Wertekapitalismus - Value Capitalism

Interview Eine Zukunft voller Herausforderungen braucht neue, visionäre und inovative Lösungen. Eine davon ist das Konzept des Wertekapitalismus (Value Capitalism)

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Das folgende Interview wurde am 05.05.2021 bei Mid Day (Indien), in englischer Sprache, veröffentlicht. Der vorliegende Text ist eine rechtlich freigegebene Übersetzung ins Deutsche und soll als Diskussionsgrundlage dienen

Die Gegenwart ist von vielen Veränderungen und Unsicherheiten geprägt. Soziale Spaltung, geopolitischer Wettbewerb, ökonomische und ökologische Entwicklung, Covid-19 - die Zukunft steckt voller Herausforderungen. Doch wie kann man sich ihnen stellen? Andreas Herteux, Philosoph und Direktor der Erich von Werner Gesellschaft, hat eine Idee, wie es gelingen könnte.

Herr Herteux, was ist Wertekapitalismus und warum brauchen wir ihn?

Der Wertekapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, in dem Werte zu einem Produktionsfaktor werden. Wir brauchen ihn, aus zwei Gründen: Einerseits aus Idealismus, aber auch aus Pragmatismus. Aus Idealismus, weil wir nach der bestmöglichen Welt für alle Menschen streben sollten. Aus Pragmatismus, weil wir uns mitten in einer Ära der Veränderung, einem Zeitenwandel befinden, der gerade die globalen Machtverhältnisse neu ordnet und die westliche Welt, im Besonderen Europa, der Verlierer der Zukunft werden könnte, wenn nicht entsprechende Gegenmaßnahmen konzipiert und umgesetzt werden können. Ein solches Konzept ist der Wertekapitalismus.

Wenn Sie Europa als Verlierer sehen, wer wird dann der Gewinner sein?

Asien wird, solange der eingeschlagene Weg beibehalten wird, die Zukunft gehören, mit zunehmender wirtschaftlicher Kraft auch mehr politischen Einfluss einfordern und auch erhalten. China ist bereits eine Weltmacht.

Europa wird demnach als hinter China zurückfallen?

Nicht nur Europa, auch die USA und die Tendenz. Für den alten Kontinent bleibt am Ende womöglich sogar nur der vierte Platz hinter einem erstarkten Indien, das in den nächsten Jahrzehnten Teile seines Potentials entfalten könnte.

Wird die Corona Krise diese Tendenz nicht verändern?

Nein, die Pandemie wird die Entwicklung tendenziell eher beschleunigen.

Wie könnte der Wertekapitalismus das ändern und ist es nicht gerade der kapitalistische Wettbewerb, in dem der Westen nicht mehr mithalten kann?

Es geht nicht darum diese Regionen um Marktanteile und Wohlstand zu bringen, sondern um das bestmöglichste Wirtschaftssystem für alle. Und ja, es mag zu einer Konstellation kommen, dass der Wertekapitalismus zu einem Bollwerk der Freiheit und Demokratie gegen die Autorität werden muss, aber was wäre in so einem Fall die Alternative? Dass der Kapitalismus chinesischer Prägung, mit seiner kaum durchblickbaren Vermischung von Staat und Privatwirtschaft, die Welt dominiert? Wenn der Westen an dieser Stelle mithalten will, ist eine entsprechende Gegenkraft notwendig.

Aber wie wollen Sie die Wirtschaft dazu bringen werthaltig zu handeln?

In der Regel sind Werte, unter denen wir z.B. Standards wie Arbeitsbedingungen, Mitbestimmungsrechte oder Umweltschutz verstehen, für Unternehmen tendenziell eher hinderlich, wenn es um die Gewinnmaximierung geht. Sie sind, so schlimm es klingt, Ballast. Genau an dem Punkt setzt der Wertekapitalismus ein. Werte müssen als Produktionsfaktor etabliert werden, ohne den die Gewinnmaximierung deutlich erschwert wird. Vereinfacht gesagt, setzt der Wertekapitalismus auf die Gier des freien Unternehmertuns und manipuliert sie. Er schafft eine Wirtschaft, in der man denn Erfolg dann maximiert, wenn man Werte einhält. Es ist ein Konzept, in dem alle gewinnen.

Wie sähe das praktisch aus?

Praktisch gesehen, ist die Technologie der Schlüssel zur Zukunft. Daher macht es Sinn, wenn demokratisch-freiheitliche Nationen einen gemeinsamen Wertefonds, einen Wertehüter, auflegen, der gezielt in diese investiert und eine entsprechende Marktmacht aufbaut.

Was würde dann passieren?

Aus dieser Entwicklung entstehen technologische Standards, die von denen, die sie nutzen möchten, lizenziert werden müssen. Über diese Lizenzierung können nun Werte zum Produktionsfaktor werden, in dem deren Einhaltung zum Vertragsbestandteil wird. Dabei wird kein Unternehmen dazu gezwungen. Es ist eine freie unternehmerische Entscheidung, allerdings wird der Wunsch nach Gewinnmaximierung hier am Ende dazu führen, dass derartige Klauseln akzeptiert werden.

Wäre ein solches Konstrukt nicht eine

Nein, denn der Wertehüter würde indirekt demokratisch legitimiert werden und müsste auch Transparenz- und Rechenschaftspflichten geben. Eventuell könnte das Kontrollgremium, also eine Art Aufsichtsrat, direkt durch die beteiligten Völker gewählt werden. Wir haben daher ganz andere Konstellation als beispielsweise bei Großkonzernen oder autoritären Staaten.

Verstehe, aber wie kann so schnell eine Marktmacht aufgebaut werden?

Konzerne wie Google, Tencent oder Alibaba wurden Ende der 90er, mit wenig Kapital gegründet. Ihre heutige Marktmacht, man kann zumindest von Oligopolen sprechen, ist wohl unbestritten. Denken Sie nicht, dass ein Wertehüter, der mit gigantischem Kapital und großer Rückendeckung starten würde, das nicht auch, wenn nicht besser, hinbekommen würde?

Das setzt eine entsprechende internationale Kooperation voraus. Wird das nicht schwer?

Wir haben beispielsweise eine Nato, eine Uno oder eine EU. Offensichtlich ist eine solche internationale Kooperation möglich. Die EU hat gerade erst einen 750 Milliarden Euro Fonds aufgelegt, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abzumildern. In den USA sind es 1,6 Billionen Euro. Wäre es da nicht klüger, die entsprechenden Mittel zu nutzen, um in einen Wertehüter zu investieren, der sich vielfach auszahlen wird, als notdürftig Löcher zu stopfen?

Vielen wird es nicht gefallen, dass Sie ausgerechnet einen Kapitalismus als Lösung präsentieren.

Ich verstehe das grundsätzliche Misstrauen, aber in dem Fall hätten die entsprechenden Personen den Wertekapitalismus missverstanden. Der Wertekapitalismus ist der Bändiger des Kapitalismus. Er zügelt ihn und wandelt ihn so um, dass er der Allgemeinheit maximal dient. Wenn der Kapitalismus der reißende Strom ist, der alles mit sich nimmt, dann ist der Wertekapitalismus die Kraft, die den Fluss befriedet und ihn ruhigerer Bahnen lenkt. Aus der stürmischen Überschwemmung, wird ruhiges, nutzbares sowie segensreiches Wasser. Im Grunde genommen, ist der Wertekapitalismus all das, was die Antikapitalisten immer wollten. Er grenzt nur die Kapitalisten nicht aus.

Vielen Dank für das Gespräch

Andreas Herteux ist Wirtschaftswissenschaftler, Publizist, Philosoph sowie Gründer und Leiter der Erich von Werner Gesellschaft, einer unabhängigen Institution für Zeitfragen. Sein Fokus liegt auf dem sozialen, politischen, technologischen sowie ökonomischen Wandel.

Eine kurze Zusammenfassung der Theorie des Wertekapitalismus findet sich in dem Werk "Value Capitalism - Wertekapitalismus": English - Deutsch - Français - Español - Português - Italiano, Erich von Werner Verlag, 19.04.2021, ISBN-13: 978-3948621285, eine freie Alternative findet sich unter der DOI 10.5281/zenodo.4707282

Definition: Wertekapitalismus

Der Wertekapitalismus [die Wertemarktwirtschaft] ist ein Wirtschaftssystem, in dem Werte zu einem Produktionsfaktor werden.

Definition: Praktischer Wertekapitalismus (erweiterte Definition)

Der Wertekapitalismus [die Wertemarktwirtschaft] ist eine Evolution und ein Korrektiv des kapitalistischen Systems und basiert auf Nutzenmaximierung durch wertbasiertes Handeln.Er nutzt Marktmechanismen.Ziel ist globaler Frieden, Freiheit und Wohlstand. Er transformiert den Kapitalismus, in dem er Schlüsselindustrien der Zukunft demokratisiert und dann marktbasierend und wertgerecht an die Marktlage anpasst.Er übt keinen Zwang auf Marktteilnehmer aus, sondern leitet deren Wunsch nach Gewinn- und Nutzenmaximierung auf eine solche Art und Weise um, dass sich dem gewünschten Optimum dann am besten angenähert werden kann, wenn dieses wertebasierend und zum Wohle aller geschieht.

Definition: Wertehüter

Der Wertefonds (Wertehüter) ist eine demokratisch-legitimierte, im Eigentum der Staatsbürger stehende, politisch unabhängige, Einrichtung, die einerseits versucht eine dominante Rolle auf dem Feld der technologischen Schlüsselindustrien einzunehmen und andererseits anstrebt, über vertragliche Konstrukte Werte - im Sinne des Wertekapitalismus - zu implementieren.

Seine Funktionen sind:

- Korrektivfunktion

Der Wertekapitalismus ist ein Korrektiv des Kapitalismus.

- Brandfunktion

Der Wertekapitalismus besetzt bestimmte technologische Schlüsselfelder, über die er den Kapitalismus beeinflusst.

- Implementierungsfunktion

Der Wertekapitalismus macht Werte zu einem volkswirtschaftlichen Produktionsfaktor.

- Marktfunktion

Der Wertekapitalismus etabliert einen Wertehüter, der am Markt aktiv wird.

- Lizenzierungsfunktion

Der Wertehüter vergibt Lizenzen und nutzt die Vertragsgestaltung zur Implementierung von Werten.

- Investitionsfunktion

Die Geberlänger investieren einerseits in den Wertehüter. Dieser investiert wiederum in die Schlüsselindustrien.

- Finanzierungsfunktion

Der Wertehüter finanziert mittel- und langfristig die Geberstaaten.

- Mitbestimmungsfunktion

Der Wertefonds wird demokratisch durch die Staatsbürger legitimiert.

- Schutzfunktion

Der Wertekapitalismus ist ein Bollwerk und Schutzschild gegen anti-demokratische und anti-freiheitliche Bestrebungen. Er schützt zudem die Technologie an sich vor der Monopolisierung durch einzelne Unternehmen oder Staaten.

- Transparenzfunktion

Der Wertehüter ist eine demokratisch-legitimierte Einrichtung die zu besonderer Transparenz verpflichtet ist.

- Laissez-faire-Funktion

Der Wertekapitalismus lässt dem Individuum seine freie Entfaltung und unterlässt jegliche Beeinflussungs- oder Erziehungsversuche.

- Demokratisierungsfunktion

Der Wertekapitalismus strebt die Förderung, Errichtung und Verbreitung von freiheitlich-demokratischen Ordnungen an und ist so konzipiert, dieses auch

- Identifikationsfunktion

Der Wertehüter ist ein treuer Freund des Staatsbürgers und bietet ein hohes Identifikationspotential, denn er ist unbestechlich, stark und stets auf der Seite des Rechtes.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

EvW

Andreas Herteux ist der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft, einer unabhängigen Einrichtung, die sich mit den Themen der Zeit beschäftigt.

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