Abgelaufen

Italien Der römische Senat hat am Mittwoch um 17:42 Uhr und 30 Sekunden Silvio Berlusconi seines Amtes als Senator für verlustig erklärt

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Abgelaufen

Foto: TIZIANA FABI/AFP/Getty Images

Für die Zeit seines politischen Wirkens hat die öffentliche Meinung das Wort „ventennio“ wieder entdeckt: „Zwanzig Jahre“ sind es her, dass Italiens bekanntester Vorbestrafter Silvio Berlusconi für alle sichtbar in die aktive Politik eingestiegen ist. Und von diesem Zeitraum sprechen Historiker, wenn sie die faschistische Ära des Benito Mussolini bezeichnen. Findet heute, da die zweite parlamentarische Kammer in Rom über den Mandatsverfall des ehemaligen Premierministers als Senator entschieden hat, eine Epoche ihr Ende?

Mit historisch-politologisch gefärbten Zuschreibungen geht Italien großzügig um. Viele wähnen sich, da es nun um das politische Ende eines sehr mächtigen Mannes geht, bereits an der Schwelle zur „dritten Republik“. Der Übergang von der ersten zur zweiten in dieser Nachrkiegsaufzählung sei der Zusammenbruch der Parteienlandschaft in den 1990er Jahren gewesen. Nach den justiziellen Verfahren zu „Mani Pulite“ und „Tangentopoli“ war praktisch keine der Parteien übrig geblieben, die die Gründung der Republik mit der Verfassung vom 22. Dezember 1947 verantwortet hatten.

„Dritte Republik“ vor der Tür

Zweifellos eine Zäsur, aber nur im Wiedererkennungswert. Mochten sich danach die kaum mehr zu zählenden Gruppen, Strömungen und veritablen Apparate noch so fantasievolle Namen wie „Forza Italia“, „Alleanza Nazionale“ oder „l’Ulivo“ gegeben und ihre neuen Gesichter als Leader produziert haben: Die verfassungsmäßige Konstruktion des Landes hat sich seit jener von 1947 in keinem entscheidenden Aspekt geändert. Auch die Modifikationen im Wahlrecht (1993 und 2005), die hilfsweise als Argument für eine „andere Republik“ angezogen werden, haben die grundsätzliche Austarierung der institutionellen Kräfte und die Gewaltenteilung unangetastet gelassen.

Versuche einer Strukturänderung hat es gegeben. Zum einen die sog. Föderalismusreform aus dem Jahr 2001, in der im zentralistischen Italien erstmals die gleichberechtigten Belange der Regionen, Provinzen und Kommunen im Verhältnis zum Staat namentlich genannt wurden. Sie ließ aber, so Oskar Peterlini in seinem Aufsatz „Föderalistische Entwicklung und Verfassungsreform in Italien“ (2007), „wesentliche Bereiche aus, die zu einer echten Föderalisierung gehören.“

Ein erneuter Anlauf wurde von Ministerpräsident Silvio Berlusconi ab 2003 unternommen, vor allem auf Druck seines Koalitionspartners Lega Nord. Die zu der Zeit noch dezidiert separatistisch auftretende Bewegung machte ihre Unterstützung des Mitte-Rechts-Bündnisses in Rom von weitgehenden Konzessionen an die Autonomiewünsche der Regionen abhängig.

Das Gesetz, das schließlich 2005 vom Parlament verabschiedet wurde, hätte tatsächlich tiefgreifende Folgen gehabt. Nicht nur wäre die zweite parlamentarische Kammer, der Senat, zu einer Länderkammer ähnlich dem deutschen Bundesrat verändert worden, sondern auch das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive umgewichtet: Die Rolle des Ministerpräsidenten, der ab dann die Bezeichnung „Premier“ getragen hätte, wäre zum Nachteil des Parlaments wesentlich gestärkt worden. Dass es nicht so weit kam, ist dem Volksentscheid von 2006 zu verdanken, in dem sich die Mehrheit der Italiener gegen die Verfassungsänderungen wandte.

Fortdauer des Systems

Die tatsächliche Kontinuität könnte allerdings nicht deutlicher ausgedrückt werden als mit den Worten von vor 20 Jahren. In heutigen Editorial für Il Fatto Quotidiano erinnert Marco Travaglio an seinen journalistischen Lehrer Indro Montanelli, der warnte: „Wenn heute ein neuer Mussolini auftauchte, er hätte freie Bahn. Aber wir haben gesehen, wohin die Blender führen.“ Oder Giorgio Napolitano, jetzt greiser Staatspräsident, zum damaligen Zeitpunkt Präsident der Abgeordnetenkammer: „Natürlich können sich auch neue Subjekte aus der Wirtschaft politisch betätigen. Aber die Institutionen haben für ein Höchstmaß an Ausgeglichenheit bei der Nutzung der Informationsmittel Sorge zu tragen.“

Die Gründe, die angeblich zum Ableben der „ersten Republik“ führten, haben also überlebt. Und sie sind gewiss nicht alleine in der Person eines Silvio B. kristallisiert. Der Unternehmer, der 1994 mit seiner Firma Fininvest kurz vor dem Bankrott stand und um den bereits die Staatsanwälte wegen seiner Schmiergelder an Sozialistenführer Bettino Carxi schwirrten, hatte nur die Gunst der Stunde ergriffen, sich unentbehrlich zu machen.

Indem er in seiner Partei „Forza Italia“ abgehalfterten Politikern aller Couleur Aus- und Einkommen bot; indem er seinen ganz persönlichen Nichtangriffspakt mit der Mafia schloss, für den sein Vermittler Marcello Dell’Utri eine siebenjährige Haftstrafe ausgefasst hat; indem er ein planvolles System von Schwarzgeldgenerierung über den überteuerten Ankauf von Filmrechten einrichtete, das dem soeben erschienenen investigativen Buch „Il Cavaliere Nero“ (Der schwarze Kavalier) zufolge in 20 Jahren 1,227 Milliarden Euro eingebracht hat; indem über dieses System jeder zum Gehaltsempfänger befördert wurde, der dem Cavaliere zu Diensten war oder ins Schweigen gekauft wurde, wenn er gefährlich wurde; indem er über seine monopolähnliche Medienpräsenz das Publikum derart entpolitisierte, dass nur er als Strahlfigur übrig blieb, die sich um alles zum Wohl aller kümmern würde.

Wenn es einen Schlüsselmoment der letzten 20 Jahre zu erfragen gäbe, wäre es der der Emanzipation dieses ehemaligen Kofferträgers aus bescheidenen Verhältnissen gegenüber denjenigen, die in der Zeit zwischen 1978 und 1983 auf seinen Konten als Bauunternehmer mehr als 500 Milliarden Lire deponiert hatten. Wie und wann konnte der vormals Kontrollierte selbst derart zum Kontrolleur werden, dass er ohne großen Widerstand ein Klientel- und in Teilen kriminelles System aufbauen konnte, an dessen Spitze er, nach Lektüre diverser Strafurteile gegen ihn unzweifelhaft, steht?

Den politischen Gegner zum Feind gemacht

Die Frage wird unbeantwortet bleiben, denn die Beteiligten haben jedes nur erdenkliche Interesse, solche Fragen erst gar nicht zu lesen. Als Travaglio und Co-Autor Elio Veltri alleine die nach der Herkunft jener halben Milliarde im Buch „L’odore dei soldi“ (Der Geruch des Geldes, 2001) stellten, wurden sie mit millionenschweren Klagen überhäuft. Nur einer unabhängigen Justiz, die der Meinungs- und Pressefreiheit den gebührenden Rang einräumte, ist es zu verdanken, dass die Journalisten auch heute noch frei und ohne lebenslange Schulden schreiben können. Und einem Verlag, der für die auflaufenden Kosten der Verteidigung gerade stand, denn sie alleine hätten die Autoren überfordert.

Aber genau diese Logik wird vorerst bleiben: Jemanden mit schierer wirtschaftlicher Potenz zu erdrücken. Das Selbstbewusstsein der Habenden ist nirgends so ausgeprägt wie unter den Parlamentariern, die zu den bestbezahlten in Europa gehören. Die staatsanwaltschaftlichen Abhörprotokolle, in denen sich Abgeordnete noch um einen Tick härter als Mussolini ausdrücken, der das Volk wie einen Esel mit Karotte und Stock traktiert wissen wollte, sind Legion. Und so kann auch die zweite Hinterlassenschaft nicht mit einem Votum beseitigt werden.

Wer, gleich ob als Steigbügelhalter, dezidierter Mitwisser oder als Nachwuchs, in diesen 20 Jahren politisch sozialisiert wurde, hat gelernt, den politischen nicht als diskussionsfähigen Gegner aufzufassen, sondern als Feind, der einen Platz an einem der parlamentarischen Futtertröge streitig macht. Die an bürgerkriegsähnliche Zustände gemahnende Rhetorik ist wesentlicher Bestandteil einer politischen Kultur geworden, die Stück für Stück die Konsenssuche zu Inhalten durch martialisches Gehabe ersetzt hat.

Eine Entwicklung, die sich nicht auf Rom allein beschränkt. Seit Monaten berichten Medien über die „spese pazze“, die verrückten Ausgaben in den Regionalräten, die der Föderalismusreform gemäß die Funktion von Länderparlamenten hätten übernehmen sollen: Luxusgeschenke für die Lebenspartner, teure Restaurantbesuche, Reisen in ferne Länder, alles als Repräsentationskosten abgerechnet, gleich ob im Piemont oder in der Basilikata. Die Aussprachen dazu haben in den letzten Tagen etwa im Rathaus von Rom und im Regionalrat in Turin zu Handgreiflichkeiten geführt.

Die 5-Sterne-Bewegung als Mehrheitsbeschaffer

Es kann daher nicht wundern, dass das Volk zu dem gegriffen hat, was legitime Notwehr ist: Mit Beppe Grillo und der 5-Sterne-Bewegung (M5S) einen Resonanzboden zu schaffen, der jede Beleidigung, jeden herrischen Antritt und die Selbstherrlichkeit im gleichen Ton und nach Möglichkeit noch härterem Gestus zurück gibt.

Dass es genau die Stimmen dieser Populisten im besseren Sinn des Wortes waren, die heute entscheidend zum Mandatsverlust von Silvio Berlusconi beigetragen haben, mag als Trost dienen. Die überwiegend jungen Frauen und Männer haben die außerparlamentarische Sicht in das Plenum getragen und ihr Geltung verschafft. Und straft damit alle der Lüge, die im Ergebnis deren Wahl vom Februar nur als eine Irrung oder Clownerie sehen wollten.

Der Weg zurück zur Sacharbeit wird aber beschwerlich bleiben, das ist die Botschaft des heutigen Tages. Rund ein Drittel der anwesenden Senatoren wollte nach wie vor einen rechtskräftig verurteilten Kriminellen, der seine Haftstrafe noch nicht einmal angetreten hat, in den eigenen Reihen dulden. Und dies bei einer Verurteilung wegen systematischen, schweren Steuerbetrugs, der die res pubblica unmittelbar berührt, der Berlusconi acht Jahre als Ministerpräsident vorstand.

Die Entscheidung von heute Nachtmittag war, schließlich, auch eine des kontrollierten Gewissens. Sie musste, weil namentliche Abstimmung bestimmt worden war, öffentlich bekannt gegeben werden. Das ist nicht das Ende einer Ära, auch nicht der Beginn einer neuen Republik. Und es wäre zu bequem, eine solche Einschätzung durchgehen zu lassen, die letztlich den Fehler beginge, systemische Unzulänglichkeiten nur an eine Person zu binden und sich mit ihrer Entledigung gleichsam zu exkulpieren.

Sondern es ist die Wiederentdeckung parlamentarischer Selbstverständlichkeit, auch und gerade in einem notwendigen Akt der Selbstreinigung. Von Tugenden zu sprechen, ist es noch zu früh. MS

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden