Vergesst diese Menschen nicht

Kommentar Die syrischen Weißhelme erhalten den "alternativen Nobelpreis". Das ist ein wichtiges Signal: Wir müssen unsere Aufmerksamkeit verschieben

Die Bilder sind verwackelt, vermutlich wurden sie von einer Handykamera gefilmt: Von oben sieht man eine Stadt im Nahen Osten, weiße Dächer, Minarette, blauer Himmel. Plötzlich explodieren einige Häuser und eine Staubwolke legt sich über die Szene. Das nächste Bild zeigt Männer mit weißen Helmen, die auf ein zerstörtes Gebäude zu laufen. Einige von ihnen schaffen eine Trage herbei. Sie tragen Trümmer beiseite und ziehen Verletzte unter dem Beton hervor.

Die Stadt, die man in dem Youtube-Video sieht, ist Aleppo – einer der bekanntesten Kriegsschauplätze im Syrien-Krieg. Unzählige Bomben haben in den letzten Jahren aus einem lebenswerten Ort mit Geschichte eine Todesfalle für seine Bewohner gemacht.

Und doch: Noch immer leben dort Menschen. Die so genannten „Weißhelme“ sind einige von ihnen – Männer und Frauen, die in den zerstörten Städten wohnen und erste Hilfe nach Bombenangriffen leisten. 60 000 Menschen haben sie nach eigenen Angaben bereits gerettet, 141 von ihnen verloren dabei ihr Leben. Für ihr Engagement unter Beschuss hat die Gruppe, die eigentlich „Syrian Civil Defense“ heißt, nun den „alternativen Nobelpreis“ bekommen – einen Preis, der soziales Engagement weltweit würdigt.

Diese Auszeichnung an die knapp 3000 Weißhelme zu verleihen, ist ein wichtiges Signal an den Westen. Denn noch immer beschäftigt sich die mediale Debatte zu wenig mit der Zivilgesellschaft vor Ort. In unseren Zeitungen verlangt Außenminister Steinmeier eine Flugverbotszone, aber was bedeutet es denn eigentlich, wenn ein Hilfskonvoi abgeschossen wird? Reden wir über Syrien, sprechen wir stattdessen über Luftangriffe der USA oder von Russland. Wir beobachten Verhandlungen von weißen Männern und diskutieren natürlich über die Geflüchteten, deren bloße Anwesenheit hier bereits die Gesellschaft spaltet.

Über realpolitischen Debatten vergessen wir oft die Zivilgesellschaft. Dabei ist sie noch immer vor Ort – dort unten in Aleppo und in Damaskus, in Homs und in Dar'a. Natürlich fehlt es an Journalisten, also wie kann man die Geschichten erzählen? Viele der Geflüchteten in Deutschland haben noch Familie in Syrien. Täglich telefonieren sie mit ihren Angehörigen über Skype oder schreiben sich Nachrichten per WhatsApp. Ihnen können wir zuhören.

Alternative Nobelpreis

Der alternative Nobelpreis heißt eigentlich Right Livelihood Award. Er hat mit dem klassischen Nobelpreis nichts zu tun. Die schwedische Right-Livelihood-Stiftung verleiht ihn seit 1980 jährlich an Personen oder Gruppen, die praktische Antworten auf globale Herausforderungen geben. So wurden in den letzten Jahren unter anderem LGTBI*-Aktivisten und indigene Gruppen ausgezeichnet. Neben den Weißhelmen gewannen in diesem Jahr die türkische Zeitung Cumhuryiet, die russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina und die ägyptische Feministin Mozn Hassan. Das Preisgeld wird durch Spenden finanziert. In diesem Jahr teilten sich die Preisträger 310 000 Euro. Für die syrischen Aktivisten wird Raed Saleh, Direktor des Syrischen Zivilschutzes, den Preis im November in Stockholm entgegen nehmen.

Mehr Informationen unter www.rightlivelihood.org/

Während die nächste Waffenruhe nicht einmal eine Woche gehalten hat – versuchen die Menschen in Syrien an Gemüse zu kommen und ihre Stromleitungen zu reparieren. Die Lebensmittelpreise dort sind seit Anfang des Krieges explodiert, ein Kilo Tomaten kostet mittlerweile mehr als das Vierfache von vor fünf Jahren. Auch das berichten Angehörige. Viele der Menschen leben teilweise monatelang ohne Elektrizität, Wohnungen in ruhigeren Gebieten sind heute für die meisten Syrer unbezahlbar. Krieg, das sind nicht nur Bomben und Gewehre, Krieg, das ist auch das Wegbrechen von Infrastruktur.

Wer unterrichtet jetzt die Kinder? Wo kann man frisches Brot kaufen? Wie stellt man die Wasserversorgung sicher? Das alles sind mindestens so entscheidende Fragen, wie die nach politischer Verantwortung.

Genau deshalb ist die Verleihung des „Right Livelihood Award“ an die syrische Gruppe jetzt so unheimlich wichtig. Der Preis verschiebt unsere Aufmerksamkeit. Die Weißhelme stehen nämlich auch für die vielen anderen Organisationen und Initiativen, die es im ganzen Land noch gibt. Diese Menschen leisten erste Hilfe, gründen Schulen, verteilen Lebensmittel – sie halten das Leben in den Kriegsgebieten am Laufen. Die politische Situation in Syrien ist verfahren, einfache Lösungen gibt es nicht. Trotzdem sollten wir genau Hinschauen. Die Verleihung des „alternativen Nobelpreises“ zeigt: Es gibt sie noch, die Menschen in Syrien und wir dürfen sie nicht vergessen.

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Geschrieben von

Paul Hildebrandt

Ich schreibe über Soziales, Politisches, über Migration und Kinderthemen. Dazwischen reise ich - in Deutschland und durch die Welt.

Paul Hildebrandt

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