Womöglich lohnt ein Blick zurück, was genau war der Staatsbesuch Xi Jinpings bei Wladimir Putin vergangenen März in Moskau? Für den Gastgeber im Kreml kam der Gipfel sehr gelegen: Der IStGH hatte Putin gerade zur Fahndung ausgeschrieben, da galt es Flagge zu zeigen und gegenzusteuern. Und mit chinesischen Gästen konnte der russische Präsident seinem Volk und der Weltöffentlichkeit zeigen, was ein Haftbefehl für ihn bedeutet, nämlich nichts.. Vielmehr empfing Putin seinen «teuren Freund» Xi Jinping. Beide betonten ihre scheinbar einstimmige Weltsicht und feierten die neue Eintracht beider Völker. Doch jenseits der Kameras ist das Ergebnis für Putin eher übersichtlich: Pekings Führung zeigt sich im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg durchaus loyal, auch legt XI Jinping offenbar Wert darauf, sich an der Heimatfront als neutraler Vermittler feiern zu lassen, und nicht nur dort. Dennoch zeigt sich in diesem medialen Theaterstück die wachsende Asymmetrie zwischen China und Russland, diese offenbart sich leise und schleichend, aber erkennbar. Im Papier über die Vertiefung der ökonomischen und gesellschaftlichen Partnerschaft taucht die Formel «Freundschaft ohne Grenzen» jetzt nicht mehr auf. Immerhin erstaunlich, wurde dieses Pathos doch mal als einzig sinnstiftende Perspektive gehuldigt und gefeiert.
Die grenzenlose Freundschaft
Gleichermaßen wenig Beachtung wurde der Pipeline «Kraft Sibiriens 2» geschenkt. Mehr noch, das Leuchtturm-Projekt Putins, welches als Ersatz für ausbleibende Devisen aus Europa von zentraler Bedeutung für Russland sein muss, wurde überhaupt nicht erwähnt. Aus chinesischer Sicht nachvollziehbar, da ist Eile nicht erforderlich, denn ohne den lästigen Konkurrenten Europa kann sich Peking nun auf einer denkbar bequemen Verhandlungsposition ausruhen. Ausruhen und abwarten, jeder Kriegstag schwächt Russland und jeder Kriegstag senkt den Preis.
Und gab es in Moskau immer wieder warnende Stimmen, man möge sich nicht in eine Abhängigkeit zu Peking bewegen, so sind diese Mahnungen inzwischen verstummt. Denn ein knappes Drittel der russischen Ausfuhren führt bereits Richtung China und füllt die Staatskasse des Kremls, im Gegenzug liefert China das, was China liefern möchte. Aber womöglich folgt Peking damit lediglich der Idee, seinen wachsenden ökonomischen Einfluss auf Russland auszubauen, auf den ersten Blick sicher in beidseitigem Interesse. Doch irgendwann wird der Krieg enden, irgendwann wird Kassensturz sein müssen in Moskau, dann wird der politische Kriegszins auf dem Tisch liegen. Spätestens dann, wenn Xi Jinping verbindlich lächelnd politische Zugeständnisse erwarten wird - China hat großes Interesse an einer eigenen Präsenz in der Arktis, auch eine gesicherte Verbindung zur Ukraine ist von Bedeutung. Ja und dann wäre da natürlich noch das Kleingedruckte, unwesentliche Details eben.
So lässt die am 6. Februar 2023 erlassene Vorschrift zur «Darstellung kartografischer Inhalte» der Volksrepublik China aufhorchen, nach der zukünftig bei topografischen Bezeichnungen im Fernen Osten Russlands neben den russischen Namen in Klammern auch die historisch chinesischen Namen verzeichnet werden müssen. Demnach muss Russlands Pazifikmetropole Wladiwostok auf chinesischen Landkarten nun auch wieder Haishenwai heißen, die Insel Sachalin Kuyedao, das Stanowoi-Gebirge Äusseres Xing’an-Gebirge – so, als wolle Peking Moskau gegenüber historische Gerechtigkeit herstellen.
Denn das russische Reich hatte China gedemütigt, als es Mitte des 19. Jahrhunderts den dem Kaiserreich abgerungenen Vorposten am Pazifik auf den Namen «Wladiwostok» («Beherrsche den Osten») taufen liess. XI JInping bezieht sich dabei auf das 'Übereinkommen von Nertschinsk' von 1689 als einzig legitimen Grenzvertrag und sieht in späteren Verträgen eine 'Ungleichbehandlung. Eine solche Sichtweise sollte Putin sicher nicht fremd sein, ob er sie allerdings gleichermaßen überzeugend findet, das mag mal dahingestellt sein.
Vergangenheit oder Zukunft
Aber an historische Grenzstreitigkeiten haben beide Seiten derzeit kein Interesse, daran lässt auch XI Jinping glaubwürdig keine Zweifel. Oder eben, es eilt nicht. Denn China ist bereits in genug Gebietsstreitigkeiten verwickelt, etwa im Südchinesischen Meer, wo sich China mit anderen Staaten der Region um einige Inseln und Atolle streitet, im Niemandsland des Himalaya kann man mit Indien partout keine gemeinsame Grenze finden. Vielleicht hofft man in Peking ja auch darauf, dass sich 'historische Unschärfen' mit Russland irgendwann von ganz alleine lösen. Nicht, weil Moskau die umstrittenen Gebiete eines Tages an China zurückgeben wird – sondern weil geschäftstüchtige Chinesen schon längst Fakten schaffen. Chinas Staatsunternehmen bauen Eisenbahnlinien und Straßen in Russlands Osten oder pachten in Ostsibirien Hunderttausende Hektar Land, um Getreide und Sojabohnen für die Bevölkerung jenseits der Grenze anzubauen.
Und während in Hiroshima die G7 tagt, findet in der alten Kaiserstadt Xi’an das erste Treffen der zentralasiatischen Staaten Kazakhstan, Kyrgyzstan, Turkmenistan, Tajikistan und Uzbekistan mit China statt. Russland wurde nicht geladen. Denn diese ehemaligen Sowjetrepubliken wenden sich mehr und mehr von Russland ab und mehr und mehr China zu. Nicht nur die Stadt Xi’an, der ursprüngliche Startpunkt der alten Seidenstraße, sondern auch der Versammlungsort Tang Paradise wurde mit Bedacht und hoher Symbolkraft ausgewählt. Der Tang-Paradise-Komplex ist Teil der ursprünglichen kaiserlichen Gärten. Es ist ein weiteres Indiz, wie China aus der Schwächung Russlands Fakten schafft.
Die NZZ schreibt dazu; "Gewiss trachtet China momentan nicht nach einer militärischen Revision seiner Grenzen zum nördlichen Nachbarn – so wie Russland derzeit seine «heiligen Grenzen» gewaltsam weit in die Ukraine hinein vorzuschieben versucht. Pekings Methoden sind subtiler. Sie kommen in Form von Ministerialverordnungen daher. Sie zeigen: Pekings Nomenklatur hat Russlands historische Demütigungen nicht vergessen.
Wenig hilfreich in diesem Zusammenhang erscheinen dabei die von chinesischen Kolumnisten geposteten Beiträge über die Territorialverluste Chinas seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Phantomschmerzen lindern sie mit einer Litanei über den Raub von anderthalb Millionen Quadratkilometern Staatsgebiet durch das Russische Reich, einschliesslich der heutigen russischen Fernostregion, der Mongolei und einiger Gebiete im heutigen Kirgistan und Kasachstan. Dass derartige Beiträge auch in Zeiten «grenzenloser Freundschaft» zwischen Peking und Moskau unter den wachsamen Augen der chinesischen Internetpolizei veröffentlicht und geteilt werden dürfen, lässt ebenso aufhorchen wie der toponymische Patriotismus einer Ministerialverordnung über die Gestaltung chinesische Karten."
Und selbstverständlich kann dieser Bericht nur ein Blitzlicht sein. Aber dennoch - womöglich ist die Zukunft noch ungeschriebener, als auf den ersten Blick zu vermuten.
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https://www.nzz.ch/feuilleton/chinas-und-russlands-grenzenlose-freundschaft-hat-grenzen-ld.1732350
https://finanzmarktwelt.de/wie-china-das-schwache-russland-ausnutzt-271211/
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