Sozialeugenik: Ralph Giordano unterstützt Sarrazin

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Manchmal gibt es merkwürdige Koinzidenzen. Ich lese bei einer Freundin die SPD-"Familienpolitik für das 21. Jahrhundert" von 2001 und sehe nebenbei die Science-Fiction-Serie "Torchwood". In diesem Film geht es darum, dass übermächtige Aliens eine Millionen Kinder einfordern. Die Regierungen stimmen zu und heimlich organisieren sie das Einsammeln von Kindern. Genau in dem Moment, wo ich Renate Schmidts Formulierung "Kinderreichtum bei den Benachteiligten, Kinderarmut bei der restlichen Bevölkerung hat gravierende Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Bevölkerung" lese, beruhigt eine Regierungsagentin eine verängstigte Mutter: "Ihrem Kind passiert nichts, es ist ein gutes Kind. Wir nehmen nur die Kinder von der Straße". Und kurze Zeit später stürmen Soldaten ein Arbeiterviertel.

Sozialeugenik ist nicht nur Bestandteil der aktuellen deutschen Familienpolitik, die das sozialkompensatorische Erziehungsgeld durch das einkommensabhängige Elterngeld ersetzte mit dem unverhohlenen Grund, die Zahl der Akademiker zu steigern. Der Diskurs, dass die Unterschicht angeblich zu viele Kinder bekommt und dass dies schlecht sei, ist genau so dominant wie die Warnung vor einer zu niedrigen Kinderzahl in Deutschland.

Sarrazins Äußerungen waren nicht nur rassistisch. Sein Rassismus wurde zurecht angegriffen. Der Berliner Integrationsbeauftragte Günter Piening warf Sarrazin "rassistische Äußerungen" vor und ähnlich äußerten sich Kenan Kolat von der Türkischen Gemeinde und Stefan Kramer vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Die Bundesbank reagierte mit einer Distanzierung und einer Strafmaßnahme gegen Sarrazin und die Berliner Staatsanwaltschaft prüft Ermittlungen wegen des Verdachts auf Volksverhetzung. Zurecht. Aber die Kritik richtete sich ausschließlich gegen die rassistischen, nicht gegen die sozialeugenisch-klassistischen Sprüche gegen die sogenannte "Unterschicht".

Zur Erinnerung: Sarrazin behauptete, ein großes Problem in Berlin sei, "dass 40 Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden" mit der Folge, dass das Niveau an den Schulen kontinuierlich sinke, statt zu steigen. "In Berlin gibt es stärker als anderswo das Problem einer am normalen Wirtschaftskreislauf nicht teilnehmenden Unterschicht." Diese sozialeugenische Formulierungen sind neue Perlen auf einer alten Schnur, sie reihen sich ein in eine schaurige Sammlung klassistischer Sprüche.

Was wäre geschehen, wenn er sich nur klassistisch, nur sozialeugenisch geäußert hätte? Nicht viel. Ein kurzes amüsiertes Kopfschütteln ohne Konsequenzen. Die sogenannte "Unterschicht" kann nicht für sich sprechen, sie hat noch nicht mal eine Lobby. Sie sollen keine Kinder bekommen. Und sie sollen kein Geld für Kinder bekommen. Wird dies der nächste Schritt sein: Essensmarken statt Elterngeld?

Sarrazins Sozialeugenik ist inzwischen unwidersprochener Mainstream. Ralph Giordano zu Sarrazin: "Er hat doch recht, wenn er sagt, je niedriger die Schicht, desto höher die Geburtenrate. Er hat doch recht, wenn er sagt, große Teile sind weder integrationswillig noch integrationsfähig. Er hat doch recht, wenn er sagt, wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen, nämlich weg von der Geldleistung, vor allem bei der Unterschicht."

Eigentlich schade, dass es keine Aliens gibt, nicht wahr, Ralph Giordano?


Die sozialeugenischen Passagen des Interviews finden sich auch in meinem Artikel Sarrazins Sozialeugenik.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

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