Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm: Wo Film auf Wirklichkeit trifft
Dok Leipzig Die diesjährige Auswahl des Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm handelte von den aktuellen Krisen und Tragödien – manchmal bis zur Grenze des Aushaltbaren
In seinem audiovisuellen Tagebuch „While the Green Grass Grows“, ausgezeichnet mit der Goldenen Taube Langfilm, verwebt Peter Mettler sein eigenes Leben mit der Zukunft
Foto: Peter Mettler/While the green Gras grows/Dok Leipzig 2023
Wo schaut man am besten einen Film, zu Hause oder im Kino? Eine Frage, zu der Filmfestdirektor Christoph Terhechte vermutlich eine gelassene, aber überzeugende Rede halten würde, deren Essenz ungefähr diese sein dürfte: Der Film gehört ins Kino! Anders lässt sich die Entscheidung kaum deuten, das diesjährige Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm weiterhin fast ausschließlich in den Leipziger Kinosälen stattfinden zu lassen. Lediglich sieben Filme konnte man in der Woche online anschauen. Während das Dokfest München seit letztem Jahr gänzlich hybrid stattfindet, setzt Terhechte weiter auf die Erfahrung im Kinosaal. Man könnte dagegen einiges einwenden, man könnte aber auch sagen: Terhechte weiß e
; es besser.Denn wer beim diesjährigen Dok Leipzig war, der muss zugestehen: Viele der Filme lassen sich nicht von der Couch aus begreifen. Sie sind kein Stoff für zwischendurch, wären zwischen Tür und Angel nicht zu verdauen. Im Kinosaal gibt es keine Ablenkung, keine Pause, es sei denn, sie muss unbedingt sein: „Wenn jemand sagt, ich brauche eine Pause, ist es nicht schlimm, für einen Moment hinauszugehen.“ Dieser Hinweis war in dieser oder ähnlicher Art in diesem Jahr öfter auf dem Festival zu hören. Denn die diesjährige Ausgabe strotzte nur so vor Filmen über die aktuellen gesellschaftlichen Tragödien, Filmen, die sich gerade noch aushalten lassen. Die wir aushalten müssen?Eingebetteter MedieninhaltZumindest wenn es nach dem Protagonisten des Eröffnungsfilms White Angel – das Ende von Marinka ginge. Wassyl ist Polizist. Als die Kleinstadt Marinka in der Ostukraine unter Beschuss gerät, entscheidet er sich mit seinem Kollegen, die Menschen vor Ort zu evakuieren. Mittels seiner Helmkamera zeichnet er die Einsätze auf und übergibt sie schließlich dem Leipziger Investigativjournalisten Arndt Ginzel. „Wassyls Wunsch ist es, dass die Menschen sehen, was er mit eigenen Augen gesehen hat“, berichtet der Regisseur bei der Weltpremiere seines Eröffnungsfilms.Wer bleibt, wartet auf den TodWas der Zuschauer zu Gesicht bekommt, sieht zunächst aus wie das Material eines Videospiels: Die Kamera ist immer direkt im Geschehen, zeigt Tote, Verletzte und Bewohner, die mehrere Monate in ihren Häusern ausgeharrt haben. „Hausbewohner? Evakuierung!“, brüllt Wassyl über das Grundstück. Die Zeit drängt, alles muss jetzt sehr schnell gehen. Doch die Bewohner brauchen Zeit, viele sind sichtlich verwirrt vom wochenlangen Aufenthalt im Bunker. „Wir müssen noch unsere Sachen packen!“ Von draußen hört man den Artilleriebeschuss aus der Ferne. Selbst in dieser existenziellen Notlage müssen die beiden Polizisten immer wieder mit Ruhe und Geduld auf die Bewohner einreden, sich zu beeilen.Und dann sind da noch diejenigen, die überzeugt werden müssen, mitzukommen. Immer wieder diskutiert Wassyl verzweifelt mit einzelnen Bewohnern: „Willst du hier auf den Tod warten?“ Aber auch diese Entscheidung wird akzeptiert, man gibt sich die Hand und wünscht sich alles Gute. Manche Bewohner scheinen sich ein Leben außerhalb der Heimat, ohne ihr Hab und Gut, einfach nicht vorstellen zu wollen.Ein weiterer Film zeigt eine Rettungsaktion, Einhundertvier von Jonathan Schörnig. Gemeinsam mit seinem Team hat er die Arbeit des Rettungsschiffes Eleonore der Mission Lifeline im Mittelmeer begleitet. Dabei entstanden ist ein Film, der in Echtzeit die Rettung von insgesamt einhundertvier Menschen im Mittelmeer zeigt. Der Zuschauer wird direkt in die Situation katapultiert. Noch beobachtet Kapitän Reisch ruhig und aufmerksam das Radar, checkt ab und zu sein Handy. Eigentlich war er auf der Suche nach einem Boot mit Frauen und Kindern. Was er nicht weiß, ist, dass seine Crew auf dem Motorboot bereits einen anderen Rettungsfall entdeckt hat: Es ist ein meterlanges blaues Schlauchboot mit mehr als Hundert Männern.Als die Crew das Boot erreicht, herrscht helle Freude bei den zu Rettenden, doch die dauert nicht lange an. Denn die Seenotretter fordern einiges an Disziplin und Ordnung. Das sinkende Schlauchboot vor Augen erklärt Seenotretterin Clara immer wieder mit unbändiger Geduld das Vorgehen, ruft immer wieder zu Ruhe und Ordnung auf. Umso länger es dauert, desto schwieriger wird es, diese aufrechtzuerhalten, denn: Das Team kann nur sechs Menschen pro Fahrt zum Rettungsschiff bringen. Insgesamt neunzig quälende Minuten dauert die Aktion von der Entdeckung bis zur finalen Rettung auf dem Schiff. Und dann kommt auch noch die libysche Küstenwache gefährlich nahe an das Boot. Schörnig zeigt diese Bilder auf einem Splitscreen, die Aktion wird zeitweise von bis zu sechs verschiedenen Kamerawinkeln gleichzeitig gezeigt. Immer wieder wechseln die Kameraperspektiven entsprechend dem Ort des Geschehens. Ein Film wie ein Thriller, dessen Spannung sich aus der bitteren Realität der existenziellen Not seiner Protagonisten ergibt.Eingebetteter MedieninhaltKlar gibt es bei Dok Leipzig auch erheiternde Filme wie etwa The Gullspång Miracle von Maria Fredriksson über die persönliche Identitätssuche einer Schwester oder Vika! von Agnieszka Zwiefka über die 84-jährige Vika, im hohen Alter noch immer DJ und Star eines Nachtclubs in Warschau. Doch die Dokumentarfilme von Dok Leipzig verstehen sich auch als Spiegel der Welt, weswegen man in diesem Jahr einfach nicht umhinkommt, in vielen Filmen der hässlichen Fratze des weltweiten Zeitgeschehens entgegenzublicken. Bei allen Kriegen und Krisen sollten dabei aber nicht die individuellen politischen Verhältnisse einzelner Ländern aus den Augen verloren werden.Zum besonders berührenden Abend wurde die Premiere von Beauty and the Lawyer. Im Film begleitet Regisseur Hovhannes Ishkhanyan ein befreundetes armenischen Pärchen, Garik und Hasmik. Gerade haben sie geheiratet, doch den Segen dazu haben sie nur von wenigen. Mitten auf seiner Hochzeit sieht man Garik auf die Hochzeitsgesellschaft blicken, er ist aufgeregt: „Sie haben mich Transe genannt!“ Als medial bekannter Drag-Performer sowie früherer Sexarbeiter und Anwältin für LGBTIQ+-Rechte sehen sie sich nicht nur im privaten Umfeld teilweise offener Diskriminierung ausgesetzt. Obendrauf drohen politisch-religiöse Führer trans Menschen und Homosexuellen im armenischen Fernsehen mit dem Tod.Ishkhanyan gelingt durch die besondere Nähe zu seinen Protagonisten ein unglaublich intimes Bild eines Paares, das angetrieben von seinem Gerechtigkeitssinn und dem unerschütterlichen Glauben an seine Beziehung den ständigen Bedrohungen trotzt: Ein queeres Aktivistenpaar in Armenien, das heiratet, ein Kind kriegt, ein Grundstück kauft und sogar ein Haus baut. Immer wieder werden in diese Aufnahmen die Szenen einer autobiografischen Theaterperformance von Garik eingewoben, die erahnen lassen, unter welchen Schmerzen seine beeindruckend widerständige Haltung entstanden sein muss.Was man allerdings auch erfahren kann, wenn man bei Dok Leipzig ins Kino geht, ist, dass Garik dieser Film gar nicht so gut gefällt. Gemeinsam mit seiner Familie ist er extra nach Leipzig angereist, steht mit seiner Frau und den mittlerweile zwei Kindern vor den ausverkauften Rängen und erklärt: „Der Film wirkt so, als gäbe es ein Happy End. Doch die Wahrheit ist, dass wir das Haus ein halbes Jahr später verkaufen mussten, weil wir dort verfolgt wurden.“ So treffen Film und Wirklichkeit plötzlich aufeinander. Auch diese Momente sind es, die das Kinoerlebnis eines Filmfestivals bereichern.Eingebetteter MedieninhaltBei der politischen Relevanz des Filmaufgebots scheint es in diesem Jahr umso schwieriger, die Filme zu prämieren. Insgesamt sieben Goldene und zwei Silberne Tauben wurden vergeben. Die höchste Auszeichnung erhielt der Hommage-Gast Peter Mettler für seinen Film While the Green Grass Grows, ein audiovisuelles Tagebuch, in dem der Filmemacher sein eigenes Leben mit der Zukunft verwebt. Mit einer Silbernen Taube im Langfilm wurde Beauty and the Lawyer bedacht. Eine Neuerung in diesem Jahr und eine Stärkung der Sparte des Animationsfilms bildete wiederum die Einführung einer Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb für Animationsfilm, der in diesem Jahr an No Changes Have Taken in Our Life von Xu Jingwei ging. Darin erzählt die Regisseurin die Geschichte eines Musikers, der Stück für Stück die Hoffnung verliert, seinen Lebensunterhalt mit seinem Instrument zu verdienen.Eingebetteter MedieninhaltSo zeigte Dok Leipzig einmal mehr: Wer Filme erfahren will, wer die Dinge sehen will, die andere mit eigenen Augen gesehen haben, und mit den Protagonisten und Regisseuren ins Gespräch kommen möchte, der muss sich aufmachen und ins Kino kommen.
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