Ist Stuttgart die Folge von Milieukämpfen?

Ausschreitungen Vorgänge lassen sich mit neuer Theorie erklären

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Die Ausschreitungen in Stuttgart erschüttern Deutschland und werfen die Frage auf, wie es zu diesen kommen konnte. Eine zentrale Ursache dafür könnten Milieukämpfe sein. Doch, was besagt diese Theorie?

Milieukampf bedeutet, dass sich zwischen den Lebenswirklichkeiten (Milieus) einer Gesellschaft (oder mehrerer Gesellschaften) Konflikte ergeben, die aktiv oder passiv ausgetragen werden.

Der Grundgedanke ist somit kein schwieriger: Ein Milieu ist die Zusammenfassung von Menschen mit ähnlichen Interessen, Weltansichten, Einstellungen, Mentalitäten und Werten zu einer Gruppe – und zwischen diesen und anderen Gruppierungen existiert ein Potenzial für Auseinandersetzungen, das auf deren Unterschiede basiert. Da die Gesellschaft erodiert und durch den Zeitenwandel immer weiter und schneller zersplittert, herrscht heute ein weitaus komplexeres und größeres Konfliktpotenzial als in der Vergangenheit, das sich zudem stetig wandelt.

Dem Milieukampf gehen stets Milieukonflikte voraus. Milieukonflikte sind Konflikte, die dann begründet werden, wenn die Bedürfnisse der Milieubildenden teilweise oder völlig unerfüllt bleiben bzw. das Selbstverständnis der Lebenswirklichkeit attackiert wird.

Diese Konflikte können sowohl innerhalb einer Lebenswirklichkeit als auch mit Bezug auf weitere Milieus entstehen. Die beiden Grundkonstellationen von Milieukonflikten sind:

  • Fehlende Befriedigung von Bedürfnissen der Personen, welcher dieser Lebenswirklichkeit zugeordnet werden
  • Wahrgenommene Attacken auf das Selbstverständnis (z. B. Selbstbestimmung, Identität usw..) der Lebenswirklichkeit

Im konkreten Fall von Stuttgart gibt es Indizien, dass viele der Täter aus dem sogenannten hedonistischen, Milieu stammen, einer Lebenswirklichkeit, die primär, den Spaß, die Wonne und das Erlebnis sucht. Besagte Lebenswirklichkeit wurde durch die Corona-Einschränkungen massiv beschränkt, was einen Konflikt erzeugt haben könnte, der sich nun in den Ausschreitungen entladen hat.

Dieser Beitrag von Andreas Herteux wird in mehreren Medien erscheinen. Die Theorie des Milieukampfes sowie weitere neue Modelle und Thesen, die in der Summe ein geschlossenes Bild der gesellschaftlichen Realität im 21. Jahrhundert zeigen, wurden im Buch Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklungen im 21. Jahrhundert – Neue Erklärungsansätze zum Verständnis eines komplexen Zeitalters (ISBN-Paperback: 978-3-948621-16-2, 22 Euro, 294 Seiten) zusammengefasst, das am 01.08.2020 im Erich von Werner Verlag erscheinen wird. Einen ersten Überblick bietet die Forschungsveröffentlichung "Die Gesellschaft im 21. Jahrhundert" mit der DOI 10.5281/zenodo.3901373.

Glossar

Dieses Glossar fasst die zentralen Begriffe der vorliegenden Monografie noch einmal zusammen. Gleichzeitig nimmt es Definitionen auf, die für das vorliegende Werk nur eine begrenzte Relevanz haben, für die weitere Diskussion und Vertiefung, im Sinne einer Gesamtschau gesellschaftlicher Entwicklungen, aber eine wichtige Rolle spielen können.

Homo stimulus

Unter einem Homo stimulus versteht man eine derartig konditionierte Person, die an eine permanente Konfrontation mit hochfrequentierten, kurzen sowie künstlichen Reizen gewöhnt ist und sich ihnen kaum oder nur teilweise entziehen kann oder will. Im Gegenteil werden bestimmte Reize oft selbst eingefordert oder ein entsprechender Reizdialog angestoßen.

Identifikationsdissonanz

Die Theorie der modernen Identifikationsdissonanz, die voraussetzt, dass die Erosion der Lebenswirklichkeiten sich dynamisiert hat und die Möglichkeiten der Selbstentfaltung sich potenziert haben, besagt, dass es zunehmend Konflikte des Einzelnen bezüglich der eigenen Rolle als Teil eines Milieus und des persönlichen Individualisierungs- und Einbettungsprozesses geben kann und diese langfristig Einfluss auf die gesellschaftlichen Entwicklungen und Strukturen nehmen werden

Kollektiver Individualismus

Unter einem kollektiven Individualismus wird ein Individualismus verstanden, bei dem das Individuum so eingebettet wird, dass die individuelle Selbstentfaltung innerhalb eines nicht oder kaum sichtbaren Rahmens stattfinden kann. Der kollektive Individualismus ist zugleich die Bezeichnung einer Zeitperiode. Grundsätzlich sind zwei Varianten zu unterscheiden:

Vollständiger kollektiver Individualismus

Der vollständige kollektive Individualismus ist das Produkt eines totalen Individualisierungsprozesses, der nicht mehr durch Milieukämpfe sowie weitere Einschränkungen gehemmt wird. Er ist die Reinform, bzw. das Ideal des kollektiven Individualismus und dürfte im 21. Jahrhundert nicht mehr erreicht werden.

Unvollständiger kollektiver Individualismus

Der unvollständige kollektive Individualismus ist ein kollektiver Individualismus, bei dem der Individualisierungs- und Einbettungsprozess gehemmt oder verlangsamt, wird bzw. nicht vollständig abgeschlossen werden kann. Typische Faktoren dieser Hemmung wären z.B. Milieukämpfe oder die Identifikationsdissonanz. Es handelt sich daher um eine aktuelle Realitätsform. Der kollektive Individualismus des 21. Jahrhunderts wird ein unvollständiger sein.

Milieukampf

Milieukampf bedeutet, dass sich zwischen den Lebenswirklichkeiten (Milieus) einer Gesellschaft (oder mehrerer Gesellschaften) Konflikte ergeben, die aktiv oder passiv ausgetragen werden.

Milieukonflikt

Dem Milieukampf gehen stets Milieukonflikte voraus.

Milieukonflikte sind Konflikte, die dann begründet werden, wenn die Bedürfnisse der Milieubildenden teilweise oder gänzlich unerfüllt bleiben bzw. das Selbstverständnis der Lebenswirklichkeit attackiert wird.

Moderne Reizgesellschaft

Unter einer modernen Reizgesellschaft versteht man einen Zusammenschluss von Individuen, der in starker Frequenz beeinflussenden, in der Regel künstlich erzeugten Reizen ausgesetzt ist und sich diesen nur schwer oder nicht entziehen kann bzw. das zum Teil auch nicht möchte.

Verhaltenskapitalismus

Unter Verhaltenskapitalismus versteht man eine Spielart des Kapitalismus, in der menschliches Verhalten zum zentralen Faktor für die Produktion und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen wird.

Wertekapitalismus

Der Wertekapitalismus [die Wertemarktwirtschaft] ist eine Wirtschaftsordnung, in der Werte zu einem Produktionsfaktor werden.

Zeitenwandel

Unter einem Zeitenwandel versteht man einen zeitlichen Abschnitt, in dem sich dessen einzelne Elemente auf eine solche Art und Weise dynamisch gegenseitig beeinflussen, dass diese eine Neuordnung der bisherigen (globalen) Machtverhältnisse bewirken können.

Diese Elemente sind:

Umgang mit dem technologischen Fortschritt (z. B. Digitalisierung, Verhaltenskapitalismus, Homo stimulus, Biotechnologie, KI, Optimierung des Menschen)Aufstieg neuer Konkurrenten auf den Weltmärkten (z. B. asiatische Staaten)Schwäche der westlichen Welt (z. B. durch Instabilität, schwindendes Vertrauen in bestehende Ordnungen, Verlust von Wettbewerbsfähigkeit oder durch den politischen Aufstieg Chinas)Veränderung der Umweltbedingungen (z. B. durch Klimawandel, Pandemien, Ressourcenausbeutung oder Umweltzerstörung)Fehlen von Perspektiven bei einem Teil der Menschheit (z. B. durch Überbevölkerung oder unbefriedigte Grund- und Sicherheitsbedürfnisse)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

EvW

Andreas Herteux ist der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft, einer unabhängigen Einrichtung, die sich mit den Themen der Zeit beschäftigt.

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