Lässt sich der gordische Knoten des Syrienkonfliktes durchschlagen? Die Antwort lautet: Nein. Einer wie Alexander der Große, der diese Aufgabe im Jahr 333 vor Christi mit dem Schwert löste, ist nicht in Sicht. Aber der Knoten ließe sich durchaus entwirren und zumindest teilweise auflösen. Die Hauptverantwortung für die Schritte zur Beendigung des Krieges liegt bei den USA und Russland. Möglich würde dann eine politische Lösung zumindest für einen Teil Syriens: das von Regierungsstreitkräften und Oppositionsmilizen umkämpfte westliche Drittel des Staatsgebiets zwischen Aleppo im Norden und Dera im Süden sowie die kurdischen Regionen an der Grenze zur Türkei.
Damit hunderttausende verzweifelte und notleidende Menschen endlich versorgt werden können, müssten sich Washington und Moskau zuallererst auf ein mindestens zweiwöchiges Flugverbot über Syrien einigen, das sie auf gemeinsamen Antrag durch den UNO-Sicherheitsrat mandatieren lassen und dann auch gemeinsam überwachen und durchsetzen.
Unerlässliche Voraussetzung für alle weiteren Fortschritte wäre, dass die USA und Russland sich endlich einigen, wie sie etwa die beiden militärisch stärksten Milizen auf dem syrischen Schlachtfeld, die „Islamische Front“ und die „Islamische Bewegung freier Männer der Levante“, einstufen wollen. Sie werden von der Obama-Administration als legitime Oppositionskräfte betrachtet und unterstützt. Russland sieht in ihnen wegen ihrer engen ideologischen und operativen Verbindungen zum Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front dagegen Terroristen, die bekämpft werden müssen. Solange dieser Konflikt nicht gelöst ist, hat die Regierung Assad einen Vorwand, ihre Luftangriffe ungehindert fortzusetzen.
Sollte es gelingen, eine dauerhafte Waffenruhe zwischen Regierungstruppen und Oppositionsmilizen im westlichen Drittel Syriens zu etablieren, müssten die USA und Russland dafür sorgen, dass die Türkei ihre militärische Aggression gegen die Kurden in Syrien einstellt – notfalls auch durch UN-Sanktionen gegen Ankara.
Erst dann wäre es überhaupt sinnvoll, die Konfliktparteien wieder zu Verhandlungen nach Genf einzuladen. Auch Vertreter der Kurden – der größten ethnischen Volksgruppe im Land– müssten daran beteiligt werden. UN-Vermittler Staffan de Mistura hatte die Kurden nach erpresserischem Druck der Regierung Erdoğan auf die EU und die USA im Frühjahr dieses Jahres wieder ausladen müssen – ein schwerer politischer Fehler.
Der vom Sicherheitsrat einstimmig abgesegnete Wiener Friedensplan vom November 2015 sieht als erstes Verhandlungsziel nach Etablierung einer Waffenruhe die Bildung einer syrischen Übergangsregierung aus Vertretern der Regierung Assad und der Opposition vor. Doch die Chancen dafür sind nach der brutalen Gewalteskalation der vergangenen Woche noch geringer geworden. Daher sollten die USA und Russland im Sicherheitsrat durchsetzen, dass nach maximal zwei Monaten ergebnisloser Verhandlungen eine Übergangsverwaltung der UNO in Syrien eingesetzt wird, unterstützt von Blauhelmtruppen. Diese UN-Mission hätte die Maßnahmen umzusetzen, die bereits der Friedensplan des ersten Syrien-Vermittlers Kofi Annan vom Februar 2012 vorsah, darunter die Durchsetzung der Waffenruhe, ein Verbot von Waffenimporten, die Freilassung aller politischen Gefangenen und die Vorbereitung von Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung und eines neuen Präsidenten. Zugleich müsste schon während der UN-Übergangsverwaltung der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Infrastruktur und von Wohnhäusern beginnen, um die Rückkehr von Flüchtlingen zu ermöglichen.
Alle syrischen Oppositionskräfte sind sich – bei allen sonstigen Differenzen – einig, dass Präsident Bashar al-Assad spätestens mit Bildung einer Übergangsregierung abtreten muss. Assads Anhänger halten dagegen, dass bis zu 80 Prozent der Syrer immer noch hinter ihm stehen und er selbst bei künftigen freien, allgemeinen und geheimen Präsidentschaftswahlen im Amt bestätigt werden würde. Das ist nach den Verheerungen der vergangenen fünf Kriegsjahre zwar äußerst unwahrscheinlich. Für den innersyrischen Aufarbeitungs- und Versöhnungsprozess aber wäre eine Entscheidung über die Zukunft Assads durch die Wähler viel sinnvoller als ein Sturz des umstrittenen Präsidenten durch ausländische Mächte. Daher sollte Assad bei der nächsten Wahl noch einmal antreten können. Diese Einsicht müsste Washington den Oppositionsgruppen vermitteln.
Die Frage, ob der sogenannte Islamische Staat (IS) einen solchen Friedensprozess torpedieren würde, um davon militärisch zu profitieren, oder sich auf die von ihm jetzt noch gehaltenen syrischen Territorien beschränken würde, ist vorab nicht zu beantworten. Sicher ist nur, dass der andauernde Krieg im westlichen Teil Syriens und in den nördlichen Kurdengebieten den IS stärkt und ihm immer wieder neue Kämpfer und Waffen zutreibt. Eine Befriedung dieser Teile Syriens könnte die Terrormiliz schwächen und ihren Nachwuchs austrocknen. Notfalls wäre mit dem IS auch über eine Tolerierung zu verhandeln, so schwer das angesichts der brutalen Gräueltaten auch fallen mag. Aber eine Dreiteilung Syriens mit wenigstens zwei befriedeten Regionen wäre verglichen mit der aktuellen Lage das weitaus kleinere Übel.
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