Kampf der Mächte

Endgame in Syrien Nur wenige Kilometer liegen zwischen Stellungen der Regierungsseite und der türkischen Grenze. Wenige Kilometer, die zwei Welten voneinander trennen

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Kampf der Mächte

Bild: Gokhan Sahin/Getty Images

Mit der Verlegung von saudischen Kampfjets an die syrisch-türkische Grenze ist endgültig die Zahl der offiziell beteiligten Staaten im syrischen Bürgerkrieg gestiegen – und damit auch die Gefahr einer Eskalation. Während auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine provisorische – und leider auch illusorische – Feuerpause ausgehandelt wurde, hat in Syrien das Endgame für einige Konfliktparteien bereits begonnen – denn die Zeit läuft langsam ab.

Der erste größere Wandel trat am 4.Februar ein. Die Syrische Armee (SAA) eroberte zusammen mit den National Defence Forces (NDF) und zwei irakischen Einheiten mit massiver Unterstützung durch die russische Luftwaffe die Stadt Ratyan im Norden von Aleppo. Ratyan war eine zentrale Kommandostelle für Jabhat al-Nusra und eine ihrer am stärksten verteidigten Städte. Ihr Verlust bedeutete einen schweren Einschnitt in die militärische Strategie der Gruppe. Noch wichtiger: das Ende einer dreijährigen Belagerung von Nubl und al-Zahra, zwei Städten etwas westlich von Ratyan. Seitdem schreitet die Offensive der syrischen Regierung massiv voran. Mehrere Ortschaften um Aleppo wurden bereits erobert, die Stadt selbst teilweise eingenommen. Heftige Kämpfe toben inzwischen auch um Azaz und Tall Rifat nah der türkischen Grenze, wo kurdische YPG Einheiten und Pro-Regierungstruppen unterstützt durch russische Luftschläge um die Kontrolle der Städte kämpfen. Tall Rifat trennen gerade einmal 10 km zu von Da’esh kontrollierten Gebieten.

Auch wenn Pro-Regierungsmedien größtenteils von „Terroristen“ reden, die momentan bekämpft werden, so kann von unabhängiger Seite kaum einwandfrei geklärt werden, gegen welche Gruppierungen sich die Kämpfe tatsächlich richten. Für die weiteren Betrachtungen ist dies auch nicht weiter notwendig, da vor allem die strategische Dimension wichtig ist. In seinem Blog zitiert der Journalist Elijah M. Magnier eine Quelle, die zumindest die Sichtweise der russischen Regierung auf die einzelnen Gruppierungen wiedergibt. Inwiefern diese zutreffen lässt sich nicht beantworten.

Entscheidender ist folgendes: Die syrische Regierung und ihre Verbündeten gehen auf volle Offensive. Iran hat erst kürzlich weitere Eliteeinheiten nach Syrien gebracht, ebenso wie die Hezbollah. Der Plan scheint klar zu sein: Möglichst viele Geländegewinne zu erzielen, sogar gegen Da‘esh, die in den letzten Monaten größtenteils gemieden wurden. Woher der Sinneswandel? Warum diese Offensive jetzt, wo doch die Tür für Verhandlungen offen steht?

Anwar as-Sadat sagte einst, dass kein Staatschef Krieg um des Krieges Willen führte, sondern um seine Position auf dem Verhandlungstisch zu verbessern. Dieser Prämisse folgend will die syrische Regierung für spätere Gespräche seine militärischen Erfolge nutzen, um aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln. Dies könnte auch erklären, warum die syrische Armee Journalisten von CNN die Planungen im Kampf gegen Da’esh in Palmyra großspurig filmen ließ: weil die syrische Führung genau weiß, dass der Kampf gegen die Djihadisten ein ideales Zugpferd ist, um so ziemlich alles zu rechtfertigen.

Diesem Gedankengang folgt man auch auf der anderen Seiten der Grenze. Der saudische Außenminister sagte, dass im Kampf gegen Da’esh auch eigene Truppen nach Syrien entsendet werden können – natürlich in Koordination mit der internationalen Koalition. Nach der Verlegung saudischer Kampfjets in die Türkei und dem Beschuss von kurdischen YPG-Stellungen, die zumindest – Stand jetzt – Verbündete der syrischen Regierung sind, vom türkischen Gebiet aus, befasst man sich im syrischen Kommandolager mit der Eventualität eines Einmarsches arabisch-türkischer Truppen gen Syrien. Dieser könne entweder über die Türkei oder Jordanien stattfinden, würde aber – so vorherrschende Meinung – von einem OK der USA abhängen. Ob realistisch oder nicht, allein die Tatsache, dass man es in Betracht zieht, kann die neuen aggressiven Vorstöße der Pro-Regierungsseite erklären. Sogar die al-Tabqa Airbase, 5 km östlich von Raqqa, soll ins Visier der Regierung geraten sein. Ende August 2014 erst musste die SAA nach verlustreichen Kämpfen den Flugplatz gegen Da’esh noch aufgeben. Nach der Eroberung wurden 250 syrische Soldaten gefangen genommen und exekutiert, ein schwerer Schlag – und der komplette Verlust der Provinz ar-Raqqa. Jetzt – mit russisch-iranischer Hilfe – scheint die Regierung bereit zu sein zurückzuschlagen. Zur Not auch gegen ausländische Soldaten.

Doch woher die Bereitschaft Russlands und Irans, auf volle Unterstützung zu Syriens Machthaber zu gehen? Die Militäreinsätze kosten sowohl Menschenleben – auch wenn nicht wirklich geklärt, wie viele genau, so verlor das iranische Militär doch bereits mehrere hundert Soldaten – als auch Milliarden von USD. Geld, das beide Länder nicht ohne weiteres entbehren können. Während sich der mediale Diskurs größtenteils um die moralische Verurteilung dreht und dem analytischen Part wenig Platz einräumt, wäre neben der sicherlich rücksichtslosen Kriegsführung beider auch wichtig zu klären, was die Motivation der Parteien ist, sich Hals über Kopf in Syrien zu engagieren. Denn eines scheint eindeutig: Es geht um mehr als um die Person Bashar Assad und die Zukunft Syriens – für beide geht es auch ein Stück weit um ihr politisches Überleben.

Dieser Gedanke mag in Europa vielleicht auch deshalb nicht wirklich aufgekommen sein, weil man sich seit dem Ende des Kalten Krieges mit keiner akuten Bedrohungslage auseinandersetzen musste, während sowohl für Iran als auch Russland die gegenwärtige Situation alles andere als akzeptabel ist. Zum einen wäre da die terroristische Bedrohung, der sich beide stellen müssen. Iran als Nachbarland von Irak, Afghanistan und Pakistan und schiitisches Kernland, ist ein hochgefährdetes Ziel für Extremisten. Ebenso wie Russland, wo in den ehemaligen Teilen der Sowjetunion in Zentralasien potenzielle Krisenherde lauern. Andererseits – ob berechtigt oder nicht – fühlen sich beide der permanenten Bedrohung durch die USA und des Westens ausgesetzt. Nach den Umstürzen in Afghanistan und Irak sowie dem Machtwechsel in Libyen, der ebenfalls der USA zumindest zugerechnet werden kann, wollen beide nicht akzeptieren, dass ein weiteres Land – in ihren Augen – ein Opfer des westlichen Imperialismus wird. Syrien – einer der ältesten Verbündeten für beide, insbesondere für Nach-Revolution-Iran – scheint das rote Band zu sein, das weder Teheran noch Moskau durchschnitten sehen wollen.

Es ist berechtigt, die Einsätze beider Länder zu kritisieren, insbesondere die mangelnde Rücksicht auf Zivilisten. Es ist aber ebenso fahrlässig, ihre Sichtweisen zu ignorieren. Denn für sie ist Syrien ihr Endgame. Sie werden nicht freiwillig zurücktreten und das Land sich selbst überlassen. Auch eine potenzielle Konfrontation mit der Türkei oder Saudi Arabien wird sie nicht abhalten. Mäßigung wird man nicht erwarten können.

Und andersherum? Die Türkei hat klar gemacht, dass sie keinen kurdischen Staat in Syrien akzeptieren wird. Und Saudi Arabien, dass es seine ehemals passive Rolle als Regionalmacht liebend gerne gegen einen Platz an vorderster Front tauschen würde. Die Versorgung der syrischen Opposition scheint nicht mehr genug zu sein – der es wahrlich nicht an ausreichend Waffen mangelt. Direkte militärische Operationen in Syrien könnten folgen. Syrien soll nach dem vergleichsweise kleineren Konflikt im Jemen für das Königreich den Sprung auf die internationale Weltbühne ermöglichen.

Der Game-Changer sind die US-Wahlen nächstes Jahr. Mit einem neuen Commander in Chief wird auch die Syrien-Politik neu gemischt. Die Uhr tickt, das weiß man. Sowohl in Teheran, Moskau, Riad als auch Ankara. Deswegen möchte die syrische Kommandostelle auch in den nächsten Monaten „die Tore der Hölle“ öffnen – ihrer Argumentation folgend gegen die Terroristen Syriens. Saudi Arabien und die Türkei wollen hingegen die Zeit anhalten. Es sind komplett entgegengesetzte Positionen, die sich im Norden des Landes gegenüberstehen. Die Stadt Azaz und die türkische Grenze trennen nicht einmal 5 km. Und doch sind es zwei Welten.

Die türkische Zeitung Hürriyet nahm die neuesten Ereignisse zum Anlass, „13 km bis zum dritten Weltkrieg“ zu titeln. Auch wenn man diesen übertriebenen Pathos nicht wirklich teilen muss, so sollte die Brisanz der jetzigen Situation auch in der europäischen Politik ankommen. Lediglich auf humanitäre Aspekte zu verweisen, wenn es um Syrien geht, und Kritik an der russischen Luftwaffe üben, ist keine Position, die man sich dauerhaft leisten kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Abrahan Garcia

Angehender Orientalist

Abrahan Garcia

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