Eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit

Ungleichheit Der Diskurs über Verteilungsgerechtigkeit wird maßgeblich bestimmt durch den jeweiligen ideologischen Standpunkt. Selten wird die ideologische Brille abgenommen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ungleichheit soll gar kein großes Problem sein? Eine ganze Reihe von Beispielen und Tatsachen belegen das Gegenteil
Ungleichheit soll gar kein großes Problem sein? Eine ganze Reihe von Beispielen und Tatsachen belegen das Gegenteil

Foto: Michal Cizek/AFP/Getty Images

Dies ist ein Versuch, eine differenzierte Debatte aufrechtzuerhalten, sich den nüchtern Entwicklungen tatsächlich zu stellen und sich nicht die Welt schön zu reden, wie es einem gefällt – aus Feigheit sich kognitiver Dissonanz auszusetzen.

Seit der Veröffentlichung des Berichts zur weltweiten Ungleichheit im Dezember 2017 von Thomas Piketty und seinen Kollegen überschlagen sich einmal wieder die Schlagzeilen in deutschen Zeitungen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) titelte zur Studie vom umstrittenen Ökonom: Die wirtschaftliche Ungleichheit auf der Welt geht zurück. Die Zeit schreibt am gleichen Tag aber „Soziale Ungleichheit weltweit gewachsen“. Die Süddeutsche Zeitung zitiert vom Bericht: „Deutschland ist so ungleich wie vor 100 Jahren“. Was denn nun?

Die erste Schlagzeile meint damit natürlich, dass die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den einzelnen Volkswirtschaften weltweit abnimmt. Die zweite Schlagzeile bezieht sich auf das Einkommensgefälle zwischen Spitzenverdienern und Mittelschicht seit 1980 und die Rolle von Privatisierungen. Die dritte Schlagzeile meint die Entwicklung der Bruttoeinkommen in Deutschland seit dessen Gründung 1871.

Noch ausgefallener sind die Kommentare in der FAZ und der Zeit zum Thema. Patrick Bernau weiß, Was Piketty gerne verschweigt: „Seit 2005 [...] stagniert die gesamtgesellschaftliche Ungleichheit. Sie liegt immer noch deutlich höher als 1980, doch offenbar wurde vor ungefähr zwölf Jahren ein Mittel gefunden, das den weiteren Anstieg zumindest gestoppt hat. War das Gerhard Schröders Agenda 2010 mit den Hartz-Gesetzen? Darüber wäre zu diskutieren. Kein Wunder, dass Freunde der Umverteilung diesen Trendbruch gerne verschweigen.“ Auch der Kommentar vom Präsidenten des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung Clemens Fuest lässt verlauten: „In Deutschland hat die Einkommensungleichheit in den letzten zehn Jahren nicht zugenommen, in dem Jahrzehnt davor, zwischen 1995 und 2005, aber schon. Das war vor allem eine Folge steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Entlohnung niedrig qualifizierter Arbeit.“ Mit diesen Aussagen hallt der Ton im jüngsten Jahresgutachten der Fünf Wirtschaftsweisen wider: „Die Ungleichheit der Nettoeinkommen ist seit dem Jahr 2005 zwar weitgehend stabil geblieben. […] Dass dennoch ein immer intensiverer Ungleichheitsdiskurs geführt wurde, dürfte ein Auseinanderklaffen von Wahrnehmung und statistischer Faktenlage widerspiegeln. Allerdings kann die Analyse der Einkommensungleichheit nur wenig dazu beitragen, die weit diffusere Wahrnehmung zunehmender Ungerechtigkeit in der Gesellschaft zu ergründen.“

Ulrike Herrman von der Tageszeitung attestiert diesen neoliberalen Statistikbastlern eine „seltsame Logik“, wonach Ungleicheit nur ein Problem sei, wenn diese nicht zunehme. Zudem sei es höchst bedenklich, wenn die Ungleichheit zu Zeiten relativ hoher Arbeitslosigkeit wie um 2005 stagniert und heutzutage in Zeiten mit nahezu Vollbeschäftigung diese nicht erwartungsgemäß abnimmt, sondern in der Hochkonjunktur sogar tendenziell weiter steigt: „Das Lohndumping der Agenda 2010 sorgt dafür, dass sogar in der Hochkonjunktur die Ungleichheit nicht abnimmt.“

Fakt ist, dass im Jahr 2014 die reichsten zehn Prozent der privaten Haushalte in Deutschland 59,8 Prozent des Nettogesamtvermögens besitzen, während die ärmere Hälfte auf lediglich 2,5 Prozent kommt. Fakt ist auch, dass die oberen zehn Prozent der privaten Haushalte bis zu 36,8 Prozent des Nettogesamteinkommens für sich in Anspruch nehmen können, während gleichzeitig den unteren fünfzig Prozent lediglich 22,6 Prozent vom jährlich Erwirtschafteten bleiben. Die Werte entstammen der Studie „Private Haushalte und ihre Finanzen“ der Deutschen Bundesbank vom März 2016. An der Studie nahmen rund 4.500 Haushalte teil, rund die Hälfte schon in der ersten derartigen Studie im Jahr 2010. Verglichen mit anderen Ländern im Euroraum sind die Vermögen hierzulande relativ ungleich verteilt.

Außerdem ist auch die Entwicklung bei der Einkommensverteilung zeitlich relativ konstant geblieben, tendenziell für die ärmere Hälfte eher dürftig und für die reichere Hälfte eher lukrativ. Die inflationsbereinigte Reallohnentwicklung pro ArbeitnehmerIn ist laut Statistischem Bundesamt seit der Wiedervereinigung quasi stagnant. Solch große Lohnmoderation in Deutschland bedeutet, dass LohnempfängerInnen heute nicht wesentlich mehr zum Leben bleibt als noch vor gut drei Jahrzehnten. Während Gewinn- und Vermögenseinkommen zwischen 2000 und 2011 fast um fünfzig Prozent an Wert zulegen konnten, entwickelten sich die ArbeitnehmerInnenentgelte im gleichen Zeitraum um nur rund ein Fünftel nach oben (siehe Hans-Böckler-Stiftung). Ein ähnliches Bild zeigt sich wieder bei den preisbereinigten Nettoeinkommen: zwischen 2000 und 2009 ist dies beim obersten Hundertstel der Haushalte in Deutschland um bis zu fünfzig Prozent angestiegen, während es bei der unteren Hälfte real negativ ausgefallen ist. Karl Brenke vom DIW Berlin spricht daher von einer „Umverteilung nach oben aufgrund schwacher Lohnentwicklung“. Somit ist also der vornehme Herr Bernau von der FAZ der tatsächliche „Freund der Umverteilung.“ Fakt ist deswegen weiterhin, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland hoch bleibt und v.a. junge Alleinlebende und BerufseinsteigerInnen zunehmend von Armut bedroht sind. Wem das nicht ideologisch in sein Weltbild passt, leidet, wie Herr Fuest in seinem Kommentar eben meint, an selektiver Wahrnehmung. Selbst die OECD rügt Deutschland, wegen seiner ausgiebigen Lohnzurückhaltung. Die OECD ist keineswegs eine linke Organisation wohlgemerkt (oder doch?), sondern ein Relikt des Marshallplans nach der menschlichen Katastrophe und des zivilisatorischen Zusammenbruchs zwischen 1933 und 1945.

Für den Soziologen Wolfgang Streeck rührt die gängige selektive Wahrnehmung zum Thema Ungleichheit im Prinzip daher, dass Gesellschaften keine allgemein-akzeptierten Kriterien von sozialer Gerechtigkeit finden. Auf der einen Seite ist die Rede von sozialen Bedürfnissen und damit einhergehenden legitimen Ansprüchen eines Jeden auf eine ganze Reihe sozialer Rechte. Auf der anderen Seite machen die Wirtschaftswissenschaften den BürgerInnen und ihren gewählten RepräsentantInnen glauben, dass wahre Gerechtigkeit ausschließlich die Gerechtigkeit des Marktes sei, unter welchem alle individuellen Marktteilnehmenden gemäß ihrer Leistung entlohnt werden würden. Verteilungsgerechtigkeit ist im demokratischen Kapitalismus daher ein fortwährendes Verschieben und mehr und minder geschicktes Ausweichen dieser zentralen Fragestellung. Angesichts des Aufbrechens des neoliberalen Konsenses seit der Finanzkrise vor gut einem Jahrzehnt bzw. des aufkeimenden Unmuts und der wahrgenommenen Existenzängste ureingeborener Bio-Deutschen ist es höchste Zeit über Verteilungsgerechtigkeit zu sprechen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden