Wir sind die „Vinyl Natives“

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Kids und Twens mögen uns als „Digital Natives“ beim Umgang mit PCs, Konsolen und Handies an die Wand klicken. Doch anfassbare Musikverpackungen und Mediengeräte, die sich mit echten Knöpfen bedienen und sogar aufschrauben liessen, stellen auch eine Kulturtechnik dar, von der sich zehren lässt. Zumindest mental.

Der Auslöser war Michael Jackson. Und das geht ja voll in Ordnung, Jacko gehört defintiv in den Rahmenplan für Popmusik-Lehre, zum kleinen „ABC“ sozusagen. Es passierte, als meine Kids und ich gemeinsam die Beerdigungsfeier für Michael Jackson im Fernsehen verfolgten. Impulsiv interessierten sie sich (mehr) für dessen Werk. Und endlich auch mal für meine Vinyl-Schallplatten. „Klar habe ich was von Michael Jackson. Sogar Maxi-Singles“, freute ich mich und griff zielsicher an die richtige Stelle des Regals. Treffer! (Und die Kinder so: „Yeah“ ;-)

Ich drückte ihnen den Stapel bewusst kommentarlos in die Hand. Sie drehten und wendeten die Papphüllen, bestaunten das „Artwork“, klappten „BAD“ und „Thriller“ und „Off the Wall“ auf und wieder zu und waren, yep, beeindruckt. Doch dann das: „Da ist ja gar nichts drin! Oder wie kriegt man diese komische ‘Platte‘ jetzt da raus?“, fragten sie mich. Erst rat- und dann erfolglos nestelten sie an den Öffnungen herum. I was very amused.

Es ist ja an sich ein schneller Handgriff, das Cover so zu drehen, dass die in eine weisse Innenhülle verpackte Schallplatte flott herausgleitet. Für mich eine über Jahrzehnte gelernte Kulturtechnik, etwas Selbstverständliches, wie Kuppeln beim Autofahren. Für die „Digital Natives“ aber neu und voll umständlich. Viel schlimmer aber noch: bedeutungslos.

Ich unternahm erst gar nicht den Versuch, den vielzitierten Schlag aus meinem Leben als Plattensammler zu erzählen – hätten sie ja eh nicht hören wollen. Ich dachte mir meinen Teil: Wenn die Kids , von mir aus auch die Twens von heute die so genannten „Digital Natives“ sind, die uns beim Umgang mit PCs, Konsolen und Handies locker an die Wand klicken, dann sind wir eben – die „Vinyl Natives“. Ha!

„Vynil Natives“ sind mit analoger Medientechnik groß geworden, mit Plattenspielern, die ihren Teller 78 mal pro Minute drehen konnten, mit tonnenschweren Tonbandmaschinen, die deswegen einen robusten Tragehenkel brauchten, mit grottenschlecht klingenden Kassettenrekordern und klobigen Walkmen, mit Kleinbildfilmdosen und Fixierbadschalen, mit Super-8-Kameras und Mikroskopen, die keinen USB-Anschluss hatten. Kurzum: Mit Mediengeräten, die echte Knöpfe hatten, nicht auf dem Bildschirm nachgemalte; die man bedienen, vor allem aber auch auseinandernehmen und reparieren konnte. (Naja, einen Versuch war es immer wert). Ein iPhone kann und darf man ja gar nicht aufmachen. Na, toll.

OK, die meisten Erfahrungswerte, die wir „Vinyl Natives“ in uns tragen, sind heute praktisch überflüssiges Wissen. Nehmen wir die „Schreibmaschine“: ein grobmotorisches Vehikel, dem man aber, wenn sich beispielsweise das (zweifarbige!) Farbband verheddert hatte, noch händisch beikommen konnte. Einen beherzten Griff in das Innenleben eines Tintenstrahl-Druckers, eines Flachbett-Scanners oder gar eines „4-in-1“-Multifunktions-was-weiss-ich kann man sich hingegen getrost sparen: Diese Wunderwerke der Digitaltechnik treiben einen bei Störungen mit sinnentleerten Fehlercodes und fragwürdigen Arbeitsverweigerungen erst auf die Palme und am Ende zum Neukauf – zum Neukauf eines kompletten Druckers, wohlgemerkt. Und der kostet groteskerweise weniger als ein Set Farbpatronen.

Was uns „Vinyl Natives“ also bleiben mag, ist die Erfahrung, Medien-Geräte auch von Innen zu kennen (nun gut, wenigstens gesehen zu haben); wir kennen keine Ehrfurcht gegenüber vermeintlich geschlossenen Systemen – irgendwo waren immer Schrauben, die man zerwürgen konnte; wir sind bar jeden Respekts vor windigen Garantie-Verlust-Drohungen bei eigenmächtiger Geräteöffnung. Ja, genau, es ist es diese antiautoritäre Courage gegenüber (elektro-)mechanischen Apparaturen, von der wir zehren. Mental, irgendwie, ... irgendwie so.

Ich bin ja kein Nostalgiker, auch kein Altgeräte-Sammler, mein Haushalt ist längst digitalisiert, TV sehe ich seit Jahren auf dem Mac. Dennoch bin ich nicht bereit, die Kultur der schraubbaren Mediengeräte und der anfassbaren Musik- und Filmverpackungen einfach so der Moderne preiszugeben. Zwar kaufe ich seit Jahren schon kein Vinyl mehr, und CD‘s auch kaum noch, sondern stets Downloads, mit all ihren Vorzügen und Nachteilen. Aber das ist ja kein Argument gegen anfassbare Entsprechungen. Und deswegen verkaufe ich nicht meine Identität oder auch Sozialisierung, die ich mit händisch malträtierten Plattenspielern und einer zusammengeliebhaberten Plattensammlung verbinde. I say: No, no, no!

(Das Wort „Festplattensammlung“ stammt jedenfalls nicht von mir. ... Oder jetzt etwa doch?)

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Geschrieben von

hest

Journalist, Autor, Referent, Lehrkraft, Freischreiber. Wanderer & Wunderer in Sachen Medienkultur

hest

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