaft."

Karl Jaspers, aus dem Aufsatz "Was ist deutsch?", 1962

Vorweg sind folgende Feststellungen zu treffen. Erstens: Selbstverständlich können wir in Deutschland nicht alle Flüchtlinge aus Arabien, Afrika und "Herkunftsstaaten" anderer Welt­gegenden aufnehmen und bei uns einbürgern. Das würde selbst unter Mitwirkung aller EU-Staaten nicht klappen; denn wenn wir bedenken, dass von den Wirren und Kriegen und der daraus entstandenen Not allein in den Regionen südlich und südöstlich Europas sicherlich mindestens 100 Millionen Menschen betroffen sind, die allen Grund haben zu fliehen, dann ist schon der Gedanke an ihre Aufnahme hier als illusorisch zu bezeichnen. Zweitens: Wer meint, man könne den "Flüchtlingsstrom" aufhalten, indem man die Grenzen (die EU-Außen­grenzen oder nach und nach die Binnengrenzen) dichtmacht, der muss sich dazu beken­nen, dass er die Erteilung eines Schießbefehls und die Verlegung von Minenfeldern in seinen Maßnahmenkatalog aufnimmt. Drittens: Da es allein schon die Achtung auch nur eines Mini­mums an kultureller Errungenschaften in Europa nicht erlaubt, eine konsequente Abkapselung Europas von seinen Nachbarn zu vollziehen, womöglich unter Einsatz von Gewalt, bleibt zur Lösung des Problems ausschließlich die Verbesserung der Lebensumstände in den "Her­kunftsstaaten". Viertens: Zur Vollständigkeit der Lagebeschreibung gehört erwähnt, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in Europa in erheblichem Maße von Ressourcen abhängen, die aus dem Raum bezogen werden müssen, der zur Zeit im Chaos versinkt. Bis jetzt haben wir unsere Ressourcen bekommen, indem wir dort massiv politisch Einfluss genommen haben, mit Waffengewalt, kolonialen Strukturen und Unterstützung korrupter Eliten (Irakkriege, Sau­di Arabien). Diese Vorgehensweise funktioniert nicht mehr. Wenn wir weiter an diese Res­sourcen kommen wollen, geht das nur, wenn wir diese Situation ändern und andere Regelun­gen der Wirtschaftsbeziehung etablieren. Das heißt, allein die Einsicht in die Macht der öko­nomischen Abhängigkeiten genügt, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass Aufbauhil­fe tatsächlich eine notwendige Investition zur Sicherung der Lebensgrundlagen in Europa ist. Und fünftens: Wenn der deutschen Bevölkerung nicht sehr bald ein nachvollziehbar aussichts­reicher Lösungsvorschlag für das "Flüchtlingsproblem" vorgelegt wird, besteht die Gefahr, dass einzelne Gruppen an einen dumpfen „Wir-gegen-die“-Nationalismus appellieren. Zu Be­griffen wie die "deutsche Nation" haben viele hierzulande immer noch ein gestörtes Verhält­nis, weshalb die eingangs zitierten Anmerkungen Karl Jaspers aus dem Jahre 1962 leider höchst aktuell sind. – Dieses stets mitgedacht, soll im Folgenden skizziert werden, welche Möglichkeiten sich bieten, die Ankündigung Frau Merkels ,"wir schaffen das", auf eine reale Grundlage zu stellen.

Es bleibt zur Lösung des Problems ausschließlich die Verbesserung der Lebensumstände in den "Her­kunftsstaaten"

Was der öffentlich geführten Debatte fehlt, ist zunächst einmal anzuerkennen, dass es notwen­dig ist, große Summen Geldes aufzuwenden und möglicherweise auf einige staatliche Wohlta­ten zu verzichten. Das muss vorrangig und schleunigst ins Bewusstsein der Bevölkerung ge­langen, um überhaupt eine Diskussion darüber führen zu können, welche Art Hilfen sowohl zur Bewältigung der "Eingliederungsprobleme" der Flüchtlinge als auch für den Aufbau men­schenwürdiger Lebensbedingungen in den "Herkunftsstaaten" angebracht sind. Das bedeutet nicht, wie selbstverständlich den Abbau von Sozialleistungen heraufzubeschwören. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass seit 2008, als weltweit die Banken ihre Flügel zu stre­cken drohten, viele Billionen(!) Dollar und Euro bereitgestellt wurden, um das Finanzsystem zu "stabilisieren". Die gewaltige Transferleistung, und zwar vom Steuerzahler (größtenteils vom zukünftigen!) hin zur multinationalen Finanzindustrie und zu denen, die dort ihr Geld "angelegt" hatten, war im alltäglichen Geschäftsbetrieb kaum bemerkbar. Sie wurde von der ganz großen Mehrheit der Bevölkerung in der "Ersten Welt" anstandslos akzeptiert und ist heute bereits weitgehend in Vergessenheit geraten. Selbst der Umstand, dass für diese Unsummen Schuldscheine unterzeichnet wurden, die den kommenden Generationen zur Zahlung präsentiert werden, führte kaum zu Unbehagen, geschweige denn zu Protest.

Es gibt jedenfalls keinen Grund, ausgerechnet jetzt für die Lösung von existenziellen Problemen in unserer Nachbarschaft die nötigen finanziellen Mittel nicht bereitzustellen. Denn die "Rettung des Bankensystems" wurde der Öffentlichkeit verkauft als eine Maßnahme, ohne die eine "globale" wirtschaftliche Katastrophe nicht zu verhindern gewesen wäre, was wahrscheinlich sogar stimmte. Deshalb mussten die Steuerzahler für die Geldhäuser und deren Einleger eintreten. Genauso groß ist aber die Gefahr, dass eine fortgesetzte Vernachlässigung der Lebensumstände von Milliarden Menschen zu katastrophalen Folgen für die ganze Menschheit führen wird und dass wir Europäer dafür Mitverantwortung zu tragen haben. Die Folgen, die wir zu erwarten haben, wenn wir die Menschen in den "Herkunftsstaaten" ohne gehörige Hilfe ihrem Schicksal überlassen, werden sehr schmerzlich sein und die terroristischen Anschläge von heute weit in den Schatten stellen. – Mit dem Hinweis auf Geldmangel kann der Öffentlichkeit jedenfalls nicht erklärt werden, wir Deutschen seien mit der Bewältigung des "Flüchtlingsstroms" überfordert. Diesen Mangel gibt es nicht. Bedauerlicherweise jammern auch gemeinhin als seriös bezeichnete Journalisten über die angebliche Unmöglichkeit, mit diesem Problem fertigzuwerden – so etwa der Leiter des außenpolitischen Ressorts der "Süddeutschen Zeitung", Stefan Kornelius, der am 18. Januar 2016 bemerkte: "Alleingelassen in Europa lernt die Nation eine bittere Lektion: Sie hat ihre Kräfte überschätzt." Bitter ist, dass ein angesehener Journalist, der sich hauptamtlich mit Außenpolitik befasst, derart unreflektiert in Stimmungsmache verfällt.

Mit dem Hinweis auf Geldmangel kann der Öffentlichkeit nicht erklärt werden, wir Deutschen seien mit der Bewältigung des "Flüchtlingsstroms" überfordert

Da in der Öffentlichkeit die "Schöpfung" von Geld durch die Regierungen, ausgeführt von ih­ren Zentralbanken, gemeinhin wenig Aufmerksamkeit findet, sei hier noch einmal darauf hin­gewiesen, dass das Geld der Moderne aus dem Nichts geschaffen wird, indem Zentralbanken Kredite an Geldhäuser vergeben, und dass es vom politischen Willen abhängt, wann oder ob überhaupt dafür Zinsen und Rückzahlungen zu leisten sind. Entscheidend für die "Nachhaltig­keit" staatlicher Geldschöpfung ist die Überlegung, ob durch zusätzliche und vom zukünftigen Steuerzahler "gesicherte" Kredite Verhältnisse geschaffen werden, die eine wenn auch zeitlich sehr weit vorausliegende ordentliche Bedienung der Schulden erwarten lassen. Für die Unsummen, die dem internationalen Finanzsystem zur Verfügung gestellt wurden, nachdem die Geldjongleure ihre Einlagen im Kasino verspielt hatten – und einige wenige mit diesem Geld, das sich unter anderem wohl in den Steueroasen dieser Welt versammelt, zu den Superreichen hat werden lassen –, darf dies eher bezweifelt werden; denn zukünftige "realwirtschaftliche" Mehrerlöse müssten die Zinsen und Rückzahlungen sichern. Doch dieses Geld befindet sich nicht im realwirtschaftlichen Kreislauf. Aber: im Falle der sogenannten "Flüchtlingskrise", darf die Annahme, finanzielle Leistungen von heute könnten zukünftig ausgeglichen werden, als viel wahrscheinlicher eingeschätzt werden. Hierbei handelt es sich nämlich um Investitionen, die, wenn sie wirtschaftlich sinnvoll gestaltet werden, Zinsen abwerfen und auch die "flüssigen Mittel" schaffen, die zur Rückzahlung verwandt werden können. Das gilt sowohl für das Geld, das aufzubringen ist, um die Eingliederung von Flüchtlingen bei uns zu fördern, als auch für die Finanzhilfen, die zum Aufbau der Wirtschaft in den "Herkunftsstaaten" erforderlich werden. Denn sobald die bei uns "integrierten" dann ehemals Flüchtlinge ihren Beitrag zum Sozialprodukt und damit auch zum Steueraufkommen leisten, werden sie auf diesem Wege Zinsen zahlen und für Rückzahlungen sorgen. Ähnlich sieht die "Rechnung" bei der Aufbauleistungen in den "Herkunftsstaaten" aus: Abgesehen davon, dass die Hilfen dem Eintritt einer Katastrophe vorbeugen (wie die Zahlungen an die Finanzindustrie), wirken sie investiv, weil damit neue und wachsende Wirtschaftsräume geschaffen werden, die dort und bei uns durch den Austausch von Gütern und Dienstleistungen für ökonomischen Fortschritt sorgen (im Gegensatz zur Rettung des Finanzsystems).
In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass der quantitativ und qualitativ stärkste internationale Handelsverkehr immer zwischen wirtschaftlich hoch entwickelten Regionen stattfindet, wie beispielsweise zwischen Nordamerika und Europa – Wir haben also ein wirtschaftliches Interesse daran, dass es um uns herum wirtschaftlich hoch entwickelte Regionen gibt. Zusammenfassend muss unterstrichen werden: Geld ist in dem Augenblick ausreichend verfügbar, wo der politische Wille aufgebracht wird, dieses Geld zu "schöpfen". Und dieser politische Wille muss bei der Bevölkerung Akzeptanz finden, weshalb ihr ausführlich zu erläutern ist, wozu die Mittel eingesetzt werden.

Hierbei handelt es sich nämlich um Investitionen, die, wenn sie wirtschaftlich sinnvoll gestaltet werden, Zinsen abwerfen

Auch wenn die beiden Bereiche, die bei der Bewältigung des "Flüchtlingsproblems" zu be­achten sind, die "Behandlung" der ankommenden Flüchtlinge bei uns und die Leistung der Aufbauhilfe in den "Herkunftsstaaten", im Folgenden getrennt voneinander beschrieben wer­den, ist zu beachten, dass beide Bereiche gleichermaßen höchste Priorität genießen müssen, also tatsächlich unmittelbar und parallel in Angriff zu nehmen sind. Es wird sehr darauf ankommen, dass es recht bald gelingt, in den "Herkunftsstaaten" eine positive Stimmung zu erzeugen, die den Fundamentalisten, Terroristen und korrupten Regimen die Nahrung entzieht und die Fluchtgründe verringert. Dafür genügt es schon, dass die Menschen dort die realistische Hoffnung zurückgewinnen, sie werden in absehbarer Zukunft bessere Lebensbedingungen finden. Dass es Männer und Frauen gibt, die sich sehr wohl für die Belange ihrer Gesellschaften einsetzen und nach Freiheit und Demokratie streben, ist beispielsweise an den Aufstandsbewegungen des Arabischen Frühlings zu sehen. Nur hatten und haben sie wenig Chancen, solange ihre „Gegner“ im Sinne ausländischer Interessen gestützt werden.

1. Aufnahme und Eingliederung der Flüchtlinge

Uns Deutschen steht ein historisches Beispiel zur Verfügung: In den ersten drei Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in den vier Besatzungszonen etwa zwölf Millionen Menschen aufgenommen und in die Gesellschaft eingegliedert. Der Eingliederungsprozess war sicherlich, verglichen mit der Aufnahme der Flüchtlinge von heute, leichter umzusetzen, da die Migranten immerhin keine Sprachbarrieren überwinden mussten, jedenfalls keine be­deutenden, und es galt auch, weniger kulturelle Differenzen auszugleichen. Doch wenn man sich vorstellt, dass damals die Bewohner West- und Mitteldeutschlands mit der Beschaffung des für sie selbst Überlebensnotwendigen kaum zurechtkamen und in fast allen Großstädten mehr Ruinen als bewohnbare Häuser standen, dann ist es aus heutiger Sicht und Lebenslage nicht ganz einfach nachzuvollziehen, wie die Leute damals das schaffen konnten. Sie haben es aber geschafft! – Auf der Suche nach den Gründen für den Erfolg, der sich sehr bald als "Wirtschaftswunder" offenbarte, springen vier Bedingungen ins Auge, die für die Verhältnis­se unserer Tage nutzbar sind. Erstens: Es war der "politische Wille" der sogenannten Sieger­mächte, alle geflüchteten und ausgewiesenen Deutschen aus den Ostgebieten in den vier Be­satzungszonen wieder anzusiedeln, und zwar möglichst reibungslos. Zweitens: Es wurde für diese Aktion eine spezielle Verwaltung aufgebaut (von den Besatzungsmächten), die mit er­heblichen Kompetenzen ausgestattet war und trotz des, an heutigen Maßstäben gemessen, herrschenden Elends erstaunlich gut funktionierte. Drittens: Die Flüchtlinge wurden sofort nach einer raschen Registrierung im ganzen Land verteilt, und zwar vorwiegend in private Unterkünfte. Außerdem wurde darauf geachtet, dass möglichst selten eine Konzentration von "Zuwanderern" an einem Ort entstand. Und viertens: Auf die abweisende Haltung der "Ansäs­sigen", die natürlich zu spüren war, beschränkte die Verwaltung sich nicht aus falsch verstan­dener Sorge und Verständnis, sondern sie nutzte das Gewaltmonopol des Staates, um das Eingliederungsprogramm durchzusetzen. Abgesehen davon, dass Artikel 14 des Grundge­setzes („Eigentum verpflichtet“) uns auch heute ermöglicht, das Allgemeinwohl höher zu stel­len als das private Eigentum, können wir davon ausgehen, dass es sehr wohl Verständnis in der Bevölkerung gibt, und nicht durchgängig Menschen zwangseinquartiert werden müssen.

Sie haben es aber geschafft!

Auf unsere heutigen Verhältnisse übertragen, heißt das: Voraussetzung dafür, dass "wir das schaffen", ist zunächst einmal der Wille der Verantwortlichen, den Menschen, die zu uns flie­hen, zu helfen! Dafür müssen alle Mittel – einschließlich der Aufnahme von Kredit durch die Regierung – ausgeschöpft werden, um den Flüchtenden eine menschenwürdige Bleibe zu si­chern. Und dazu wird den Regierenden von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sogar eine Verpflichtung übertragen, weil sich alle Mitglieder der EU der Erklärung ange­schlossen haben und deren Bestimmungen zumindest im Wesentlichen in unserer Verfassung verankert sind. Wenn diese Pflicht von deutschen Politfunktionären heute relativiert wird, weil man angeblich kein Geld, kein Personal und keine passenden Unterkünfte habe, dann be­deutet das im Klartext: Die Regierenden verhalten sich verfassungswidrig. All das Jammern, "wir" seien überfordert oder "allein gelassen in Europa", ist nur der Versuch, von der eigenen Untätigkeit abzulenken. Unsere vielen Landesregierungen und die Bundesregierung konzen­trieren sich auf die "körperliche Verhinderung" von Fluchtbewegungen, und die Akteure wid­men sich weiter ihren parteitaktischen Manövern (besonders hervorstechend Herr Seehofer), während sie die Versorgung der Geflohenen zum Teil den ehrenamtlich tätigen privaten Hel­fern überlassen. Nicht einmal für die unverzügliche Registrierung der zu uns Kommenden kann gesorgt werden, und Asylanträge warten viele Monate bis sie auf den Schreibtischen der Beamten oben auf dem Stapel zur Bearbeitung angelangt sind. Wenn man dagegenhält, wie "unbürokratisch" und schnell der Finanzindustrie geholfen wurde, als die Banker wegen der befürchteten Folgen der von ihnen selbst verursachten "Finanzkrise" bettelnd an den Regie­rungspforten rüttelten, und wie über Nacht Billionen Euro "da waren", dann ist die Hilflosig­keit, die im Zuge der "Flüchtlingskrise" an den Tag gelegt wird, eigentlich nur als absichts­volle Täuschung zu verstehen, mit der angeblich, wie manche politischen Einfallspinsel be­haupten, die "Fluchtwilligen" in ihren "Herkunftsstaaten" abgeschreckt werden könnten. Man mag das nicht glauben, aber eine andere Begründung für das Verhalten des politischen Esta­blishments ist wirklich nicht vorstellbar. Ein Millionenheer von Beamten und Angestellten in den unzähligen Verwaltungen schafft das nicht? Heute stehen sogar fast unbegrenzte finanzi­elle Mittel zur Verfügung. Angeblich gut ausgebildete Leute in den Verwaltungen (teuer ge­nug sind sie jedenfalls) können eingesetzt werden. Und wir leben in einer Wohlstandsge­sellschaft, die sich eine angemessene Hilfe mühelos leisten kann. Was fehlt, es muss wieder­holt werden, ist der entschlossene Wille der Funktionäre in den Regierungen! – Wir beschäfti­gen immerhin je 17 Regierungschefs, Finanzminister, Wirtschaftsminister und Innenminister nebst Heerscharen von Zuarbeitern. Nicht zu vergessen die vielen Bürger , die sich schon jetzt engagieren und sehr ernsthaft und auch umsichtig um langfristige Lösungen bemühen.

All das Jammern, "wir" seien überfordert oder "allein gelassen in Europa", ist nur der Versuch, von der eigenen Untätigkeit abzulenken

Um die hierher Geflohenen und die, die wahrscheinlich in ähnlich großer Zahl auch in diesem Jahr noch ankommen werden, menschenwürdig unterzubringen und zu versorgen, und zwar zunächst unabhängig von ihrem "Status" – als Asylsuchende, als vom Krieg Vertriebene oder als "Wirtschaftsflüchtlinge" –, müssen alle zuständigen Verwaltungsapparate zur Zusammen­arbeit verpflichtet werden, und es müssen Beamte und im öffentlichen Dienst Angestellte so eingeteilt und notfalls auch versetzt werden, bis eine handlungsfähige Behördenorganisation steht, die den Aufgaben gewachsen ist. Sollten die geltenden beamten- und verwaltungsrecht­lichen Bestimmungen hemmend wirken, so muss hierfür (statt für gesetzliche Einschränkun­gen des Asylrechts) im "Eilverfahren" der rechtliche Rahmen geschaffen werden. Das Gleiche gilt für die Nutzung leerstehenden Wohnraums, für die Instandsetzung derzeit unbewohnbarer Immobilien sowie für den Neubau von Unterkünften: Für alle diese Bereiche müssen und können gesetzliche "Beschleuniger" eingeführt werden, die den Lähmungszustand auflösen, in dem sich unsere Behörden zu befinden scheinen. Die Agentur für Arbeit muss eine eigens für die Vermittlung von Flüchtlingen zuständige "Spezialabteilung" erhalten, die nicht nur mit der organisatorischen Arbeitsplatzvermittlung betraut wird, sondern die über ausreichend Fi­nanzmittel verfügt, um Unternehmen zu fördern, sobald sie Flüchtlinge einstellen. Denn statt den Mindestlohn für Migranten auszusetzen, ist es sehr viel angebrachter, den Unternehmen einen Zuschuss für von ihnen eingestellte Flüchtlinge zu zahlen. – Einige der Maßnahmen werden nur zeitgerecht umzusetzen sein, wenn das Widerspruchsrecht der Bürger wo nötig eingeschränkt wird. Das ist ja für eben solche Fälle, wo es um das Gemeinwohl geht, auch ge­setzlich vorgesehen. Wir müssen unsere Staatsverwaltung so handlungsfähig halten, dass sie die außergewöhnlichen Belastungen, die mit der "Flüchtlingskrise" auf uns zukommen, be­wältigen kann.

Es muss hierfür (statt für gesetzliche Einschränkun­gen des Asylrechts) im "Eilverfahren" der rechtliche Rahmen geschaffen werden

Parallel zur menschenwürdigen Unterbringung und Versorgung ist das Verfahren weiter aus­zubauen, das die Eingliederung der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft erleichtert. Dazu gehö­ren zu allererst gute Sprachkurse und Kurse, die den Einstieg in tägliche Abläufe erklären; und es muss auch Gelegenheit für Berufs- und Weiterbildung geschaffen werden. Und es sollte selbstverständlich sein, dass für alle Kinder und Jugendlichen nicht nur ein Recht auf Schulbildung besteht (Menschenrecht), sondern die Schulpflicht gilt. Dazu müssen in bestehenden Schulen Erweiterungen räumlicher und personeller Art vorgenommen, Vorbereitungs- und Sprachlernklassen eingerichtet werden. Der nur scheinbar einleuchtende Einwand, Lehrer und Ausbilder könne man nicht im Schnellverfahren "aus dem Boden stampfen", und es gebe ja schon für den normalen Schulbetrieb nicht genügend Lehrkräfte (die gibt es sicherlich, bloß wird schon seit Längerem das Thema der Bildung sträflich vernachlässig), lässt sich leicht entkräften. Zum einen sind sehr viele pensionierte Lehrer und Ausbilder noch fit genug, um in Teilzeitbeschäftigung wieder eingesetzt zu werden; und zum anderen gibt es ein Heer von Rentnern, die berufliche Qualifikationen erworben haben, womit sie als "Hilfslehrer" einen nützlichen Dienst übernehmen können. Es ist sogar wahrscheinlich, dass sich, eine angemessene Bezahlung vorausgesetzt, genügend Lehrkräfte und Ausbilder melden und auf die Einführung einer Dienstpflicht verzichtet werden kann.

Frau Merkel hat dieser Tage auf einer Parteiveranstaltung(!) ihren Zuhörern zugerufen, es müsse den Flüchtlingen klar sein, dass sie kein unbegrenztes Bleiberecht erhalten können, dass Kriegsflüchtlingen ein Bleiberecht nur für drei Jahre gewährt wird und sie in ihre Heimat zurückzukehren haben, sobald der Krieg beendet ist. Frau Merkel sprach die Flüchtlinge di­rekt an – vor 140 Parteitagsdelegierten der CDU Mecklenburg-Vorpommern, und zwar so: "Wir erwarten, dass wenn wieder Frieden in Syrien ist und wenn der IS im Irak besiegt ist, dass Ihr auch wieder, mit dem Wissen, was Ihr jetzt bei uns bekommen habt, in Eure Heimat zurückgeht." – Noch einmal zur Verdeutlichung: Vor ihr saßen 140 stramme CDU-Genossen und keine Flüchtlinge! Diese Bemerkung kann also nur als Beruhigungspille für aufgebrachte Parteimitglieder gedacht sein. Und wenn die Ansprache doch einige Flüchtlinge erreicht ha­ben sollte: Was bedeutet so ein Hinweis für jemanden, dem nach den Strapazen einer gefährli­chen Flucht gerade der Einlass in ein deutsches Erstaufnahmelager gewährt wurde? Be­schließt er dann, wieder umzukehren, weil er bei uns sowieso keine Chance für eine neue Existenzgrundlage erhält? – Frau Merkel hat ihre Drohung mit der Anmerkung verbunden, nach Beendigung der Kriege auf dem Balkan seien 70 Prozent der Geflohenen in ihre Heimat zurückgekehrt. Das, darf sie getrost unterstellen, werden Syrer, Iraker, Afghanen und Libyer auch tun. Mit der Frage, wie sich die Menschen, die hier Zuflucht fanden, nach drei oder mehr Jahren möglicherweise verhalten, sollten wir uns jetzt jedenfalls nicht befassen (die Annahme, in drei Jahren seien die Bürgerkriege im Nahen Osten beendet, setzt allerdings einen kaum nachvollziehbaren Optimismus voraus); denn wir müssen die Geflohenen zunächst so behandeln, als blieben sie bei uns! Oder wollen unsere Großkoalitionäre, weil die Aufnahme nur vorübergehend erfolgt, die Leute für einige Jahre in Internierungslager stecken? Das könnte, so meinen sie vielleicht, etwas billiger sein, zumal, wenn man einen Schritt weiter geht und Arbeitslager errichtet, wo gegen schmale Kost und karges Logis ein "nützlicher Beitrag" zum Bruttosozialprodukt erwirtschaftet würde. Es geht ihnen, das offenbaren Frau Merkel und der große Rest der Politikdarsteller im Lande immer wieder, eben nicht um ernsthafte Versuche, das Problem zu lösen, sondern es geht um "Abwehrpraktiken", die die fremdenfeindliche Stimmung im Lande nicht nur bedienen, sondern noch stärken.

Die Annahme, in drei Jahren seien die Bürgerkriege im Nahen Osten beendet, setzt allerdings einen kaum nachvollziehbaren Optimismus voraus

Zum Umgang mit den hierher Geflohenen gehört selbstverständlich auch, ihnen mit Nach­druck zu vermitteln, welches die Gesetze unserer Gesellschaft sind und dass diese einzuhalten sind. Für die überwiegende Mehrheit der Neuankömmlinge wird das ebenfalls eine Selbstver­ständlichkeit sein. Und um die beunruhigenden Ereignisse der Silvesternacht in Köln heranzu­ziehen, sei darauf hingewiesen, dass es selbstverständlich ausreichend Polizisten geben muss, die solche ja nicht einmal unerwarteten Ausschreitungen und Übergriffe einzelner junger Männer aus dem "Flüchtlingsmilieu" unterbinden und Täter dingfest machen. Wenn aber das Nichteinschreiten der Polizei damit zu erklären versucht wird, es sei weder ausreichend Perso­nal vorhanden gewesen, noch habe es genügend Einsatzfahrzeuge gegeben, dann offenbart sich ein Versagen der politisch Verantwortlichen, die, wie jeder Bürger es im alltäglichen Le­ben erfahren muss, den Polizeiapparat schon seit geraumer Zeit "kleinsparen". Die Empörung über "die Flüchtlinge" ist allerdings unangebracht. Diese Verallgemeinerung, die falsche Cha­rakterisierung der Täter, ist auch wenig hilfreich, um weitere Übergriffe und Verbrechen zu verhindern. Dafür hilft eher die Feststellung, dass es sich hier um junge Männer in einer spe­ziellen Situation handelte, die auch in unserer westlichen, abendländischen Kultur ein bekann­tes Phänomen ist. Sobald man sich in die Lage von jungen Männern versetzt, die in Turnhal­len und ähnlichen Bleiben den Tag verdösen, muss man mit einer Stimmung rechnen, die um­gangssprachlich "Lagerkoller" genannt wird und die förmlich dazu anregt, sich zusammenzu­rotten und schließlich auch die Grenze vom Blödsinn zum Verbrechen zu überschreiten. Da­gegen hilft nur dreierlei: erstens die Vermeidung von zu großen Lagern, zweitens die Be­schäftigung der Leute und drittens ausreichende Polizeipräsenz. Nicht einmal nach den Ereig­nissen in der Silvesternacht nahmen die politischen Spitzenfunktionäre dieses Problem zum Anlass für schleuniges Umdenken, sondern sie stimmten in den Chor derjenigen ein, die da­mit alle Flüchtlinge verunglimpften. Aber selbst Kriminelle genießen noch Menschenrecht und haben Anspruch auf die Verfahren des Rechtsstaats. Und selbstverständlich gehören Straftäter verfolgt und dann auch nach Recht und Gesetz vor Gericht. Die geforderten schnelleren Abschiebungen sind reine Augenwischerei und gehen am Thema vorbei. Entsprechende Regelungen gibt es schon. – Der Aufbau einsatzfähiger Polizeikräfte ist die zu fordernde Maßnahme, wodurch das dieser Tage oft berufene Sicherheitsgefühl der Bürger besser wiederhergestellt wird als mit der Befriedigung von Rachsucht. Letztlich ist die Unterbringung und Integration der Flüchtlinge eine Verwaltungsaufgabe, eine Situation, in der der Staat Ordnung herstellt und für die Infrastruktur sorgt, für alle Menschen, die hier nun mal leben.

Diese Verallgemeinerung, die falsche Cha­rakterisierung der Täter, ist auch wenig hilfreich, um weitere Übergriffe und Verbrechen zu verhindern

Bleibt der Ruf nach der Solidarität innerhalb der EU. Selbstverständlich ließe sich die Auf­nahme und Versorgung der Geflohenen deutlich leichter organisieren, zögen alle europäi­schen Staatsführungen an einem Strang. Und deshalb ist es grundsätzlich richtig, dass sich die Bundesregierung darum bemüht, möglichst viele Regierungen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Da diesen Bemühungen offenbar aber kaum Erfolg beschieden ist und der in naher Zukunft wohl auch nicht erwartet werden darf, kann die europäische Solidarität nicht als Vor­bedingung für eigenes Handeln gelten. Ganz im Gegenteil: Weil die Gefahr besteht, dass uns die ganze EU um die Ohren fliegt, wenn die vielerorts, nicht nur in England, zu beobachten­den Absetzbewegungen weiterhin Zulauf finden – gefördert von Drohungen wie etwa: wir stellen Zahlungen ein, wenn ihr nicht mitmacht –, sollten wir in dieser Frage Zurückhaltung wahren. Es wird also, und das muss hier in Deutschland zur allgemeinen Kenntnis gelangen, unvermeidlich sein, dass wir "unser Flüchtlingsproblem" zunächst einmal im Wesentlichen al­lein schultern! Die bittere Erkenntnis, dass die oft beschworene Solidarität der Europäer im Ernstfall keinen Pfifferling wert ist, müssen wir zähneknirschend hinnehmen! Aber schon die Regelungen des Dublin-Abkommens waren zutiefst unsolidarische von denen Deutschland lange „profitiert“ hat. Allerdings sollten wir der "Koalition der Unwilligen" auch klarmachen, dass die europäischen Verträge, da sie offensichtlich nicht hinreichend wirksam sind, überar­beitet werden müssen. Dafür können übrigens die Forderungen der englischen Regierung einen guten Anlass bieten. – Eines wird vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis aber umso wichtiger: Damit wir nicht doch eines Tages festzustellen haben, dass wir "unsere Kräfte überschätzen", müssen die Ursachen der Flucht bekämpft, folglich die Aufbauhilfe in den "Herkunftsstaaten" unverzüglich in Angriff genommen werden.

2. Aufbauhilfe in den "Herkunftsstaaten"

In dem Raum mit den aktuell drängendsten Problemen, in Syrien und im Irak, aber auch in Li­byen, haben die Versäumnisse der vergangenen fünf Jahre den Krieg des Assad-Regimes ge­gen sein Volk zu einem unübersichtlichen und grausamen Bürgerkrieg ausarten lassen, der es nicht gestattet, dort unmittelbar mit der Aufbauhilfe zu beginnen. Nachdem nun auch noch Russland militärisch mitmischt und offenbar die Clique um Assad zu unterstützen versucht, ist nicht einmal dann mit einer Befriedung zu rechnen, wenn der sogenannte Islamische Staat besiegt würde. Denn eine friedliche Umgebung, die es gestattet, Aufbauhilfen zu leisten, wird so lange nicht herzustellen sein, wie das Assad-Regime an der Macht bleibt und wie das soge­nannte Kurden-Problem nicht gelöst ist. Wir müssen uns mit einer unangenehmen Konse­quenz aus der verfahrenen Lage abfinden: Ohne ein militärisches Eingreifen "zu Lande und in der Luft" ist kein Ende der Wirren abzusehen. Diese Erkenntnis schließt im Übrigen die Not­wendigkeit ein, dass eine international zusammengestellte Streitmacht nicht wie im Irak nur das Regime absetzt und danach ihrer Wege zieht, sondern dass eine Besatzungsmacht instal­liert wird, die für geordnete Verhältnisse sorgt, unter denen an eine Aufbauhilfe überhaupt erst gedacht werden kann (Auch hierfür kann die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland als Beispiel dienen).

Eine friedliche Umgebung, die es gestattet wird so lange nicht herzustellen sein, wie das Assad-Regime an der Macht bleibt

Diese Streitmacht zusammenzustel­len, wird schwierig sein, weil die Interessenlage der "Kriegsparteien" und der Anrainer (be­sonders der Türkei, des Iran und Saudi-Arabiens) höchst unterschiedlich ist. Aber abzuwarten, bis die Dinge sich vielleicht doch von allein zurechtruckeln, muss als die schlechteste aller denkbaren Maßnahmen eingeschätzt werden. Deshalb wird es unumgänglich sein, dass die USA als die einzige Militärmacht, die eine vollständige militärische Überlegenheit besitzt, "federführend" eine "Koalition der Willigen" zusammenstellt. Nach den Erfahrungen des De­bakels vor 13 Jahren im Irak fällt es naturgemäß schwer, diesen Vorschlag jetzt wieder zu un­terbreiten, doch vielleicht hat die amerikanische Regierung inzwischen aus ihren Fehlern ge­lernt. Es ist zwar zu bedauern, dass vor fünf Jahren, als der Aufstand in Syrien begann, eine "Einmischung" vom "Westen" abgelehnt wurde, aber die Folgen dieses Fehlverhaltens müs­sen wir heute hinnehmen. – Während in Syrien und im Irak erst "militärische Erfolge" erzielt werden müssen, kann in anderen Regionen des Nahen Ostens und Afrikas aber direkt mit Aufbauhilfen begonnen werden. So beispielsweise in Tunesien, das ja auch zu den Maghreb­staaten gehört, die Region, aus der wohl vermutlich die Täter der Kölner Ereignisse stammen.

In anderen Regionen des Nahen Ostens und Afrikas kann aber direkt mit Aufbauhilfen begonnen werden

Doch bevor wir konkrete Schritte zur Leistung von Aufbauhilfe planen können, haben wir noch zwei wichtige Forderungen anzuerkennen. Am Anfang aller Hilfe muss das Bemühen stehen, den Menschen hier in der Wohlstandsregion klarzumachen, dass sie ihre Vorstellun­gen von den Möglichkeiten zukünftiger Lebensweise neu zu formulieren haben. Und darüber hinaus ist zu akzeptieren, dass für eine zielgerechte Kurskorrektur Geduld aufzu­bringen ist. Geduld ist leider im heute zelebrierten gesellschaftlichen Diskurs ein sehr rares Gut (wo doch eh kaum noch zugehört wird), weshalb enorme Kraftanstrengung erforderlich sein wird, um die Hürden zu überwinden, die dem Aufbringen von Geduld im Wege stehen. So ist auch einzukalkulieren, dass die geforderte Änderung gewohnter Vorstellungen bei uns höchst wahrscheinlich eine Bremswirkung auf die Maßnahmen zur Aufbauhilfe ausübt. Bevor der Hinweis auf die vielen Schwierigkeiten jedoch als Anlass zum Nichtstun missverstanden wird, ist abermals darauf zu verweisen, dass Menschen ihre Anstrengungen im Lebenskampf verstärken, sobald sie nur erkennen können, es gibt begründete Hoffnung auf Besserung.

Welche Veränderungen unserer Lebensverhältnisse haben wir also anzustreben, um der For­derung nach Selbstbestimmung und akzeptabler Existenzgrundlage der Bevölkerung in den "Herkunftsstaaten" gerecht zu werden? – Diese Frage zu beantworten, muss der Zusammen­hang zwischen den Lebensbedingungen in den reichen Regionen und denen, wo Armut herrscht, kurz skizziert werden. Es handelt sich nämlich um die Fortsetzung des Kolonialis­mus mit anderen Mitteln. Einige Beispiele mögen veranschaulichen, wie das Regelwerk der tatsächlich immer noch wirkenden kolonialen Abhängigkeit funktioniert. So spielt der bereits erwähnte Verbrauch von Rohstoffen, die in Ländern der Dritten Welt gefördert und von dort importiert werden, eine besonders wichtige Rolle. Denn unser Energieverbrauch genauso wie die Verwendung von Öl für die Herstellung von Kunststoffen, der Einsatz von Erzen und che­mischen Grundstoffen für unsere Ge- und Verbrauchsgüterindustrie sowie die Verfütterung kostengünstiger Nahrung in der Massentierhaltung "erzwingen" ein Preisniveau weit unter­halb dessen, was ein wirklich freies Spiel der Kräfte am Markt hervorbringen würde.
Des wei­teren sind wir daran gewöhnt, "billige" Produkte wie zum Beispiel Textilien aus Ländern zu besorgen, wo Kinder zu Tageslöhnen von zehn Cent Sklavenarbeit leisten müssen, damit ein "preisgünstiger" Absatz in der Ersten Welt möglich wird. Der Urlaub in den Regionen mit stets schönem Wetter kann nur "erschwinglich" angeboten und "genossen" werden, wenn der Raubbau an der Natur und die niedrigen Löhne der dort Beschäftigten die Kostenrechnung aufbessern; billiger Treibstoff für Flugzeuge gilt als Voraussetzung für internationalen Touris­mus, der fast nur den "Reichen" vorbehalten ist. Und der Schutz der Landwirtschaft in den In­dustrieländern verhindert den Import von Nahrungsmitteln aus Gegenden, wo die natürlichen Bedingungen für Agrarwirtschaft deutlich günstiger sind – also meist in den Armenvierteln der "Herkunftsstaaten". – Allgemein ausgedrückt heißt dies: Wir halten an Konsum-Gewohn­heiten fest, die zu Zeiten des Kolonialismus eingeführt wurden und die, nun zwar un­ter formal anderen Bedingungen, für eine fortdauernde Abhängigkeit in den "Kolonialgebie­ten" sorgen. Möglich ist das nur, weil wir die Eliten bestechen, mit Waffen unterstützen, die sie gegen ihre Bürger richten und internationale Handelsregelungen durchgesetzt haben, die einen freien Verkehr von Waren nicht erlauben. Folglich sind diese "schlechten Gewohnhei­ten" abzubauen, um in den Ländern der Dritten Welt die Befreiung einzuleiten.

Möglich ist das nur, weil wir die Eliten bestechen, mit Waffen unterstützen, die sie gegen ihre Bürger richten

Praktisch kann in den "Herkunftsstaaten" also erst ein Prozess des Umbaus beginnen, wenn wir unsere Lebensgrundlagen so umstellen, dass beispielsweise der Importbedarf an Primär­energieträgern bei uns drastisch sinkt. Dieser Forderung wird gewöhnlich mit dem Hinweis begegnet, eine Einschränkung des Energiebedarfs in den Industrieländern sei zumindest in nennenswertem Maße nicht durchführbar. Abgesehen von der Frage, ob die erforderliche Sparsamkeit nicht doch zu erreichen ist, kann darauf erwidert werden, dass Einschränkungen gar nicht erforderlich werden, wenn man zur Deckung des Energiebedarfs auf den Einsatz von fossilen Brennstoffen weitgehend verzichtet und gleichzeitig nach Möglichkeiten sucht, dafür Ersatz zu finden. Hier ist anzumerken, dass Windkraft, Mais, Rapsöl und ähnliche "Ersatz­stoffe" nicht die gewünschte Wende bringen. Vielmehr muss eine wirklich grundlegend neue "Energiequelle" gefunden werden. Und die buchstäblich nächstliegende, weil Quelle allen Le­bens auf unserem Planeten, ist die Sonnenenergie, die wir übrigens nicht in teuren Kern­schmelzanlagen künstlich nachahmen müssen, sondern die wir direkt nutzen können. Wenn die finanziellen Mittel, die heute für schlicht unsinnige Unternehmungen wie bemannte Raumfahrt oder Aufbau und Unterhalt gewaltiger Militärapparate eingesetzt werden, der Er­forschung zur Nutzung von Sonneneinstrahlung und deren technischer Anwendung dienten, dann könnten wir erwarten, dass auf diesem Gebiet sehr schnell Fortschritte verzeichnet wer­den. Die gesamte Biosphäre auf unserem Globus nutzt lediglich zwei Prozent der ständig auf die Erde gestrahlten Sonnenenergie und der große "Rest" wird wieder abgestrahlt. Da liegen ungeheure Reserven brach.

Einschränkungen werden nicht erforderlich, wenn man auf den Einsatz von fossilen Brennstoffen weitgehend verzichtet und gleichzeitig nach Ersatz sucht

Als ganz wichtiges Beispiel für die von uns "Reichen" vorab geforderte Initiative ist die Agrarpolitik in den Industrieländern zu bezeichnen. Die meisten "Herkunftsstaaten" liegen in Regionen, mit klimatisch ausgesprochen guten Umgebungsbedingungen, wo vor allem der Ackerbau begünstigt wird (sogar in Wüstengebieten, wie Israel demonstriert hat) und wo bei der Produktion von landwirtschaftlichen Gütern, auch unter der Bedingung "anständiger" Be­zahlung der Bauern, geringere Herstellungskosten anfallen als in den meisten Industrielän­dern. Bei uns dagegen spielt die Landwirtschaft, gemessen an der volkswirtschaft­lichen Gesamtleistung, eine geringe Rolle, wird jedoch mit gewaltigen Subventionen und der Begrenzung von Einfuhren künstlich am Leben gehalten. Dies wirkt noch unverständlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass es ja ein wesentliches Ziel der Ersten Welt ist, ihre Indus­trieprodukte zu exportieren, was wiederum voraussetzt, dass die potenziellen Abnehmer dafür zahlungskräftig genug sind. Man muss ihnen also die Chance geben, ihre eigenen Produkte dort abzusetzen, wo sie selbst Bezieher von Produkten werden sollen. Dem häufig vorgetrage­nen Einwand, die Industrieländer dürften nicht vom Import ihrer Nahrungsmittel aus Krisen­regionen abhängig werden, ist mit dem Hinweis darauf zu begegnen, dass die derzeitige Ab­hängigkeit von der Energiezufuhr aus Ländern des Vorderen Orients, Afrikas und Russlands weit gefährlicher ist und dass die Aufbauhilfe ja gerade die Krisen entschärfen soll! – Diese "Vorarbeit" muss also geleistet werden, wenn wir eine Aufbauhilfe organisieren wollen, die Aussicht auf Erfolg verspricht. Auch trotz der Dringlichkeit, die die Lösung der Probleme verlangt, darf der Zusammenhang, in dem die Prozesse sich bewegen, nicht außer Acht gelas­sen werden, denn davon hängt der Erfolg aller Hilfen maßgeblich ab.

Die derzeitige Ab­hängigkeit von der Energiezufuhr aus Ländern des Vorderen Orients, Afrikas und Russlands ist weit gefährlicher

Es gehört beispielsweise leider immer noch zu den kaum beachteten Zusammenhängen staat­lich organisierter Gesellschaft, dass wirtschaftliche Fortschritte nicht durch zentralistisch an­gelegte Programme erzielt werden, sondern durch die Eröffnung von Gelegenheiten für mög­lichst viele Menschen, sich selbst einen Raum für aktive Teilhabe am Wirtschaftsleben zu schaffen. Im Nahen Osten hat die Entwicklung in Ägypten vor mehr als 50 Jahren bereits eine gute Vorlage dafür geliefert, wie es auf keinen Fall laufen darf – erkennbar am Beispiel der Maßnahmen, die das Nasser-Regime in den Jahren 1954 bis 1970 ergriff, um das Land in eine (vorgeblich) sozialistische Zukunft zu führen. Daran lässt sich plastisch darstellen, wie mögli­cherweise gutgemeinte aber unpassende Aktionen zum Gegenteil dessen führten, was ange­strebt war. Gamal Abdel Nasser, der es der abenteuerlich irrwitzigen Suezkanal-Politik der Engländer und Franzosen zu verdanken hatte, dass er an die Macht gelangte, wollte schnell und radikal Änderungen herbeiführen, die sein Land aus mittelalterlichen Strukturen in die Neuzeit katapultieren sollten. Dass er sich dazu Hilfe aus Moskau holte, war nur aus Not ge­boren, weil der "Westen" ihn und sein Regime ablehnte; und es war nicht etwa die sozialisti­sche Ideologie, die zum Misserfolg führte, sondern der zentralistische Ansatz, alle Angelegen­heiten „von oben nach unten“ zu regeln. Zwei Bereiche verdeutlichen dies besonders ein­drucksvoll: die Bildungspolitik und die Industriepolitik. Das ägyptische Regime glaubte so­wohl im "Westen" wie im "Osten" erkannt zu haben, dass eine möglichst breit angelegte Bil­dung und die Förderung "akademischer Eliten" die Kraft für wirtschaftliche Entwicklung liefere und es deshalb erforderlich sei, möglichst schnell und möglichst vielen jungen Men­schen durch Schul- und Universitätsausbildung den Anschluss an moderne Arbeitsmethoden zu verschaffen. Ein damals einhellig als vorbildlich bezeichnetes Ausbildungssystem "erzeug­te" in kurzer Zeit viele ausgebildete junge Leute, für die es aber keine Arbeit gab und die aus sich selbst heraus keine wirtschaftliche Entwicklung in Gang bringen konnten. Denn die gleichzeitig angeschobene Industrialisierung wurde mit gigantischen Großprojekten und auf einem Niveau höchster Automatisierung vorangetrieben, wodurch zwar eine Menge "Unter­stützer" des Regimes schnell zu viel Geld kamen, aber eine breitgefächerte Beschäftigung Vieler nicht erreicht wurde. Als Folge der Konzentration auf Großprojekte wütete zudem während der vergangenen Jahrzehnte eine die Entwicklung mittelständischer Wirtschaft ver­hindernde Korruption der "Eliten" in Kairo und ihrer ausländischen Förderer, wodurch prak­tisch ausgeschlossen blieb, dass eine Politik betrieben wurde, die den Bedürfnissen der Bevöl­kerung auch nur annähernd entsprach. Das alles müssen wir im Auge behalten, wenn wir über Maßnahmen nachdenken, die eine erfolgversprechende Aufbauhilfe in den "Herkunftsstaaten" ermöglichen sollen.

Als Folge der Konzentration auf Großprojekte wütete zudem eine die Entwicklung mittelständischer Wirtschaft ver­hindernde Korruption der "Eliten"

Als sei dies noch nicht schwierig genug, haben wir obendrein eine Hürde zu überwinden, die leider auch bei uns aufgestellt ist und unheilvollen Einfluss ausübt. Denn auch wir im Europa des 21. Jahrhunderts unterliegen der Vorstellung, man könne großen Problemen nur mit großen Organisationen begegnen (Beispiel EU-Bürokratie). Dabei zeigt gerade die Geschichte der Industrialisierung in Europa exemplarisch, wie dem Prinzip "Trial and Error" (Versuch und Irrtum) folgend zunächst breitgestreut klein bis mittelständisch organisierte wirtschaftli­che Aktivitäten entstanden und erst danach Betriebsgrößen und bürokratische Strukturen wuchsen, die nun so angeschwollen sind, dass sie ein Erstarren des gesamten Systems be­fürchten lassen. Auch die heute vielfach behauptete Notwendigkeit von Ausbildung als Vor­aussetzung für wirtschaftliche Entwicklung fußt auf einem Irrtum; denn Bildung setzt das Vorhandensein wirtschaftlicher Kraft voraus, nicht umgekehrt! – Um überhaupt gesamtwirt­schaftliche Erholung anzupeilen, sind in den "Herkunftsstaaten" zunächst zwei "Notlagen" zu überwinden: die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichend Nahrung und die Schaffung von angemessenem Wohnraum. Und damit die gewaltige Arbeitslosigkeit überwunden wer­den kann, müssen alle Aufbauprogramme so angelegt sein, dass die Forderung nach Beschäf­tigung möglichst vieler Menschen erfüllt wird. Dazu anzuregen, ist Aufgabe politischer Vor­gaben. Gleichzeitig sind staatliche Investitionen in Infrastruktur vorzunehmen, und zwar schwerpunktmäßig in den Bereichen Verkehrswege, Energieversorgung und Finanzdienstleistung für Kleinunternehmer. Allerdings sind alle staatlichen Maßnahmen mit den Bedürfnissen der Bevölkerung abzugleichen, um zu verhindern, dass am Ende Straßen und Schienen in die Wüste führen. Diese Bedingungen werden nur erfüllt, wenn Planungen und Entscheidungen "von unten nach oben" durchgeführt werden, was bedeutet, erst wenn auf kommunaler Ebene ein Programm beschlossen ist, werden überregionale Angelegenheiten, und zwar darauf abgestimmt, in Angriff genommen. Hierdurch wird Fehlplanung minimiert, und es wird gewährleistet, dass die Bevölkerung an den sie betreffenden Projekten mitwirken kann. Zu den wirtschaftlichen Sektoren, die vorrangig zu entwickeln sind, gehören vor allem die kleine und mittelständische Landwirtschaft, das Handwerk, der Einzelhandel und der Tourismus. Alle "übergeordneten" Aufgaben wie Verwaltung, gesamtwirtschaftliche Koordination und Ausbildung müssen den Vorgaben "von unten" genügen und der Erfüllung der kommunalen Forderungen dienen.

Planungen und Entscheidungen müssen "von unten nach oben" durchgeführt werden

Um einen Prozess in Gang zu setzen, der dann möglichst bald sich selbstverstärkend wirken kann, bedarf es einer wichtigen Initialzündung: Es muss Kaufkraft geschaffen werden! – Des­halb sollte als erste Maßnahme, und dies flächendeckend, "Geld unter die Leute" gebracht werden, indem alle Bedürftigen (sicherlich 90 % der Bevölkerung) eine Art Startgeld erhalten (Beispiel: Einführung der D-Mark 1948) und indem ein Mindestlohn festgesetzt wird, der da­für sorgt, dass die Menschen die Bedürfnisse eines Existenzminimums vom Lohn ihrer Arbeit decken können. So wird ein wichtiger Effekt erzielt, der nämlich, dass nun Waren und Dienst­leistungen zu angemessenen Preisen verkauft werden können und ein Anreiz für unternehme­rische Aktivitäten in den Sektoren entsteht, die der Versorgung der Bevölkerung dienen. – Hier geht es nicht um das Problem, ob zunächst das Huhn oder das Ei existierte, sondern wir müssen anerkennen, dass nur dann der Lage in den "Herkunftsstaaten" Rechnung zu tragen ist, wenn als erstes Geld für Konsum zur Verfügung gestellt wird! Und die Frage, woher das Geld kommen soll, das den Menschen gegeben wird, ist erstaunlich leicht zu beantworten, in­dem wir nur daran denken, dass Geld von Regierungen, wie schon weiter oben dargestellt, "geschöpft" wird. Damit diese Methode funktioniert, ist es jedoch erforderlich, dass die lokale Währung vom Ausland streng abgeschirmt wird, und zwar so lange, bis genügend robuste Verhältnisse existieren, die einen internationalen Austausch erlauben. Und es ist eine weitere wichtige Forderung zu erfüllen: Die wirtschaftlichen Aktivitäten sollten zunächst auf den im Übrigen riesigen Bedarf im Inland beschränkt bleiben und Exporte nur gestattet werden, wenn dadurch inländischer Bedarf nicht unerfüllt bleibt und wenn für die Produzenten auskömmli­che Preise erzielbar sind. Im Gegenzug sind Importe auf das absolut Unumgängli­che zu minimieren. Der Glaubensgemeinschaft der "liberalen Marktwirtschaftler" mag dies wie eine Horrorgeschichte erscheinen. Doch wer annimmt, man könne extrem verarmte Ge­sellschaften mit den, auch bei uns in Europa bereichsweise fragwürdigen, Methoden "freier Marktwirtschaft" zu Wohlstand führen, dem ist entgegenzuhalten, dass ja seit Dekaden erfolg­los versucht wurde, nach "neoliberalen" Regeln Entwicklungshilfe zu betreiben. Man muss sogar betonen, dass es gerade die falsche Annahme war, in der "Dritten Welt" könnten die Methoden der reinen Lehre des Kapitalismus zum Fortschritt beitragen, die den nun offenba­ren Schlamassel maßgeblich verursachte! Wir müssen den Armen dieser Welt in den "Her­kunftsstaaten" zugestehen, dass sie eine geraume Zeit lang von den lichtgeschwinden Han­delsaktivitäten der "Ersten Welt" verschont bleiben, damit sie sich unter einer Sicherheitsglo­cke fortentwickeln können, bis sie "auf Augenhöhe" mit dem internationalen Geschäft und in echter Konkurrenz daran teilhaben können. Es gehört nämlich zu den Insignien eines freien Marktes, dass dessen Teilnehmer mit gleichen Chancen antreten können. – Das alles hinter­lässt möglicherweise den Eindruck, die vielen und miteinander verwobenen Zusammenhänge, die zu beachten sind, könnten zu kompliziert sein, um sie bei der erforderlichen schnellen Umsetzung zu berücksichtigen. Doch wer sich bemüht, darüber nachzudenken, wie anders eine Befreiung aus der zugegeben sehr verfahrenen Lage zu erreichen ist, der wird zu der Er­kenntnis gelangen müssen, dass wir uns, und zwar auch im wohlverstandenen eigenen Interes­se, vor dieser Aufgabe nicht drücken dürfen.

Es wurde ja seit Dekaden erfolg­los versucht, nach "neoliberalen" Regeln Entwicklungshilfe zu betreiben

Aber es gibt noch einen Grund, warum wir Deutsche uns der Aufgabe stellen müssen, warum wir dafür sorgen sollten, dass "wir das schaffen": Es besteht die Gefahr, dass mit dem Ver­weis auf die angeblich gefährdete nationale Identität Extremismus und Faschismus Einzug halten. Uns haftet eine Neigung zur Überheblichkeit an, und zwar als Folge der eigenartigen Geburt dessen, was wir heute wie selbstverständlich Deutschland oder deutsche Nation nen­nen. Dieses von Bismarck "geschmiedete" künstliche Gebilde in der Mitte Europas konnte nämlich, um möglichst sofort als Großmacht im Getümmel der existierenden Mächte mitspie­len zu können, nur "ein Volk" werden, wenn es mit "eiserner Faust" regiert, besser: drangsa­liert wurde. Dazu mussten die Methoden militaristischer Erziehung und der Pflege eines auf­geblasenen Nationalismus Hilfestellung leisten, und man musste ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den "etablierten" Nationen Europas ins Bewusstsein der Bevölkerung pflanzen und fördern. Die nach dem Ersten Weltkrieg empfundene oder zumindest als solche propagierte "Demütigung" dieses deutschen Nationalgefühls führte (trotz christlicher Werte, Abendland und Aufklärung!) zu Terror, zur Herrschaft der Nationalsozialisten, zu Verfolgung, Elend, Unrecht, Holocaust und erneut in einen verheerenden Krieg. Dieser Nationalismus ist nachweislich eher eine Krücke und kein wirksamer Bestandteil einer eigenen starken Identität, die Menschen brauchen, um mit anderen gesellschaftliches Zusammenleben friedlich zu gestalten. Er scheint sich aber gut zu eignen, um Ängste zu schüren und Nachdenken zu unterbinden – jedenfalls deuten die erschreckend nationalistischen Reaktionen auf die "Flüchtlingsströme" das an. Eine Politik aber, die ganz bewusst die Menschenrechte als zentrale Richtschnur für den Umgang mit den Herausforderungen der Zeit anerkennt und uns selbst und der Welt zeigt, dass wir aus unserer Geschichte wirklich gelernt haben, kann dazu beitragen, dass die gerade aufkommenden nationalistischen Tendenzen im Keim ersticken. Auch deshalb ist es von herausragend wichtiger Bedeutung, dass "wir das schaffen"! Karl Jaspers' Mahnung in seinem Aufsatz "Was ist deutsch?" mag als Anstoß zum "Nachdenken über Deutschland" anregen:

"Die Welt hat sich, mit dem amerikanischen Ausdruck, ein "immage" von ihm [dem Deut­schen] gemacht. Es trifft Realitäten, die uns vorgehalten wurden und die wir immer bedenken sollten. Aber die Deutschen überhaupt und im Ganzen sind nicht diese "immages". Wir wer­den lange Zeit brauchen, um herauszukommen. Zwei Tatsachen sind, als ob sie gegenwärtig wären [...] Erstens: Es war, als ob im eigenen Volk aus den Untergründen ein Fremdvolk auf­steige, nicht groß an Zahl. Zweitens aber: Das Schreckliche war, dass es nicht erkannt wur­de. Die überwältigende Mehrheit unseres Volkes unterwarf sich Verbrechern. Man ließ nicht nur ihre Akte zu, die Recht und Ehre vernichteten, sondern stimmte ihnen bei. Massen jubel­ten.
Nichts im Abendlande ist je von solcher Niedrigkeit gewesen, so ohne jeden Zug eines noch spürbaren menschlichen Adels, nie eine solche Verbindung von konsequenter Rationalität und Dummheit, von Lächerlichkeit und Entsetzen, von idealistischem Schwindel und totalem Verbrechen wie sie in Hitler und seinen Kumpanen auftrat. Das Fremdvolk ergriff die Macht und bildete den Staat zum Instrument seiner Gewaltherrschaft."

Und abschließend noch eine Frage: Wie sieht unsere Gesellschaft wohl aus, wenn wir es nicht schaffen? – Regieren uns dann die Faschisten? Besser, "wir schaffen das!"

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht im Blog zeitbremse.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

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