Victor Hugo – der erste Europäer

Der erste Europäer … als Ausdruck eines intuitiven und lyrischen Föderalismus, um die Idee des Krieges zu löschen, um die Macht der Tyrannei zu brechen, um Elend und Not zu überwinden und einen universellen Frieden zu leben.

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In seinem berühmten Traktat 'Zum ewigen Frieden' meint Immanuel Kant, ein friedliches und geeintes Europa sei nur durch republikanische Staatsformen zu erreichen. Friedrich Gentz, konservativer Chefberater Metternichs während des Wiener Kongresses, kommt in seiner Schrift 'Über den ewigen Frieden' zu vergleichbarem Ergebnis. Diesen wenig erhabenen und allzu leidenschaftslos verfassten Modellen standen fast pathetische Visionen aus Italien und Frankreich gegenüber.

Die Kriege sind einzig Kriege der Fürsten und die Qualen dieser Kriege sind einzig die Qualen der Völker, und dieses zu erkennen ist der Bestimmung gleich, die Qualen zu mindern - in diesem Sinne träumte Giuseppe Mazzini von der demokratischen Verbrüderung der Staaten Europas. Doch es war Victor Hugo, der das Reich der Utopien verlassen konnte, um einen Impuls zu formulieren, welcher nachwirken musste, die Idee der "Vereinigten Staaten von Europa" war geboren. Seiner Zeit weit voraus präsentierte er seine Ideen am 21.August 1839 beim Friedenskongess in Paris. Zum bevorstehenden Jahrestag sei eine Erinnerung erlaubt.

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Victor Hugo – der erste Europäer

«Die Geschichte des Gewissens zu schreiben, und wäre es die eines einzigen Menschen, das wäre ein wahres Epos», schreibt Victor Hugo in seinem Sozialroman «Les Misérables» von 1862. Und in der Tat ist ihm mit seinem philanthropischen Epochenwerk der Einzug in den Olymp der Weltliteratur gelungen.» Erzählt wird die Geschichte des jungen Jean Valjean, der nach 20-jähriger Galeerenstrafe den Versuch unternimmt, ein guter Mensch zu werden. Doch stehen der mentalen Gesundung alle Abgründe menschlichen Handelns im Wege, welche über alle sozialen Schichten eine Gesellschaft dominieren, die offenbar keinen guten Menschen dulden kann. Doch was wäre der Mensch, wenn er nicht versuchen würde, dieses zu ändern. Für Victor Hugo war es eine Berufung.

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Victor Hugo, der Royalist.

Victor-Marie Hugo war ein Kind Frankreichs des 19.Jhd., welches er ein ganzes Leben lang aus der Sicht eines guten Menschen erleben wollte und trotz aller geistiger, sozialer und politischer Verwerfungen dieses Jahrhunderts blieb er in diesem Sinne optimistisch in seinem Streben, diese Welt einen einzigen Schritt besser und gerechter zu machen. Konsequenter und sendungsbewusster als viele seiner Vorgänger und Zeitgenossen fühlte er die Notwendigkeit des Handelns in dieser stets widersprüchlichen Epoche, er wollte in einer Zeit ständig wechselnder Gegensätze eine Struktur finden, der er folgen konnte. Daraus erklären sich die letztlich nur vermeintlichen Inkonsequenzen seiner Biographie und seiner Werke: Sein Vater, ein hoher napoleonischer Offizier, ließ sich von seiner Mutter (einer überzeugten Royalistin) scheiden. Victor, der bei der Mutter in Paris blieb, hasste in der Gestalt Napoleons den eigenen Vater mit aller Leidenschaft und schrieb während der Restauration emphatisch monarchistische Gedichte auf die Bourbonen. Diese verklärte er zu - dem Zauberreich des Ancien Régime entstammenden - Märchenkönigen, deren Krone eben nicht 'blutig' war, wie die des korsischen Thronräubers, welchen er als egomanen Usurpator und unheilvollen Kriegsvater verstehen wollte. Nichts an Napoléon Bonarparte konnte sich in den Augen des jungen Victor Hugo mit der Reinheit und der Größe französischer Könige messen.

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Der napoleonische Victor Hugo.

So war Hugo zunächst ein Anhänger der französischen Restauration, doch sollte seine royalistische Hingabe sehr schnell schwinden, denn der klerikalen Reaktion unter dem neuen und ultraroyalistischen Bourbonenkönig Charles X. 1824 konnte Victor Hugo nur Verachtung entgegenbringen. Vergessen war das gnadenlose Blutvergießen Napoléon Bonarpartes, welches er noch immer unerbittlich gegeißelt hatte, im Gegenteil konnte er Napoléon zunehmend als revolutionär freiheitlichen Kaiser der Massen begreifen, dessen mächtige Persönlichkeit zu einer mythischen Inkarnation gesellschaftlicher Veränderung wuchs. Und dieses umso nachhaltiger, je mehr das nach der Julirevolution von 1830 etablierte Bürgerkönigtum und dessen Politik der bourgeoisen Mittelmäßigkeit eine proletarische Teilhabe ablehnte, zu der sich Napoléon - trotz aller Verfehlungen - einst verpflichtet sah. In diesen Tagen entwickelt Hugo seinen Blick für das ausweglose Elend eines Teils der Gesellschaft, welche zu mildern und zu beheben für ihn mehr und mehr zur Berufung wurde, der er nun Zeit seines Lebens folgen wird.

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Der republikanische Victor Hugo.

Als der Bürgerkönig Louis-Philippe als Nachfolger Charles X. im Juli 1830 den Thron besteigt, vertraut er dessen Proklamation: „Die Verfassung ist nunmehr Wirklichkeit (...) die Zensur kann niemals wieder eingerichtet werden.“ Victor Hugo ist längst überzeugt, dass einzig ein gewähltes Parlament und die verbindliche Verfassung des Bürgerkönigtums die Herausforderungen einer neuen Zeit beantworten und im Sinne eines immer weiter steigenden Proletariats auch Lösungen erarbeiten könnte. Doch es war eine vergebliche Hoffnung: 1832 wird sein Theaterstück „Le Roi s'amuse“ verboten, die royalen Geister sind noch nicht vertrieben.

Im Februar 1848 fegt die Revolution auch Louis-Philippe vom Thron: Frankreich wird endlich Republik. Doch auch diese ist keine soziale Republik, der Aufstand der verelendeten Pariser Arbeiter im Juni 1848 wird im Blut erstickt. Hugo beschuldigt das Parament daraufhin einer indirekten Verantwortung und lässt dies öffentlich proklamieren: „Es gibt in Paris, in diesen Vorstädten, die der Wind der Revolte einst zum Aufstand getrieben hat, Straßen, Häuser, Kloaken, wo ganze Familien (...) mit einem in der Gosse gefundenen, schmutzigen Stück Stoff auskommen müssen; wo menschliche Kreaturen sich lebendig eingraben, um der winterlichen Kälte zu entfliehen. (…) Sie, meine Herren, haben gar nichts getan, solange das Volk so leidet. (…) Und sei es nun Frage oder Antwort, sei es nun Monarchie oder Republik - das Volk leidet, und dieses ist die Tatsache“.

Seit langem arbeitete Hugo an einem Roman über dieses Elend der unteren Schichten, doch wieder muss er unterbrechen - durch den Staatsstreich Napoléon III wird Frankreich 1851 zur Monarchie. Victor Hugo ist ein erbitterter Gegner der erneuten cäsaristischen Diktatur, er musste Frankreich verlassen. Im Exil auf Guernsey schließlich vollendete er jenen Roman, der zum Epochenwerk werden sollte: „Les Misérables“.

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Victor Hugo, der Europäer

Bereits zu Beginn seiner Parlamentsarbeit hatte sich Victor Hugo mit der Vision eines vereinten Europas beschäftigt, welche er nun zwar mehr und mehr ausformulieren konnte, in seiner Entstehung aber nie konkret darstellen wollte oder konnte. Diese Zukunft Europas präsentierte Hugo als offizielle Eröffnungsrede beim Friedenkongress 1849 in Paris, welche von den anwesenden Kongressteilnehmern begeistert gefeiert wurde. Victor Hugo hatte verstanden, dass Kriege nur zu überwinden sind, wenn nationale Grenzen sinnlos werden, weil ein gemeinsames Format entstanden ist, in dem Trennendes verbunden, Vergangenes entwaffnet und Zukünftiges neu gedacht werden kann.

Doch war er seiner Zeit zu weit voraus, vom öffentlichen Frankreich unter Napoleon III wurden derartige Vorstellungen einzig mit Hohn und Spott quittiert, auch die internationalen Reaktionen waren eher zurückhaltend. Zu dominant waren die nationalkonservativen Strömungen in nahezu allen europäischen Staaten, welche in der Nachbetrachtung bereits als Vorboten dunklerer Zeiten zu erkennen waren. Dennoch gilt seine Rede heute als erster Meilenstein zu den römischen Verträgen.

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Eröffnungsrede des Friedenskongresses, 21.August 1849.

Meine Herren, viele von Ihnen kommen von den entferntesten Punkten der Erde, das Herz voll von religiösen und heiligen Gedanken; Sie zählen in Ihren Reihen Publizisten, Philosophen, Minister der christlichen Kulte, hervorragende Schriftsteller, viele von diesen bedeutenden Männern, von diesen öffentlichen und volkstümlichen Männern, die aufrechte Repräsentanten ihrer Nation sind. Sie wollten die Erklärungen dieser Versammlung überzeugter und ernster Geister, die nicht nur das Wohl eines Volkes, sondern das Wohl aller Völker wollen, auf Paris datieren.

(Beifall.)

Sie sind gekommen, um den Prinzipien, die heute die Staatsmänner, die Regierenden und die Gesetzgeber leiten, ein höheres Prinzip hinzuzufügen. Sie kommen, um das letzte und erhabenste Blatt des Evangeliums aufzuschlagen, das den Kindern desselben Gottes Frieden auferlegt, und in diese Stadt, die bisher nur die Brüderlichkeit der Bürger verordnet hat, kommen Sie, um die Brüderlichkeit der Menschen zu verkünden.

Seien Sie herzlich willkommen!

Angesichts eines solchen Gedankens und einer solchen Tat kann es keinen Platz für ein persönliches Dankeschön geben. Erlauben Sie mir daher, in den ersten Worten, die ich vor Ihnen spreche, meinen Blick über mich selbst zu erheben und die große Ehre, die Sie mir soeben verliehen haben, gewissermaßen zu vergessen, um nur der großen Idee zu folgen, die Sie mit Leben füllen wollen.

Meine Herren, ist dieser erhabene Gedanke, der Weltfrieden, alle Nationen durch ein gemeinsames Band miteinander verbunden, das Evangelium als oberstes Gesetz, die Vermittlung anstelle des Krieges - ist dieser erhabene Gedanke ein praktischer Gedanke? Ist diese heilige Idee eine realisierbare Idee? Viele positive Geister, wie man heute spricht, viele erfahrene Politiker, wie man sagt, in der Handhabung der Geschäfte, antworten: Nein. Ich aber antworte mit Ihnen, ich antworte, ohne zu zögern, ich antworte: Ja! und ich werde versuchen, es nachher zu begründen.

Und ich gehe noch weiter; ich sage nicht nur: Es ist ein erreichbares Ziel, ich sage: Es ist ein unvermeidliches Ziel; man kann sein Eintreten verzögern oder beschleunigen, das ist alles. Das Gesetz der Welt ist nicht und kann nicht vom Gesetz Gottes unterschieden werden. Das Gesetz Gottes ist nicht der Krieg, sondern der Frieden. Die Menschen haben mit dem Kampf begonnen, so wie die Schöpfung mit dem Chaos. Woher kommen sie? Aus dem Krieg; das ist offensichtlich. Aber wohin gehen sie? Zum Frieden; das ist nicht weniger offensichtlich.

Wenn Sie diese hohen Wahrheiten behaupten, ist es ganz einfach, dass Ihre Behauptung auf Ablehnung stößt; es ist ganz einfach, dass Ihr Glaube auf Unglauben stößt; es ist ganz einfach, dass in dieser Stunde unserer Unruhe und unserer Zerrissenheit die Idee des Weltfriedens überrascht und schockiert, fast wie die Erscheinung des Unmöglichen und des Ideals; es ist ganz einfach, dass man Utopie schreit; und was mich betrifft, als bescheidenen und obskuren Arbeiter in diesem großen Werk des neunzehnten Jahrhunderts, so akzeptiere ich diesen Widerstand der Geister, ohne dass er mich erstaunt oder entmutigt. Ist es möglich, dass Sie nicht dafür sorgen, dass sich die Köpfe abwenden und die Augen in einer Art von Blendung schließen, wenn Sie inmitten der Dunkelheit, die noch auf uns lastet, plötzlich die strahlende Tür zur Zukunft öffnen?

(Beifall.)

Meine Herren, wenn jemand vor vier Jahrhunderten, als es noch Krieg von Gemeinde zu Gemeinde, von Stadt zu Stadt, von Provinz zu Provinz gab, wenn jemand zu Lothringen, der Picardie, der Normandie, der Bretagne, der Auvergne, der Provence, der Dauphiné, dem Burgund gesagt hätte: Es wird der Tag kommen, an dem ihr nicht mehr gegeneinander Krieg führt, es wird der Tag kommen, an dem ihr nicht mehr Waffenknechte gegeneinander aufstellt, es wird der Tag kommen, an dem man nicht mehr sagen wird: Die Normannen haben die Picarden angegriffen, die Lothringer haben die Burgunder zurückgeschlagen. Ihr werdet zwar noch Streitigkeiten zu schlichten, Interessen zu erörtern und Anfechtungen zu lösen haben, aber wisst ihr, was ihr an die Stelle der Waffenknechte setzen werdet? Wisst ihr, was ihr an die Stelle von Fuß- und Reitervolk, Kanonen, Sicheln, Lanzen, Spießen und Schwertern setzen werdet? Ihr werdet ein kleines Kästchen aus Tannenholz aufstellen, das ihr die Wahlurne nennt, und aus diesem Kästchen wird, was? eine Versammlung hervorgehen, in der ihr euch alle lebendig fühlt, eine Versammlung, die wie euer aller Seele sein wird, ein souveränes und volkstümliches Konzil, das entscheidet, das urteilt, das alles in Gesetzen auflöst, das das Schwert aus allen Händen fallen und die Gerechtigkeit in allen Herzen aufkommen lässt, das zu jedem sagt: Hier endet dein Recht, hier beginnt deine Pflicht. Legt die Waffen nieder! Lebt in Frieden!

(Beifall.)

Und an diesem Tag werdet ihr gemeinsame Gedanken, gemeinsame Interessen, ein gemeinsames Schicksal spüren; ihr werdet euch umarmen, ihr werdet euch als Söhne des gleichen Blutes und der gleichen Rasse erkennen; an diesem Tag werdet ihr nicht mehr feindliche Völker sein, sondern ein Volk; ihr werdet nicht mehr Burgund, die Normandie, die Bretagne, die Provence sein, sondern Frankreich. Ihr werdet euch nicht mehr Krieg nennen, ihr werdet euch Zivilisation nennen!

Wenn das damals jemand gesagt hätte, meine Herren, hätten alle positiven Menschen, alle ernsthaften Menschen, alle großen Politiker von damals ausgerufen: "Oh! der Träumer! Oh, der Träumer! Wie wenig kennt dieser Mann die Menschheit! Was für eine seltsame Torheit und ein absurdes Hirngespinst!". - Meine Herren, die Zeit ist weitergegangen, und dieses Hirngespinst ist die Realität. Und ich betone: Der Mann, der diese erhabene Prophezeiung gemacht hätte, wäre von den Weisen für verrückt erklärt worden, weil er die Absichten Gottes erahnt hatte!

Nun, Sie sagen heute, und ich gehöre zu denen, die mit Ihnen sagen, wir alle, die wir hier stehen, wir sagen Frankreich, England, Deutschland, Spanien, Italien, Russland - wir sagen ihnen:

Es wird der Tag kommen, an dem auch Ihnen die Waffen aus der Hand fallen werden! Es wird ein Tag kommen, an dem der Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin so absurd und so unmöglich sein wird, wie er heute zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia unmöglich wäre und absurd erscheinen würde. Es wird der Tag kommen, an dem Frankreich, ihr Russland, ihr Italien, ihr England, ihr Deutschland, ihr alle Nationen des Kontinents, ohne eure unterschiedlichen Eigenschaften und eure ruhmreiche Individualität zu verlieren, eng mit einer höheren Einheit verschmelzen und die europäische Bruderschaft bilden werdet, genau so, wie die Normandie, die Bretagne, Burgund, Lothringen, das Elsass, alle unsere Provinzen, mit Frankreich verschmolzen sind. Es wird der Tag kommen, an dem es keine anderen Schlachtfelder mehr geben wird als die Märkte, die sich dem Handel öffnen, und die Köpfe, die sich den Ideen öffnen. - Eines Tages wird der Tag kommen, an dem Kugeln und Bomben durch Abstimmungen ersetzt werden, durch das allgemeine Wahlrecht der Völker, durch den ehrwürdigen Schiedsspruch eines großen souveränen Senats, der für Europa das sein wird, was das Parlament für England ist, was der Reichstag für Deutschland ist, was die gesetzgebende Versammlung für Frankreich ist!

(Beifall.)

Es wird der Tag kommen, an dem man eine Kanone in Museen zeigt, wie man heute ein Folterinstrument zeigt, und sich wundert, dass es so gewesen sein könnte! (Lachen und Bravos. ) Es wird ein Tag kommen, an dem man diese beiden riesigen Gruppen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa (Beifall), einander gegenüberstehen sehen wird, wie sie sich über die Meere hinweg die Hand reichen, ihre Produkte, ihren Handel, ihre Industrie, ihre Künste und ihre Genies austauschen, den Globus urbar machen, die Wüsten besiedeln, die Schöpfung unter den Augen des Schöpfers verbessern und diese beiden unendlichen Kräfte, die Brüderlichkeit der Menschen und die Macht Gottes, miteinander verbinden, um daraus das Wohlergehen aller zu schöpfen!

(Langer Applaus.)

Und dieser Tag wird nicht vierhundert Jahre brauchen, um ihn herbeizuführen, denn wir leben in einer schnellen Zeit, wir leben in der stürmischsten Strömung von Ereignissen und Ideen, die je die Völker bewegt hat, und in der Zeit, in der wir uns befinden, ist ein Jahr manchmal das Werk eines Jahrhunderts.

Und Franzosen, Engländer, Deutsche, Russen, Slawen, Europäer, Amerikaner - was haben wir zu tun, um diesen großen Tag so bald wie möglich zu erreichen? Um und zu umarmen?

(Großer Applaus.)

Bei diesem gewaltigen Werk der Befriedung ist das die beste Art, Gott zu helfen! Denn Gott will dieses erhabene Ziel! Und sehen Sie, was er auf allen Seiten tut, um es zu erreichen! Sehen Sie, wie viele Entdeckungen er dem menschlichen Genie entlockt, die alle auf dieses Ziel, den Frieden, hinauslaufen! Wie viele Fortschritte, wie viele Vereinfachungen! Wie die Natur sich immer mehr vom Menschen zähmen lässt! Wie die Materie immer mehr zum Sklaven der Intelligenz und zur Dienerin der Zivilisation wird! Wie die Ursachen des Krieges mit den Ursachen des Leidens verschwinden! Wie ferne Völker sich berühren! Wie die Entfernungen sich annähern! Und die Annäherung ist der Beginn der Brüderlichkeit! Dank der Eisenbahnen wird Europa bald nicht mehr größer sein als Frankreich im Mittelalter! Dank der Dampfschiffe überquert man heute den Ozean leichter als früher das Mittelmeer! In Kürze wird der Mensch die Erde so durchwandern, wie Homers Götter den Himmel durchwanderten, nämlich mit drei Schritten. Noch ein paar Jahre, und der elektrische Draht der Eintracht wird den Globus umschließen und die Welt umarmen.

(Beifall.)

Hier, meine Herren, wenn ich diesen riesigen Komplex, dieses breite Zusammenspiel von Anstrengungen und Ereignissen, die alle mit dem Finger Gottes gekennzeichnet sind, vertiefe; wenn ich an dieses großartige Ziel denke, das Wohlergehen der Menschen, den Frieden: wenn ich bedenke, was die Vorsehung für und was die Politik gegen sie tut, tritt eine schmerzhafte Überlegung vor meinen Geist.

Aus Statistiken und verglichenen Budgets geht hervor, dass die europäischen Nationen jedes Jahr für den Unterhalt ihrer Armeen eine Summe ausgeben, die nicht weniger als zwei Milliarden beträgt und die sich, wenn man den Unterhalt des Materials der Kriegsanstalten hinzurechnet, auf drei Milliarden beläuft. Fügen Sie noch den verlorenen Ertrag der Arbeitstage von mehr als zwei Millionen Männern hinzu, den gesündesten, kräftigsten, jüngsten, der Elite der Bevölkerung, einen Ertrag, den Sie nicht unter einer Milliarde ansetzen können, und Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die stehenden Heere Europa jährlich vier Milliarden kosten. Meine Herren, der Frieden hat gerade zweiunddreißig Jahre gedauert, und in diesen zweiunddreißig Jahren wurde die ungeheuerliche Summe von einhundertachtundzwanzig Milliarden während des Friedens für den Krieg ausgegeben!

Angenommen, die Völker Europas hätten sich geliebt, anstatt einander zu misstrauen, zu neiden und zu hassen: Angenommen, sie hätten sich gesagt, dass man Mensch ist, bevor man Franzose, Engländer oder Deutscher ist, und dass, wenn die Nationen Vaterländer sind, die Menschheit eine Familie ist; und nun, diese Summe von hundertachtundzwanzig Milliarden, die so töricht und so vergeblich durch Misstrauen ausgegeben wurde, lassen Sie sie durch Vertrauen ausgeben! Diese einhundertachtundzwanzig Milliarden, die dem Hass gegeben wurden, geben Sie der Harmonie! Diese hundertachtundzwanzig Milliarden, die dem Krieg gegeben wurden, gebt sie dem Frieden!

(Beifall.)

Geben Sie sie der Arbeit, der Intelligenz, der Industrie, dem Handel, der Schifffahrt, der Landwirtschaft, den Wissenschaften und den Künsten, und stellen Sie sich das Ergebnis vor. Wenn in den letzten 32 Jahren diese gigantische Summe von 128 Milliarden auf diese Weise ausgegeben worden wäre, wobei Amerika seinerseits Europa geholfen hätte, wissen Sie, was dann passiert wäre? Das Gesicht der Welt wäre verändert! Isthmen würden durchschnitten, Flüsse gegraben, Berge durchbrochen, Eisenbahnen würden beide Kontinente durchziehen, die Handelsmarine der Welt hätte sich verhundertfacht, und es gäbe nirgendwo mehr Heide, Brachland oder Sümpfe; Man würde Städte bauen, wo es noch nichts als Klippen gibt; Asien würde der Zivilisation zurückgegeben, Afrika dem Menschen; Reichtum würde unter der Arbeit aller Menschen aus allen Adern des Erdballs hervorsprudeln, und das Elend würde sich in Luft auflösen! Und wissen Sie, was mit dem Elend verschwinden würde? Die Revolutionen. (Anhaltende Bravos.) Ja, das Gesicht der Welt würde sich verändern! Anstatt sich gegenseitig zu zerfleischen, würde man sich friedlich über das Universum verteilen! Statt Revolutionen zu machen, würden wir Kolonien gründen! Anstatt der Zivilisation die Barbarei zu bringen, würde man der Barbarei die Zivilisation bringen!

(Neuer Applaus.)

Sehen Sie, meine Herren, in welche Blindheit die Sorge um den Krieg die Nationen und die Regierenden wirft: wenn die hundertachtundzwanzig Milliarden, die von Europa seit zweiunddreißig Jahren für den Krieg, den es nicht gab, gespendet wurden, für den Frieden gespendet worden wären, der existierte, sagen wir es, und sagen wir es laut, dann hätte man in Europa nichts von dem gesehen, was man dort im Moment sieht; der Kontinent wäre statt eines Schlachtfeldes eine Werkstatt, und statt dieses schmerzhaften und schrecklichen Anblicks - das niedergeschlagene Piemont, Rom, die ewige Stadt, den elenden Schwingungen der menschlichen Politik ausgeliefert, Ungarn und Venedig, die sich heldenhaft wehren, das unruhige, verarmte und düstere Frankreich ; Elend, Trauer, Bürgerkrieg, Dunkelheit über die Zukunft; statt dieses unheimlichen Schauspiels hätten wir Hoffnung, Freude, Wohlwollen, das Streben aller nach gemeinsamem Wohlergehen vor Augen und sähen überall den majestätischen Glanz der universellen Eintracht aus der in Arbeit befindlichen Zivilisation hervorgehen.

(Bravo! Bravo! - Applaus.)

Es sind unsere Vorsichtsmaßnahmen gegen den Krieg, die zu den Revolutionen geführt haben. Wir haben alles getan, wir haben alles ausgegeben gegen die eingebildete Gefahr! Man hat dadurch das Elend verschlimmert, das die wirkliche Gefahr war! Man hat sich gegen eine chimärische Gefahr gestärkt; man hat die Kriege gesehen, die nicht kamen, und man hat die Revolutionen nicht gesehen, die kamen.

(Langer Applaus.)

Meine Herren, lassen Sie uns nicht verzweifeln. Im Gegenteil, hoffen wir mehr denn je! Lassen wir uns nicht von momentanen Erschütterungen erschrecken, die vielleicht notwendige Erschütterungen großer Geburten sind. Seien wir nicht ungerecht gegenüber der Zeit, in der wir leben, und sehen wir unsere Epoche nicht anders, als sie ist. Es ist schließlich eine wunderbare und bewundernswerte Zeit, und das neunzehnte Jahrhundert wird, sagen wir es mit Nachdruck, die größte Seite der Geschichte sein. Wie ich Sie vorhin erinnerte, werden hier alle Fortschritte gleichzeitig offenbart und manifestiert, wobei einer den anderen nach sich zieht: Fall der internationalen Animositäten, Verschwinden der Grenzen auf der Landkarte und der Vorurteile in den Herzen, Tendenz zur Einheit, Milderung der Sitten, Hebung des Bildungsniveaus und Senkung des Strafniveaus, Vorherrschaft der literarischsten, d. h. menschlichsten Sprachen ; alles bewegt sich gleichzeitig, politische Wirtschaft, Wissenschaft, Industrie, Philosophie, Gesetzgebung, und konvergiert zu demselben Ziel, der Schaffung von Wohlstand und Wohlwollen, d.h., und das ist meinerseits das Ziel, das ich immer anstreben werde, die Auslöschung des Elends im Inneren, die Auslöschung des Krieges im Äußeren.

(Beifall.)

Ja, ich sage es zum Schluss, das Zeitalter der Revolutionen schließt sich, das Zeitalter der Verbesserungen beginnt. Die Vervollkommnung der Völker verlässt die gewalttätige Form und nimmt die friedliche Form an; die Zeit ist gekommen, in der die Vorsehung die ungeordnete Tätigkeit der Agitatoren durch die religiöse und ruhige Tätigkeit der Friedensstifter ersetzen wird.

Von nun an ist das Ziel der großen Politik, der wahren Politik, folgendes: alle Nationalitäten anerkennen zu lassen, die historische Einheit der Völker wiederherzustellen und diese Einheit durch Frieden an die Zivilisation zu binden, die zivilisierte Gruppe ständig zu erweitern, den noch barbarischen Völkern ein gutes Beispiel zu geben, Schiedsgerichte an die Stelle von Schlachten zu setzen; schließlich, und das fasst alles zusammen, das letzte Wort, das die alte Welt durch Gewalt aussprechen ließ, durch die Gerechtigkeit aussprechen zu lassen..

Meine Herren, ich sage es zum Schluss, und dieser Gedanke möge uns ermutigen, dass das Menschengeschlecht nicht erst seit heute auf diesem von der Vorsehung gewollten Weg wandelt. In unserem alten Europa hat England den ersten Schritt getan und durch sein jahrhundertealtes Beispiel den Völkern gesagt: Ihr seid frei. Frankreich hat den zweiten Schritt getan, und es hat den Völkern gesagt: Ihr seid souverän. Nun lasst uns den dritten Schritt tun, und alle zusammen, Frankreich, England, Deutschland, Italien, Russland, Europa, lasst uns den Völkern sagen: Ihr seid Brüder!"

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https://www.taurillon.org/Victor-Hugo-au-Congres-de-la-Paix-de-1849-son-discours,02448?lang=fr (franz. Original)

https://www.nzz.ch/article7YPTW-ld.196152?reduced=true

https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2014-05/europa-gemeinschaft-geschichte

https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Hugo

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Geschrieben von

Zerberus

Europa ist keine Idee, sondern eine Notwendigkeit

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