Wo driftet die Linke?

Gedanklich rechts Heute wird als rechts oder rechtsradikal eingestuft, was vor 35 Jahren in der gesellschaftlichen Mitte oft akzeptiert war. Oder gleichen sich Linke und Rechte?

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"Die Reichen werden Todeszäune ziehen", schrieb 1982 der Verwaltungsjurist, Oberstadtdirektor von Hannover und spätere Intendant des Norddeutschen Rundfunks Martin Neuffer in seinem Buch: "Die Erde wächst nicht mit. Neue Politik in einer überbevölkerten Welt." In diesem Punkt lag er nicht daneben, denn die Diskussion und politische Praxis ist heute genau da angekommen. Die Europäische Union schottet sich ab. Die US-amerikanische Regierung schickt sich an, eine Mauer an ihrer Grenze zu Mexiko zu errichten.

Der Hauptgrund für Wanderungsbewegungen war für Martin Neuffer die exponentiell wachsende Gesamtbevölkerung, die aufgrund der unterschiedlichen Reproduktionsraten in den einzelnen Ländern unterschiedliche Auswirkungen hätte: eine davon sei die Migration. Während er in der Migration in gleichartige Kulturkreise keine gesellschaftlichen Probleme sah, etwa wenn Engländer nach Australien auswanderten, warnte er vor Migranten, deren kultureller und religiöser Hintergrund different sei:

Das amerikanische Beispiel ist instruktiv. Aus eingewanderten Mexikanern werden keine englischsprechenden Nordamerikaner. Sie bringen ihre spanische Kultur und Sprache mit und bilden eine eigene Gesellschaft. (…)

Ein anderes abschreckendes Beispiel sind die asiatischen Minderheiten in Großbritannien. Tatsache bleibt, daß ihre Integration offenbar weithin mißlungen ist, daß sie in einer unterprivilegierten Gettosituation leben, zum Teil in kriminelle Verhaltensweisen abgleiten und zu allem anderen auch noch zur Herausbildung von Reaktionen des Rassenhasses bei der eingesessenen weißen Bevölkerung Anlaß geben.

Für Deutschland, genauer: die Bundesrepublik, zeichnete der als links geltende Sozialdemokrat ein düsteres Bild. Insbesondere sorgte er sich um die Zunahme des "ausländischen" Bevölkerungsanteils. - Damals war der Sprachgebrauch noch ein anderer. Der Begriff "Ausländer" war in der politisch korrekten Sprache noch nicht ersetzt durch "Migranten". - Neuffer schrieb von untragbaren Belastungen für "deutsche Kinder und Lehrer" in der Schule und beobachtete eine "Verdrängung eingesessener deutscher Bevölkerung aus ihren Stadtteilen." Er warnte vor den politischen Streitereien ausländischer Gruppen, die ihre heimischen Konflikte nach Deutschland trügen. Insbesondere zielte er mit dieser Einschätzung auf die Türken. Neuffer forderte eine Änderung des Asylrechts, weil "sich die Zahl derer, die politisch bedroht oder verfolgt werden, leicht auf Hunderte von Millionen Menschen belaufen" würden. Seine Schlussfolgerung war, das Asylrecht auf europäische Flüchtlinge zu begrenzen.

Der Spiegel schrieb 1982 zur öffentlichen Diskussion:

Eine seltsame Allianz ist in der Bundesrepublik entstanden: Von rechtsaußen bis nach links reicht die Riege jener Westdeutschen, denen es nun reicht mit dem Zustrom von Ausländern. Unisono klingt es bei Arbeitern wie Akademikern, National- und neuerdings auch bei Sozialdemokraten: Ausländer - nein danke.

Umfragen ergaben zu dieser Zeit, dass zwei Drittel der westdeutschen Bevölkerung gegen ein Bleiberecht von "Gastarbeitern" waren. Sie "sollten wieder in ihr Land zurückkehren." Der damalige hessische Ministerpräsident Holger Börner (SPD) forderte, der Zuzug von Ausländern müsse "rigoros gestoppt" werden. Kanzleramtsminister Hans-Jürgen Wischnewski (SPD) meinte gar, Türken, die ihren "Hammel in der Badewanne schlachten", könne man den einheimischen Nachbarn nicht mehr zumuten (Der Spiegel, 1982).

Es waren bedeutende Sozialdemokraten, die sich dieser Wortwahl bedienten und in die politische Diskussion eingebrachten. Keiner von ihnen wurde deswegen als ungeeignet für sein Amt befunden. Sie fanden sich innerhalb einer deutlichen Mehrheitsmeinung wieder, wie die oben angeführte Umfrage belegt. So gesehen sind wir bis heute kaum einen Schritt weiter. Ein Unterschied ist dennoch bedeutend: Bei den damaligen Wahlen haben die Rechtsradikalen in Deutschland kaum die Hürde der 5-Prozent-Grenze nehmen können. Heute steht Europa vor ganz anderen Dimensionen rechter Wahlerfolge.

Didier Eribon, der französische Soziologe, der in seinem Buch "Die Rückkehr nach Reims" sein eigenes Milieu, nämlich das Unterschichtendasein, beschreibt, aus dem er sich als Intellektueller lange seiner Herkunft schämend befreien konnte, geht der Frage nach, weshalb diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können und traditionell die Kommunisten in Frankreich wählten, nunmehr bereit sind, den Rechten zu ihrem politischen Erfolg zu verhelfen. Als einen zentralen Aspekt sieht er, dass die Linken Frankreichs die positive Selbsteinschätzung zur Arbeiterklasse zu gehören, zerstört hätten, weil diese als solche bei ihnen keine Beachtung mehr gefunden hätte. Die ihres sozialen Selbstbewusstseins Beraubten hätten auf der Suche nach Ersatz sich nunmehr der Kategorie Franzose zu sein zugewandt. Die Folgen sind bekannt: Der Front-National könnte in diesem Jahr das höchste Staatsamt erringen.

Eine durchaus nachvollziehbare Analyse Didiers, die auf Deutschland angewendet sicherlich Parallelen aufweist. Ein Verstärker war, als mit der Agenda 2010 den Lohnabhängigen ein gesetzliches Strafenbündel übergestülpt wurde, das sie machtlos(er) werden ließ und mit mehr Druck an den Rand der Gesellschaft drängte. Als mit dem PR-Begriff "Selbstverantwortung" soziale Errungenschaften abgebaut und solidarische Organisationsformen wie die Rentengesetze geschwächt wurden, wurde das Selbstbewusstsein – auch das der unteren Mittelschicht – angegriffen, die täglich realisieren muss, was im Falle des Arbeitsplatzverlustes auf sie zukommt.

Die rechte Alternative, die das Deutschsein in den Mittelpunkt rückt, lässt die bürgerlichen Linksliberalen, die inzwischen auch bei der CDU verortet werden, erschreckt reagieren. Ihr sattes Verständnis von Kulturoffenheit, des grenzenlosen Austauschs materieller und immaterieller Güter bei noch weitgehender eigener Existenzsicherheit scheint gefährdet. Dabei sind sie es selbst, die diese tümelnde Rechtswendung hätten verhindern oder mindestens dämpfen können. Denn sie waren es, die dazu beitrugen, den Kapitalismus zu entfesseln. "Die Einwanderungsfrage ist vor allem eine soziale Frage - für die, die kommen und für die, die schon hier leben. Sie ist eine nicht geklärte Frage innerhalb der Programmatik der Linken." Das sagte Oskar Lafontaine.

Martin Neuffer: Die Erde wächst nicht mit. Neue Politik in einer überbevölkerten Welt, 1982

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, 2016

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Geschrieben von

Achtermann

Ich lass' mich belehren. Jedoch: Oft wehre ich mich dagegen.

Achtermann

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