Eine absehbare Katastrophe

Leseprobe Die Ursache von COVID-19 sieht Autor Rob Wallace in weltweit schwindender Biodiversität und Landübernutzung. Kurz: im herrschenden kapitalistischen Nahrungsregime. Und solange der ökologische Raubbau anhält, werden Epidemien außer Kontrolle geraten
Goldmine in Agbaou, Elfenbeinküste.
Goldmine in Agbaou, Elfenbeinküste.

Foto: ISSOUF SANOGO/AFP via Getty Images

Vorwort

von Matthias Martin Becker

Das Virus ist über uns hereingebrochen wie ein Unwetter. Eine Naturkatastrophe, so scheint es, überfällt die Menschheit aus dem Hinterhalt. »So schutzlos, so kollektiv machtlos hat man homo sapiens im Angesicht einer Naturgefahr in der modernen Welt noch nicht erlebt«, dichtete Anfang April 2020 Joachim Müller-Jung, Redakteur der FAZ. »Höhere Gewalt« heißt es wohl in solchen Fällen. Der Ausdruck schließt persönliche Verantwortung von vornherein aus. Ein grausames Schicksal, sicher, aber eben doch: Schicksal.

Nichts könnte der Wahrheit fernerliegen. Die COVID-19-Pandemie trifft die Menschheit nicht gleichermaßen – wie so oft ist Armut das größte Gesundheitsrisiko. Sie hat politische und wirtschaftliche Ursachen, und überraschend ist diese Pandemie nun wirklich nicht. Epidemiologen und Biologen warnen seit mittlerweile zwei Jahrzehnten vor dem nächsten großen Seuchenzug um die Erde. Nun handelt es sich um ein zoonotisches Coronavirus aus Südchina – genau auf diese Konstellation hätten die meisten Experten ihr Geld verwettet. Seit den 1980er Jahren beobachten sie eine stärkere Dynamik bei den Infektionen. Die Krankheitserreger gehen häufiger von tierischen auf menschliche Wirte über.

Globaler Tourismus und globale Lieferketten ermöglichen ihnen dann, sich rasch über die Welt zu verteilen und zu tödlichen Pandemien zu werden. Dieser Umstand wurde einer breiteren Öffentlichkeit zum ersten Mal durch die Ausbrüche der Vogelgrippe (Influenza-A-H5N1) im Jahr 1997 bewusst. Im Winter 2002/03 entstand ein neues Coronavirus, dass das erste Schwere Akute Atemwegssyndrom (Severe Acute Respiratory Syndrome SARS) auslöst. 2009 folgte die Schweinegrippe (Influenza A H1N1), drei Jahre später MERS (Middle East Respiratory Syndrome), ebenfalls ausgelöst durch ein Coronavirus. Neben neuen Erregern greifen böse alte Bekannte wie das Ebola- und Zika-Virus mit stärkerer Wucht um sich, auch das Denguefieber, das von Stechmücken übertragen wird. Unter Wildund Hausschweinen wiederum grassiert seit 2014 die wahrscheinlich größte Tierseuche der Geschichte. Das Virus der Afrikanischen Schweinepest verbreitete sich von Afrika nach Asien, weiter bis China und tötete dort über die Hälfte der Schweine-Population.

Klaus Stöhr, ehemaliger Leiter des Global-Influenza-Programms der Weltgesundheitsorganisation (WHO), erklärte bereits im Jahr 2004: »Nach der Pandemie wird das schwierigste sein, der Öffentlichkeit zu erklären, warum wir nicht gehandelt haben, obwohl es genügend Warnungen gegeben hatte.« COVID-19 ist eine Katastrophe mit Ansage. »Unter Fachleuten war von dem Ausbruch niemand überrascht, die WHO spielte schon lange unter dem Platzhalternamen ›Disease X‹ Szenarios durch«, stellt Die Zeit fest. In Deutschland initiierte die Bundesregierung 2006 die »Nationale Forschungsplattform Zoonosen«, in der das Robert-Koch-Institut (RKI, zuständig für die Erforschung der Bevölkerungsgesundheit), das Friedrich-Loeffler-Institut (zuständig für Tierseuchen) und das PaulEhrlich-Institut (zuständig für Impfstoffe) zusammenarbeiten. Das Bundesforschungsministerium förderte 95 wissenschaftliche Projekte zu Zoonosen, mit Themen von »Antibiotikaresistenz« bis »Zukünftige Risikogebiete«. Die Gefahr einer pandemischen Zoonose war den einschlägigen Wissenschaftlern und bei den zuständigen staatlichen Stellen durchaus bekannt.

Dennoch unternahm niemand etwas, niemand traf auch nur einfache konkrete Vorbereitungen. 2012 entwickelte das RKI zusammen mit anderen Bundesbehörden ein Szenario, in dem eine »Pandemie durch Virus Modi-SARS« durchgespielt wurde. In dieser Risikoanalyse eines »außergewöhnlichen Seuchengeschehens« heißt es: »Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Erreger mit neuartigen Eigenschaften, die ein schwerwiegendes Seuchenereignis auslösen, plötzlich auftreten können.« Das Szenario beschreibt viele Aspekte der COVID-19-Pandemie präzise (»...stammt aus Südostasien, wo der bei Wildtieren vorkommende Erreger über Märkte auf den Menschen übertragen wurde ...«), andere Annahmen sind plausibel. Die Gefahr überlasteter Krankenhäuser mit der Folge vermeidbarer Todesopfer wird aufgeführt.

Allerdings versahen die Verfasser ihr Planspiel lediglich mit der Eintrittswahrscheinlichkeit »bedingt – einmal alle 100 bis 1000 Jahre«. Vielleicht schien dieses Risiko den Bundes-und Landesbehörden vertretbar. Vielleicht hielten sie andere Leute für zuständig oder staatliche Vorsorge für unzeitgemäß. Jedenfalls kümmerten sie sich nicht um Vorräte an Schutzkleidung, Schutzmasken und Beatmungsgeräten, und schon gar nicht um ausreichend Personal in den Gesundheitsämtern und Krankenhäusern.

Virologie als Gesellschaftswissenschaft

Rob Wallace gehört zu den Wissenschaftlern, die seit langem vor einer kommenden Pandemie warnen. In der Rückschau lesen sich viele seiner Kommentare wie verzweifelte Kassandrarufe. Im Jahr 2009 notierte er: »Das Establishment scheint bereit zu sein, einen Großteil der weltweiten Produktivität aufs Spiel zu setzen, die katastrophal einbrechen wird, wenn zum Beispiel in Südchina eine tödliche Pandemie ausbricht – von Millionen Menschenleben einmal abgesehen.« (vgl. Kap. 2)

Der New Yorker Evolutionsbiologe hat einen Großteil seines beruflichen Lebens damit verbracht, Epidemien zu erforschen und zu bekämpfen. Bahnbrechende Erfolge kann er nicht vorweisen. Seine erste publizistische Reaktion – geschrieben als die COVID-19 gerade an Fahrt aufnahm – klingt denn auch eher genervt als besorgt: »Was um Himmels willen wollt ihr von mir hören? Was soll ich denn machen?« (vgl. Kap. 9) Das entspricht nicht ganz einem hämischen »Ich habe es euch ja gleich gesagt!«, aber doch einem verzweifelten »Wer nicht hören will, muss fühlen!« Die Frustration über die halbherzige globale Seuchenkontrolle und eine Wissenschaft, die sie begleitet und rechtfertigt, hat Rob Wallace aus der Forschung getrieben. Dabei lässt sich seine Karriere als Biologe und Epidemiologe eigentlich vielversprechend an. Nach seiner Promotion 2002 an der City University of New York arbeitet er als Phylogeograph. Anhand genetischer Sequenzierungen untersucht er die Herkunft von Viren und ihre evolutionäre Dynamik, publiziert in renommierten wissenschaftlichen Journalen.

Besonders intensiv beschäftigt er sich mit der Influenza. Er schaut durchs Elektronenmikroskop und berechnet Ausbreitungsgeschwindigkeiten, er liefert Expertisen für die Vereinten Nationen und nationale Gesundheitsbehörden in den USA. Als er die Vogelgrippe-Epidemie von 1997 untersucht, kommen ihm erste Zweifel an seinen wissenschaftlichen Methoden. »Egal was ich mit den Gensequenzen der Influenza auch anstellte, sie erklärten mir nicht, warum H5N1 an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt entstanden war«, erinnert er sich später. Die gesellschaftlichen Umwälzungen in China drängen sich als Erklärung geradezu auf. Die »ökonomische Liberalisierung« kostet viele Chinesen zunächst ihren Arbeitsplatz, die Abwanderung vom Land in die Städte verstärkt sich, Landwirtschaft und Fleischerzeugung werden völlig umgewälzt. Der Agrarsektor wird immer stärker auf den Weltmarkt orientiert und von transnationalen Konzernen dominiert, nicht nur in China (aber eben auch dort). Diese Umwälzungen haben konkrete Folgen für die Evolution der Influenza. Aber in der wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Debatte ist kein Platz für Kritik an diesen Entwicklungen.

Rob Wallace begreift sich immer stärker als »phylogeographischer Gesundheitswissenschaftler«. Er will die sozialen und ökonomischen Triebkräfte in die Epidemiologie integrieren. Seine politischen Kommentare werden schärfer: Die pharmazeutische Industrie wirkt auf ihn dysfunktional, denn Infektionskrankheiten sind ihr der Mühe nicht wert (sprich: Investitionen in die Forschung zu unsicher). Die WHO erscheint ihm als diplomatische Bühne, auf der die Weltmächte ihre Querelen austragen, statt wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Schon damals zeigt sich, dass die internationale Seuchenbekämpfung den nationalen Interessen untergeordnet wird und die USA versuchen, China an den Pranger zu stellen. Rob Wallace bemüht sich um eine ausgewogene Darstellung, aber spart seinerseits nicht an Kritik an den chinesischen Behörden.

Besonders empören ihn die Geschäftspraktiken von Agrarund Lebensmittelkonzernen, die seiner Ansicht nach die Zoonosen-Gefahr erhöhen. Aber die Unternehmen, die Wildund Nutztiere verarbeiten, müssen sich für die ökologischen und epidemiologischen Folgen überhaupt nicht interessieren. Die großen transnationalen Fleischproduzenten benutzen die Tierseuchen sogar, um kleinere Hersteller aus dem Markt zu drängen. »Die Lebensmittelkonzerne waren eine strategische Partnerschaft mit der Influenza eingegangen«, kommentiert er sarkastisch. Aus Sicht eines Mediziners heißt das: Sie machen mit dem Feind gemeinsame Sache.

Die WHO und der Mainstream der Gesundheitswissenschaft ignorieren diese Zusammenhänge. Öffentlich betonen die Wissenschaftler und/oder Funktionäre zwar, dass soziale und ökologische Faktoren wichtig sind, aber in der wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Praxis werden sie ausgeklammert. »Ich musste wiederholt feststellen, dass die politischen Machtverhältnisse nicht nur die Infektionskrankheiten prägen, sondern auch die Wissenschaft, die sich mit ihnen beschäftigt«, schreibt Rob Wallace später. »Dennoch schockierte mich das Ausmaß der Verdorbenheit und Korruption.« Mittlerweile hat er sich aus der aktiven Forschung verabschiedet. Seit 2019 leitet er das Agroecology and Rural Economics Research Corps in St. Paul, Minnesota, eine Initiative, die regenerative landwirtschaftliche Methoden erforscht und umsetzt. Das Ziel, sagt er, ist eine »antikapitalistische Landwirtschaft«. So ist auch sein Buch »Revolution Space: Adventures Outside Capitalist Science« (2020) zu verstehen. Seine »Reportagen über Influenza, Agrarindustrie und die Natur der Wissenschaft« veröffentlichte Rob Wallace 2016 unter dem Titel »Big Farms Make Big Flu«. Hier erscheinen ausgewählte und gekürzte Texte aus diesem Band, zusammen mit zwei aktuellen Kommentaren zu COVID-19. Ein Anliegen des Autors ist die immanente Kritik der wissenschaftlichen Praxis. Immanent bedeutet, dass diese Kritik nicht auf eine moralische Beurteilung abzielt oder den Nutzen abwägt oder ähnliches. Ihr Maßstab ist das adäquate Erkennen der Wirklichkeit. Rudolf Virchow (1821–1902) prägte den berühmten Satz, Medizin müsse eine soziale Wissenschaft sein. Viel zitiert, vielseitig verwendbar – Sozialmediziner wie Rob Wallace begreifen das nicht als eine normative Forderung für Sonntagsreden, in denen die Wissenschaft auf ein diffuses Gemeinwohl verpflichtet wird. Nein, das Krankheitsgeschehen lässt sich ohne das Gesellschaftliche nicht begreifen.

Für Virologie und Bakteriologie gilt das auf besondere Weise. Die Erreger vermehren und bewegen sich in gemachten Lebensräumen. Wir können ihre Evolution und unsere Anfälligkeit kontrollieren – bis zu einem gewissem Grad. Wie weit unsere Kontrollmöglichkeiten reichen, wie wir die Epidemien in den Griff bekommen, das ist die Fragestellung dieser Texte.

Die von Rob Wallace skizzierte »politische Virologie« ergänzt die politische Ökonomie durch biologische Zusammenhänge. Damit entspricht sie der tatsächlichen Komplexität der kapitalistischen Umformung und Aneignung der Natur (auch wenn der Autor diesen Zusammenhang nicht systematisch beschreibt). Anders gesagt, er analysiert die Interaktion von Virus und Freihandelsvertrag, von Flughund, Palmöl-Plantage und Finanzkapital.

Evolution auf der Überholspur

COVID-19 sollte uns als Warnung dienen. Das Virus führt uns vor Augen, dass unsere Zivilisation verwundbar ist. Bisher hatte die Menschheit mehr Glück als Verstand. Zwar entstanden neue Krankheitserreger, aber sie waren entweder sehr ansteckend und wenig pathogen oder kaum ansteckend, aber tödlich. Die Schweinegrippe infizierte Millionen, aber die Krankheit war eher harmlos. An der Vogelgrippe starb jeder zweite Infizierte, an MERS anfänglich jeder dritte, aber die Epidemien konnten erstickt werden. COVID-19 wurde pandemisch. Wie viele Menschen das Virus das Leben kosten wird, ist gegenwärtig noch unabsehbar (Ende Juni 2020 lag die Zahl der Todesfälle, die mit Tests bestätigt wurden, bei rund 500.000 weltweit). Nichts garantiert, dass der nächste Erreger nicht noch tödlicher sein wird, und die nächste Pandemie kommt mit Sicherheit.

Bei den meisten neuen Infektionen – etwa zwei Drittel – handelt es sich um Zoonosen. Natürlich sind solche Krankheiten nicht neu, sie begleiten die Menschheit, seit sie sesshaft wurde. Landwirtschaft mit Vorratshaltung zieht wilde Tiere an, die gezähmten Tiere leben eng mit den Menschen zusammen. Je mehr überregionaler Austausch stattfindet, umso schneller und umfangreicher verbreiten sich Epidemien. Andererseits bremst ein wachsender Wohlstand sie ab: Bessere Ernährung und weniger Entkräftung machen die Menschen widerstandsfähiger. Übertragungswege werden geschlossen (zum Beispiel durch bessere Wohnverhältnisse, Kanalisationen und sauberes Trinkwasser). Seit dem 19. Jahrhundert wirken auch biomedizinische Maßnahmen wie Impfungen und eine gesundheitspolizeiliche Kontrolle den Infektionen entgegen. Auf Grundlage der verbesserten Lebensverhältnisse durchlaufen die Industriestaaten seit dem späten 19. Jahrhundert den sogenannten epidemiologischen Übergang. Die Seuchen ziehen sich zurück, die Bevölkerungen leiden und sterben fortan eher an chronischen und degenerativen Krankheiten wie Krebs oder Krankheiten der Atemwege und des Herzkreislaufsystems.

Wir haben es folglich mit einem komplexen Wechselspiel zu tun: Wissenschaftlicher und sozialer Fortschritt drängt die Erreger zurück, während ihnen der Weltmarkt und besonders Reisen neue Verbreitungsmöglichkeiten eröffnen. Katastrophen, Kriege und die extrem ungleichen Lebensverhältnisse auf unserem Planeten wirken wie Brandbeschleuniger. Das Ebolavirus bricht in einem abgelegenen Dorf in Waldguinea aus, das gerade erst in die globalen Warenund Finanzströme eingebunden wird, und der Erreger schafft es unter Umständen bis nach Dallas in den Vereinigten Staaten. Die Lösung ist einfach, naheliegend und unter kapitalistischen Verhältnissen völlig utopisch: weltweite Mindeststandards für Ernährung, Hygiene und medizinische Versorgung. Stattdessen setzt die internationale Seuchenkontrolle (maßgeblich von der WHO organisiert) auf frühzeitige Erkennung (Surveillance) und die Eindämmung durch die jeweiligen Nationalstaaten, in denen neue Erreger um sich greifen. Die Wissenschaft bemüht sich vor allem um bessere Prognostik und Diagnostik.

Der epidemiologische Übergang ist ein historisches Muster, das sich auch in Schwellenländern wie Brasilien und China zeigt. In den ärmsten Länder dominieren Infektionen weiterhin die Krankheitsund Todesursachen. Ein historisches Muster ist kein Gesetz. Es waren medizinische und soziale Fortschritte, durch die die Seuchen zurückgedrängt wurden. Aus eben diesem Grund können sie auch zurückkehren. Unsere relative Kontrolle über die Mikroorganismen könnte uns wieder entgleiten. Menschen und Mikroorganismen leben und entwickeln sich in einer Koevolution, in einem fortwährenden Prozess gegenseitiger Anpassung. Antibiotische und antivirale Mittel verschaffen uns dabei einen gewissen Spielraum, aber sie führen bei starkem Einsatz unweigerlich zu einer Resistenzentwicklung. Multiresistente Bakterien und Pilze sind bereits zu einer ernsten Gefahr geworden. Die biomedizinischen Wunderwaffen werden bei übermäßigem Einsatz stumpf.

Nicht nur das, wir fördern nach Kräften neue Zoonosen, indem wir die Lebensräume von Wildtieren zerstören. »Änderungen in der Landnutzung führen zum Verlust von Lebensräumen, was zu höheren Populationsdichten einiger Arten und auch zu mehr Kontakten zu Menschen führt«, erklärt der Agrarökologe Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). »Die Arten, die überleben, ändern ihr Verhalten und teilen sich in zunehmendem Maß Lebensräume mit anderen Tieren und eben mit dem Menschen.«8 Wegen der Zerstörung ihrer Habitate werden Tiere wie Fledermäuse, Füchse, Amseln oder Ratten zu »Kulturfolgern«, sie finden Nischen in Städten und anderen Kulturlandschaften. Die anderen sterben aus. Kulturfolger wiederum sind für die Zoonosen häufig Reservoiroder Zwischenwirte. Insofern ist COVID-19 ein Ausdruck der umfassenden ökologischen Krise, in der wir uns befinden. Zu der Wildtierproblematik kommt hinzu, dass industrielle Viehzucht heute gleichzeitig Virenzucht bedeutet, was Rob Wallace ausführlich darlegt. In der Massentierhaltung entstehen neue Erreger, die bekannten Beispiele sind die Schweinegrippe, SARS und MERS. Die industrielle Fleischund Eierproduktion drängt Nutztiere auf engem Raum zusammen und schwächt ihre Immunsysteme auf vielfältige Weise. Sie schaltet die natürliche Auslese aus und verhindert eine Anpassung durch Fortpflanzung vor Ort. Unter diesen Umständen müssen die Betreiber Impfungen und große Mengen antibiotischer Mittel einsetzen, die zu Resistenzen führen.

Die Fleischproduktion spielt für Zoonosen eine entscheidende Rolle – auch im Fall von COVID-19. Das Virus entstand aus einem Coronavirus, das in Fledermäusen vorkommt. Ein chinesischer Wildtiermarkt spielte bekanntlich eine Rolle bei dem Ausbruch, wobei die Zwischenwirte und Übertragungswege noch unklar sind. »Wildfleischmarkt« bedeutet aber nicht, dass ein Jäger das eine oder andere Gürteltier aus dem Wald mitbringt. In vielen Ländern handelt es sich um eine kapitalstarke Branche, die ein wichtiges Lebensmittel vertreibt. In China beschäftigt sie angeblich 14 Millionen Menschen bei einem Jahresumsatz von 74 Milliarden US-Dollar.9 Rob Wallace weist außerdem zu Recht darauf hin, dass die Wege der Zoonosen verschlungener sind als simple Einbahnstraßen von Tier zu Mensch. Manchmal bewegen sie sich im Zickzack über die Gattungsgrenzen hinweg, Zwischenwirte spielen eine große Rolle. So kann ein menschliches Influenza-Virus ein Schwein befallen, dort auf einen Virus von Vögeln treffen und sich mit diesem verbinden, bevor das neue Virus zurück zum Menschen wandert.

Um es zusammenzufassen: die wachsende Seuchengefahr hat konkrete Ursachen, nämlich den weltweit immer noch steigenden Antibiotika-Verbrauch, die schrumpfende Artenvielfalt und die Massentierhaltung sowie Urbanisierung und Globalisierung. So entsteht eine virale und bakterielle »Evolution auf der Überholspur«.

Atmende Wurstwaren und andere Rationalisierungsnachteile

Rob Wallace arbeitet heraus, wie zerstörerisch unser gegenwärtiges Agrarsystem ist. Doch wie lässt sich diese zerstörerische Wirkung ökonomisch erklären? Landwirtschaft und Viehzucht arbeiten »industriell«, und das bedeutet in diesem Zusammenhang eine Produktion mit kapitalistischer Arbeitsteilung. Die Arbeit wird standardisiert, zergliedert und kontrolliert, um sie auf unterschiedliche Personen zu verteilen und die Lohnsumme zu senken. Sie wird mechanisiert, wo dies profitabel ist.
Eine fabrikmäßige Produktion benötigt standardisierte Grundstoffe und Produkte – auch auf dem Acker oder im Stall. Daher betreibt die kapitalistische Landwirtschaft seit jeher die züchterische Umformung von Pflanzen und Tieren, um den Ertrag zu steigern, aber auch um weniger Arbeitszeit einsetzen zu müssen. Sie setzt auf Skaleneffekte und die arbeitssparende Monokultur ist ihr Ideal. Diesem Ideal kann die Landwirtschaft allerdings nicht dauerhaft genügen, weil sie die Reproduktion der Pflanzen und Tiere nicht vollständig kontrolliert. Sie beherrscht die Natur sozusagen nur halb: Sie kann sich zwar ihre Früchte aneignen, aber das organische Wachstum nicht technisch organisieren. Dieses Wachstum beruht auf geochemischen und geobiologischen Kreisläufen und vollzieht sich in einem komplexen Zusammenspiel diverser Gattungen – Insekten, Bodenbakterien, den Darmbakterien in der Kuh und folglich in der Gülle, Vögel als Fraßfeinde der Insekten und noch viel, viel mehr. Landwirtschaft kann nicht in der Petrischale stattfinden.

Die räumliche Konzentration und Isolation der Nutzpflanzen und -tiere bietet zudem unerwünschten Gattungen, zum Beispiel Parasiten, Bakterien und Viren ökologische Nischen. Um ihrer Anpassung und Vermehrung entgegenzuwirken, müssen die Landwirte giftigere Mittel einsetzen – oder mehr Arbeitsaufwand betreiben. Agrarische Monokulturen werden allmählich wieder »multikulturell«, Resistenzen entstehen. Die intensive Landwirtschaft trägt ihren Namen zu Recht, sie beschleunigt und erhöht den Umsatz der Nährstoffe und des Wassers. Aber mit der Zeit laugt der überbeanspruchte Boden aus und bringt geringere Erträge. Auch »Automatisierung auf dem Acker« mithilfe aufwendiger Sensorik und Robotik kann dieses Problem nicht lösen. Ökonomisch ausgedrückt, nehmen die Skaleneffekte langfristig wieder ab, einige Effizienzgewinne durch Monokultur sind nur vorübergehend. Auch die Fleischindustrie hat ihren Rohstoff planmäßig verändert. Sie hat zum Beispiel das Huhn für die Eieroder Fleischproduktion optimiert und so die Gattung züchterisch aufgespalten in Legehybride und Masthybride. Sie hat die Lebensspanne der Masthähnchen (Broiler) auf 40 Tage verkürzt, dabei können Hühner eigentlich zehn Jahre und älter werden. Sie hat Tiere erzeugt, die das Gewicht von ausgewachsenen Hühnern auf dem Körper von jungen herumschleppen und deren innere Organe diesem Druck nicht gewachsen sind. Die neuen Nutztierställe sind weitgehend automatisiert. In den kapitalintensivsten Anlagen der Hühner-Vermehrungsbetriebe kommt auf 100.000 Tiere nur ein Beschäftigter. Beleuchtung und Belüftung dienen einem optimalen Wachstum, die Ammoniakund Kohlenstoffkonzentration der Luft wird automatisch geregelt.

So schafft die Viehzucht eine artspezifische Umwelt für maximalen Ertrag bei minimalen Kosten. Aber die evolutionäre Dynamik der Mikroorganismen und Zoonosen ist ihre Nemesis. Rob Wallace nennt sie präzise einen »lebendigen Schadstoff« der Fleischindustrie. Die entscheidende Pointe daran ist, dass die größten und mächtigsten Unternehmen – vor allem die Basiszüchter am Anfang der Produktionskette und die Schlachter und Fleischverarbeiter an ihrem Ende – das Risiko auslagern können. Abgesehen von Krankheitsausbrüchen in den eigenen Beständen handelt es sich für sie um eine Externalität, einen Effekt, der in den Bilanzen nicht auftaucht und daher nicht wirklich von Interesse ist. Die Nebenfolgen dieser Produktionsmethoden treffen die mächtigsten Kapitalgruppen gerade nicht. »Was auch immer schiefgeht, jemand anderes bezahlt die Rechnung«, erklärt Rob Wallace. (vgl. Kap. 6)

Die Macht dieser Konzerne beruht unter anderem auf der wachsenden Internationalisierung und Monopolisierung auf dem Fleisch-markt. Rob Wallace führt in erster Linie US-amerikanische Beispiele an, hierzulande wäre er aber genauso fündig geworden. Seit 1994 sank die Zahl der Hühnermastbetriebe von etwa 70.000 auf 4.500, obwohl die produzierte Fleischmenge in diesem Zeitraum anstieg. Weniger Einheiten mästen immer mehr Tiere: »In Betrieben mit weniger als 10.000 Mastplätzen leben gerade einmal ein Prozent aller Masthühner.« Vier Unternehmen dominieren den deutschen Markt (Vion, Tönnies, Westfleisch und Danish Crown). Weil sie Überkapazitäten aufgebaut haben, liefern die Schlachtbetriebe vermehrt ins Ausland, vor allem nach China. Deutschland ist in dieser Sparte ein Global Player – nach den USA und Kanada der drittgrößte Schweinefleisch-Exporteur der Welt.

Woran merken wir eigentlich, dass wir eine ökologische Grenze erreicht haben?

COVID-19 ist eine menschengemachte Naturkatastrophe. Nicht nur in dem Sinn, dass die Überwachung und medizinische Eindämmung versagt haben. Wir entfesseln Naturkräfte, die wir nicht beherrschen. Wirksame Maßnahmen gegen die wachsende Gefahr durch Zoonosen sind nicht in Sicht. Die Wildtiermärkte zu verbieten, wie es der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller und einige Umweltschutzorganisationen fordern, schafft das Problem nicht aus der Welt, weil diese Krankheiten ebenso in der Nutztierhaltung entstehen. Auch mit biomedizinischen und technischen Mitteln allein ist die evolutionäre Dynamik der Mikroorganismen nicht in den Griff zu bekommen. Dies entspricht dem Charakter der ökologischen Krise insgesamt. Ein Team um die Geologin und Biologin Carys Bennett von der Universität Leicester wies Ende 2018 darauf hin, dass die Körpermasse aller Broiler zusammen mittlerweile die Masse aller anderen Vögel weltweit übersteigt. Im sogenannten Anthropozän prägt sich die Menschheit in die geologische Struktur des Planeten ein. Wir formen die Biosphäre grundlegend um, aber eigentlich wissen wir gar nicht, was wir da tun. Kein Wunder, dass die Lösungsvorschläge zunehmend bizarr klingen: Geoengineering gegen die Folgen des Treibhauseffekts – Gene Drive, um Parasiten auszurotten – Impfungen für die Tiere in den Regenwäldern, um Zoonosen zu verhindern – Miniaturdrohnen als Bestäuber wegen des Bienensterbens. Abenteuerliche Konzepte mit unkalkulierbaren Risiken werden ernsthaft diskutiert.

Die gegenwärtige Landwirtschaft stößt an Grenzen. Aber der Kapitalismus akzeptiert keine Grenzen. Er überwindet sie, muss sie überwinden. Zu welchem Preis und wie lange noch? In den 1870er Jahren beschrieb Friedrich Engels, wie die kubanische Plantagenwirtschaft Wälder so rücksichtslos abholzte, dass der Boden fortgeschwemmt wurde. Wir beherrschen die Natur nicht, »so, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht«, erklärt Engels an diesem Beispiel. Wir gehören ihr an. Unsere besondere ökologische Rolle beruht nur darauf, dass wir »ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden« können.

Dieses Zitat könnte durchaus von Rob Wallace stammen. Er hegt keine romantischen Vorstellungen über einen Naturzustand, den es zu bewahren gelte, und schon gar keine Sympathie für die Krankheitserreger. Er betrachtet sie höchstens mit widerwilligem Respekt. Eben deswegen macht er klar, dass wir uns mit unseren bisherigen Methoden ihrer Beherrschung in eine Sackgasse manövriert haben.

29.07.2020, 14:26

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