Erinnerungswürdige Glanzlichter – Kultureller Jahresrückblick 2023

12 Monate, 12 Kulturhighlights Das neue Jahr mit einem kulturellen Rückblick beginnen: Von musikalischen Highlights an den Opernhäusern Essen, Frankfurt und Köln über Sachbücher von Barbara Vinken und Ulrike Herrmann bis hin zu Ausstellungsbesuchen von Toyen und Vermeer.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eingebetteter Medieninhalt

Das Jahr 2023 war ein kulturell reichhaltiges Jahr. Ich bin viel gereist und habe nicht nur in der Heimat Theaterhäuser, Eventhallen oder Konzertsäle besucht.

Besonders schwer fiel es, Höhepunkte unter den in diesem Jahr besuchten Museen auszuwählen. So begeisterten mich auch die Ausstellungen der Fotografen Frank Kunert (Carpe Diem im Museum Boppard) und Jeffrey Conley (An ode to nature im Musee de la photographie Charles Nègre in Nizza, Frankreich). Das Visiodrom in Wuppertal zeigt noch bis Sommer 2024 auf einer 360°-Leinwand lebendige Bilder aus Leonardo da Vincis kreativem Schaffen (ausgewählte Eindrücke in meinen Insta-Highlights). Auch eine Führung im Jagdschloss Grunewald in Berlin, das einige sehenswerte mittelalterliche Ölgemälde beherbergt, bleibt in lebendiger Erinnerung. Nun aber zu den Highlights:

1. Dogville von Gordon Kampe am Aalto Theater Essen

Im März 2023 wurde Dogville nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier am Aalto Theater Essen als erste Uraufführung nach fünfzehn Jahren dargeboten, in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln. Das Bühnenbild ist ein Hingucker: Ausstatter Jo Schramm schuf eine Rampe in Schieflage mit Durchgangsmöglichkeit vor schwarzem Hintergrund. Diese Rampe rückt stets weiter vor und gibt neue oder die gleichen Räumlichkeiten frei, am Ende mit einer Fallhöhe von drei Metern. Auch die Bühnenhandlung wirkt schräg:

In einem abgelegenen Ort wird der Alltag unterbrochen, als eines Tages Grace, die vor Gangstern flüchtet, um Asyl bittet. Widerwillig gewährt man ihr Unterschlupf. Der einflussreiche Tom erwirkt schließlich, dass Grace sich bewähren darf. Sie soll für alle Dorfbewohner niedere Dienste verrichten. Als herauskommt, dass Grace auch polizeilich gesucht wird, wendet sich die Stimmung.

Lavinia Dames singt die zentrale Partie anfangs noch zurückhaltend, später klar und gegen Ende mit wandlungsfähigen hohem Sopran. Die anderen Figuren scheinen durch unterschiedliche Stimmlagen und gesangliche Linien charakterisiert. Zarte, lang gedehnte Instrumentalklänge münden in dramatisch spannungsvollere Akkorde, energetisch massiv erklingen zuletzt Schlagwerk und Blechbläser. Die Vorführung unter der Regie von David Herrmann konzentrierte das Geschehen ohne Erzählinstanz und Kommentierungen auf 110 Minuten. Gegen Ende fährt ein Oldtimer die Rampe von oben rechts herunter, Feuer flackert: ein beachtliches Spektakel und eine vielversprechende Uraufführung.

Beim Nachgespräch fragte ich den Komponisten Gordon Kampe nach der Zusammenarbeit mit Lars von Trier und er meinte, der dänische Starregisseur habe eine gut erreichbare Agentur, welche eine unkomplizierte Übertragung der Rechte und Freiheiten für die Verarbeitung des Dogville-Films zur Oper gewährleistete.

Dogville. Oper in 18 Szenen von Gordon Kampe. Libretto nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier. Musikalische Leitung: Tomáš Netopil. Inszenierung: David Hermann. Bühne und Licht: Jo Schramm. Kostüme: Tabea Braun. Dramaturgie: Christian Schröder, Patricia Knebel. Besetzung: Tobias Greenhalgh (Tom Edison Jr.), Lavinia Dames (Grace), Heiko Trinsinger (Chuck) u.a., Orchester: Essener Philharmoniker. Weitere Informationen.

2. Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6 a-Moll in der Berliner Philharmonie

Eine Sinfonie mit Herdenglocken und Hammerschlag: viele Holzbläser und Schlaginstrumente ließen leidenschaftlich und pointiert mit forschen Tempi am 23. Juni 2023 im Deutschen Symphonieorchester (DSO) in der Berliner Philharmonie aufhorchen. Die klanglichen Bewegungen und Bilder lassen die Komplexität der Partitur erahnen. Kent Nagano, DSO-Chefdirigent von 2000-2006 und heute Ehrendirigent, leitete die Orchesterdarbietung von Gustav Mahlers Sechster Symphonie. Mitreißend ist das Chaos ineinandergreifender musikalischer Teile der etwa 80minütigen, aufwühlenden Symphonie.

Marschmusik, Choral-Elemente, kammermusikalische und volkstümliche Passagen werden ineinander verwoben. Das DSO spielt temporeich geschlossen und mit Verve, oft hebt sich das Spiel von Einzelinstrumenten hervor, wie das Geläut der Herdenglocken. Dynamische Steigerungen, spielerische Transparenzen und Färbungen, sich verändernde Rhythmen und kreisende Strukturen schmeicheln den Gehörgängen. Die mal grell aufbrausend, stets elegant dargebotene Schicksalssinfonie Mahlers endet nach ineinander verschlungenen, sich ablösenden Akzenten auf Blas-, Schlag- oder Streichinstrumenten mit Paukenschlag.

Mahler: Symphonie Nr. 6. Dirigent: Kent Nagano. Deutsches Symphonie-Orchester Berlin. Weitere Informationen (PDF-Download).

3. Le Grand Macabre von György Ligeti an der Oper Frankfurt

György Ligetis umfangreichstes Werk - bizarr, zotig und derb - wurde im Gedenkjahr zum 100. Geburtstag des Komponisten zum ersten Mal an der Oper Frankfurt dargeboten. Das 1978 in Stockholm uraufgeführte Werk des Holocaust-Überlebenden ist eine Weltuntergangsgroteske. Auch hier ist das aufwendige Bühnenbild ein Hingucker: Die Besucher blickenauf ein mehrstöckiges Verkehrsnetz. Auf zwei übereinanderstehenden Hochstraßenstehen Autos im Stau.

Zu Beginn künden auf Bildschirmen projizierte Fernsehnachrichten vom Herannahen einer Apokalypse. Auf der Straße bewegen sich alkoholisierte Menschen, ein Pärchen tauscht Zärtlichkeiten aus und ein Leichenbestatter transportiert einen Sarg von einem Kofferraum in einen anderen.Sexuelle Anspielungen und Schimpfwörter häufen sich und die Settings wechseln. Gegen Ende feiern Besucher einer Clubnacht bei einem Fürsten das Weltenende während einesopulentenKostümballs.

Die Vorlage des Flamen Michel de Ghelderode bietet Absurdes Theater aus den 1930ern. Unter den Solisten begeisterte insbesondere Anna Nekhameals Venus in beweglichen Höhenlagen mit nuancenreichen Koloraturen. Musikalisch bot die Oper unter der Leitung des Generalmusikdirektors Thomas Guggeis grelle Avantgarde-Musik und ungewöhnliche Instrumentierungen mit sphärischen Klängen. Autohupen und Türklingeln kamen im Vor- respektive Zwischenspiel zum Einsatz. Der russische Regisseur Vasily Barkhatov zeigte das schräge Werk als überdrehte, bilderflutartige Farce mit detailreichen Schauwerten.

Le Grand Macabre. Musikalische Leitung: Thomas Guggeis. Inszenierung: Vasily Barkhatov. Bühnenbild: Zinovy Margolin. Kostüme: Olga Shaishmelashvili. Licht: Joachim Klein. Video: Ruth Stofer / Tabea Rothfuchs. Chor: Tilman Michael. Dramaturgie: Maximilian Enderle. Besetzung: Simon Neal (Nekrotzar), Peter Marsh (Piet vom Fass), Eric Jurenas (Fürst Go-Go), Anna Nekhames (Venus / Chef der Gepopo) u.a. Weitere Informationen.

4. Cosi fan tutte von W. A. Mozart an der Oper Köln

Die Herren spielen Federball und raufen miteinander, die Damen setzen sich in dramatische Posen. Später verkleiden sich die beiden Jünglinge, angestachelt von einem erfahreneren, zynischen Berater in Liebesdingen. Bald umwerben sie die Braut des jeweils anderen, um deren Treue zu testen.

Mozarts Verwechslungskomödie – in Tatjana Gürbacas Inszenierung ein Publikumsmagnet an der Oper Köln - feierte eine Wiederaufnahme im Staatenhaus. Die gute szenische Personenführung profitiert vom sparsamen und atmosphärischen Bühnenbild. Mozarts Harmonien treten während der sorgsamen Personentableaus schwebend in den Vordergrund. Das emotionale Verwirrspiel und der teils alberne Kampf der Geschlechter wird sensibel und nuanciert mit gesanglich technischem Können dargeboten. Voller Bühnenpräsenz agieren die Solisten mit einer Bandbreite an Zwischentönen. Die serbische Sopranistin Tamara Banješević gefällt mit stimmlichen Glanz und Leuchtkraft während der Arie „Come soglio“, wenn sie als die tugendhaftere der beiden Schwestern ihre Standhaftigkeit besingt.

Die sinnliche, bewegende und vielstimmige Vorführung über unvollkommene und wandelbare Beziehungen, vielgestaltige Gefühle und ungestillte Sehnsüchte erfrischt voller leuchtender Harmonien und szenischer Einfälle.

Cosi fan tutte. Musikalische Leitung: Gábor Káli. Inszenierung Tatjana Gürbaca. Bühne & Kostüme: Ingrid Erb. Licht: Andreas Grüter. Chor: Alfred Chen. Besetzung: Tamara Banješević (Fiordiligi), Bettina Ranch (Dorabella), Wolfgang Stefan Schwaiger (Guglielmo), Dmitry Ivanchey (Ferrando), Claudia Rohrbach (Despina), Lucas Singer (Don Alfonso), Statisterie der Oper Köln, Chor der Oper Köln, Gürzenich-Orchester Köln. Weitere Informationen.

5. Diva – Die etwas andere Opernverführerin

Über Mozarts Opera Buffa Cosi fan tutte schreibt Barbara Vinken verschmitzt in Diva – Die etwas andere Opernverführerin, dass die beiden Bräutigame - selbstverständlich ja auch untreu - als eitle, in ihre eigene Männlichkeit Verliebte enttarnt werden. Die Literaturwissenschaftlerin betrachtet in ihrer Monographie insbesondere auch traurige Schicksale männlicher Selbstherrlichkeit in den Werken der ausgewählten Komponisten. Der Leser lernt, dass es mitunter schwer ist, seinen Mann zu stehen in den Lustmartyrien der Opernwelt.

Die Professorin an der LMU München widmet sich in ihren Essays neben Cosi fan tutte auch Le Nozze di Figaro und Die Zauberflöte von W. A. Mozart, Tosca und Madame Butterfly von Giacomo Puccini, Rigoletto, La Traviata und Les vêpres siciliennes von Giuseppe Verdi, Georges Bizets Carmen, Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana, Alban Bergs Lulu und Der Rosenkavalier von Richard Strauss.

Dabei deutet sie die Werke vor dem Hintergrund der Antike, der Operngeschichte und der Entstehungszeit. Auch Allgemeinwissen, wie dass Sopran-Rollen lange noch von Kastraten gesungen wurden (S. 53), wird mit Blick auf die sogenannten Hosenrollen beleuchtet. Die Autorin führt in ihrer Bibliographie für alle betrachteten Opern zitierte Sekundärwerke auf, etwa auch zeitgenössische Kritiker bei der Uraufführung.

Vinken setzt in ihren Essays insbesondere einen Schwerpunkt auf die Travestie von Geschlechterrollen und Klassenklischees, Frauenopfer und Liebesopfer von Frauen auf der Bühne. Sie betrachtet die musikalischen Bühnenwerke als Klassiker eines politisch subversiven Genres, in dem sich Diven einem Patriarchat widersetzen, auch in Form von Selbstopfern. Barbara Vinken deutet zentrale Frauenfiguren oder Diven dabei oft als passionierte Erlöserinnen. Ein inspirierender Band, mit dessen Hilfe es sich lohnt, Klassiker an den Opernhäusern neu zu betrachten.

Barbara Vinken: Diva – Die etwas andere Opernverführerin. Gebunden, mit Lesebändchen. 432 Seiten. 30 EUR. Klett Cotta. 2. Druckauflage 2023. ISBN: 978-3-608-98456-9. Weitere Infos.

6. Die schmutzigen Füße

Edem Awumey, 1975 in Lomé, Togo, geboren, war 2009 für seinen zweiten Roman Les Pieds sales für den französischen Literaturpreis Prix Goncourt nominiert. Stefan Weidle übersetze den Roman 2021 aus dem Französischen ins Deutsche. Awumey erzählt von Flucht und Migration, Afrika und Frankreich. Sein Protagonist Askia arbeitet als Pariser Taxifahrer. Er ist illegal im Land und sein Taxischein ist gefälscht. Er begibt sich in Paris auf die Spur seines Vaters Sidi, den er als Heranwachsender bei der Flucht aus Afrika verlor. Atemberaubende Wendungen und eine bildgewaltige Sprache fesseln. Insbesondere die Armut, in der Askia lebt, wird in ungewohnten Bildern faszinierend beleuchtet, etwa wenn ihn an seiner Schlafstelle ein unerwünschter Gast heimsucht:

Er ging in seine Unterkunft. Diese sechs Quadratmeter Zuhause. Auf der Matratze gesellte sich eine große Kakerlake zu ihm, umkreiste seine ausgestreckten Beine. Von seinen Zehen aus krabbelte sie seinen Bauch hoch, um dann wieder zu seinen Knien zurückzukehren. An diesem Weg, dieser Reise hielt sie fest. Die Kakerlake reiste auf der Straße seiner Haut, und Askia war überrascht, sich als Territorium anzusehen. Das Territorium seiner Kakerlake. Denn schließlich mußte die Reise der Kakerlake über seinen Körper einen Sinn haben. Auch das Ungeziefer brauchte ein Territorium…“ (Edem Awumey, Die schmutzigen Füße, S. 54)

Edem Awumey: Die schmutzigen Füße. Aus dem Französischen von Stefan Weidle. Fadengeheftete Broschur. 160 Seiten. 20 EUR. Erschienen: Juli 2021 im Weidle Verlag. Gefördert von der Kunststiftung NRW. ISBN: 978-3-949441-01-1. Weitere Infos.

7. Urban Oasis

Die globale Erwärmung und immer extremeres Wetter bedroht auch Städte etwa durch Überschwemmungen und Hitzewellen. Grüne Projekte wie Dachfarmen, Gärten und öffentliche Parks bieten Erholungsräume, kühlen die Temperaturen, verringern Überschwemmungen und verbessern die Luftqualität. Der Bildband Urban Oasis beleuchtet beispielhafte Projekte auf den Kontinenten Europa, Nord- und Südamerika, Afrika, Asien, im Mittleren Osten und in Australien.

Die Autorin Jessica Jungbauer schaut zuerst auf Deutschland, betrachtet den Körnerpark und Gemeinschaftsgärten oder Spielwiesen auf dem ehemaligen Flughafengelände Tempelhofer Feld in Berlin. Danach widmet sie sich dem auf 230 Hektar ausdehnenden Landschaftspark Duisburg Nord, wo heute stillgelegte industrielle Gebäude wie ein 70 Meter hoher ehemaliger Hochofen neben 700 Pflanzenarten fortbestehen. In Hervorhebungen skizziert Jungbauer stichpunktartig Konzepte wie die solidarische Landwirtschaft.

Jungbauer erwähnt Bürger- und Aufforstungsinitiativen, betrachtet Nationalparks und Regenwälder, spricht mit Landschaftsarchitekten und Naturaktivisten u.a. aus Thailand, Australien oder den USA. Einer ihrer Gesprächspartner ist Ron Finley aus Los Angeles. Finley möchte durch seine Gärtner-Tätigkeit als Rollenvorbild insbesondere die Gemeinschaft stärken und einen kleinen Anteil hin zu mehr Ernährungsgerechtigkeit leisten. Eine weitere Interviewpartnerin ist die Landschaftsplanerin Kotchakorn Voraakhom, die an der Thammasat University in Bangkok eine 2,2 Hektar große Dachfarm initiierte, die Regenwasser filtert, absorbiert und sammelt sowie essbare Pflanzen und Kräuter beherbergt.

Der Band bebildert auf 138 Farbfotografien zahlreiche Grünflächen, etwa Luftaufnahmen von Dächern, Balkonen oder Mauern. Dabei verwendet er meist Stockphotos in unterschiedlicher Qualität, etwa von Adobe, Alamy, Getty Images oder Shutterstock. Wenige Fotos stammen jedoch auch von den Landschaftsbetrieben selbst, so etwa die beeindruckenden Fotos einer Bio-Dachfarm auf einem Auto-Auktionshaus in Kopenhagen, mit Bienenstöcken und Hühnerstall.

Zu den betrachteten Projekten gehört auch der 2020 eröffnete Lineal Gran Canal Park in Mexiko City mit einem Uferwald, einheimischer Vegetation und Themenpavillons. Einige der besprochenen Projekte, wie den Jardin Bajorelle in Marrakesch, Marokko, rufen eigene Vor-Ort-Besuche in Erinnerung.

Jessica Jungbauer: Urban Oasis. Parks & Projects for a Greener Future. Hardcover. 224 Seiten. 39,90 EUR. Erscheinungstermin: 15.3.2023. teNeues Verlag GmbH. ISBN: 978-3-96171-440-7. Weitere Infos.

8. Das Ende des Kapitalismus

Auf eine ganz andere Weise widmet sich Ulrike Herrmann dem Klimawandel. Der faktenreich recherchierte und historisch fundierte Band Das Ende des Kapitalismus widmet sich den Themenkomplexen des Aufstiegs des Kapitals, einem fehlenden „Grünen Wachstum“ und einem Ende des Kapitalismus.

Die Wirtschaftsjournalistin Herrmann erklärt, dass für ein Überleben der Menschheit fossile Reserven wie Kohle, Öl und Gas im Boden bleiben müssen, denn die Vorräte reichen nur noch wenige Jahre, sie verweist dabei auf internationale Statistiken (S. 97). Das Ziel der UN-Konferenzen in Paris und Glasgow, die Erderwärmung bei 1,5 Grad zu stoppen, schätzt Herrmann, mit Verweis auf den Klimaforscher Andreas Levermann, als „illusorisch und nicht mehr zu erreichen“ (S. 99) ein. Herrmann betrachtet erschreckende Prognosen eines „Umweltkollaps“ (S. 103), betont jedoch, dass das Klima sich als „ein komplexes System“ nicht linear entwickle und hinterfragt eine Verlässlichkeit von Basisdaten (S. 105).

Herrmann warnt vor den CO2-Ausstoß von Digitaltechnologien wie Videokonferenzen oder Social Media, die hier in naher Zukunft den gesamten globalen Autoverkehr übertrumpfen (S. 193). Die Publizistin vertraut nicht auf technische Innovationen zur Lösung der Klimakrise, sondern plädiert für ein „Grünes Schrumpfen“ (S. 199), nicht nur des Fleischkonsums: „weniger Neubauten, weniger Autos, weniger Chemieprodukte.“ (S. 191)

Investitionen erachtet Herrmann etwa hinsichtlich besserer Infrastrukturen und Klimaschutzsubventionen auch durch Staatsschulden als sinnvoll. Die mit ökonomischen Expertenwissen punktende Herrmann brachte am 6. Dezember 2023 im ZDF-Polit-Talk bei Markus Lanz den Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion, Christian Dürr, in Verlegenheit. Er sollte Zahlen und Fakten vorlegen, die den Erfolg einer sogenannten Schuldenbremse belegen würden. Die FDP bremst mit ihrem Festhalten an fast keinen Schulden und keinen Steuererhöhungen in der Regierungskoalition auch den Klimaschutz aus. Während Dürr bei der Wiedergabe konkreter Zahlen ins Drudeln kam, konnte Herrmann faktenreich einen Misserfolg der Schuldenbremse prognostizieren. Herrmann wirft der Lindner-Partei seit langem fehlende geistige Flexibilität vor.

Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden. Gebundene Ausgabe. 352 Seiten. 24 EUR. Erscheinungstermin: 08.09.2022. Kiepenheuer & Witsch. ISBN: 978-3-462-00255-3. Weitere Infos.

9. Acht Jahre von JD Alcázar

Regisseur JD Alcázar erzählt im spanischen Liebesdrama Acht Jahre (2021; 2023 im Original mit dt. Untertitel bei GMFilms auf DVD erschienen) von einer komplizierten schwulen Beziehung. Die schon lange voneinander getrennt lebenden Mittdreißiger David und José lassen ihre achtjährige schmerzhafte Beziehung am Ort des Kennenlernens, der Insel La Palma, wieder aufleben. Der Fokus des Dramas liegt dabei auf José, der voller Sehnsüchte an seinen Partner denkt und Höhegefühle beim Wiedersehen verspürt. Als der eigenständigere David auf einer Party mit einem anderen jungen Mann flirtet, schafft es José nicht, Herr seiner erstarkenden Eifersucht zu werden. Zum Glück teilt José sein Ferienappartement mit einem befreundeten lesbischen Pärchen, die ein offenes Ohr für seine Gefühle haben, gleichzeitig miteinander Konflikte zu eigenen Beziehungsproblemen austragen. JD Alcázar visualisiert eindrücklich und in warmen, mitunter auch artifiziellen Bildern, große Gefühle wie Ausgelassenheit oder Trennungsschmerz. Erinnernswert ist eine Szene, die den charismatischen Hauptdarsteller Miguel Diosdado in der Rolle des José beim ekstatischen Bad in den Fontänen eines Wasserfalls unter freiem Himmel zeigt. Acht Jahre inspirierte uns zum Jahresende zu einem einwöchigen Aufenthalt auf der Insel La Palma.

Acht Jahre. Produzenten: Carlos Mestanza, Miguel Ángel Poveda. Buch/Regie: JD Alcázar. Kamera: Luis Ángel Pérez. Sounddesign: Juan Luis Cordero. Visuelle Effekte: Carlos Zaera. Maske: Natividad Bujalance Andres. Bauten: Andrea Boch. Ausstattung: Tania Pérez-Muelas. Schnitt: Dani González. Musik: Sergio Jiménez Lacima, William Isaacson. Mitwirkende: Miguel Diosdado, Carlos Mestanza, Natalia Rodríguez Arroyo, Maria Maroto, Leon Molina, Sergio Momo, Isabel Torres, Maria Isabel Díaz Lago, Astrid Jones, Marga Arnau, José Luis de Madariaga, Carlota Clark, Maykol Hernández, Iriome del Toro. Dauer: 100 Minuten. DVD-Erscheinungstermin: ‎2023. Weitere Infos.

10. Gesang der Meerjungfrauen von Patricia Rozema

Ebenfalls ungewöhnlich-experimentell ist der mehrfach ausgezeichnete Film Gesang der Meerjungfrauen (Kanada 1987, 2023 in deutscher Synchronfassung und englischer Originalfassung mit deutschen Untertiteln neu als DVD bei Salzgeber erschienen). Regisseurin Patricia Rozema, die auch das Drehbuch schrieb, zeigt Sheila McCarthy als verträumte Fotografin Polly, die als Sekretärin bei einer Kuratorin anheuert. Das originelle Drama, heute ein Klassiker des lesbischen Kinos, begleiten experimentelle musikalische Klänge, ein Spiel mit Schwarz-Weiß-Bildern und langen Kamerafahrten. Träume der Hauptfigur, die mitunter in Toronto fahrradfahrend die Gegend erkundet, werden lebendig visualisiert.

Gesang der Meerjungfrauen. Regie & Buch: Patricia Rozema. Kamera: Douglas Koch. Musik: Mark Korven. Schnitt: Patricia Rozema. Art Director: Valanne Ridgeway. Ton: Gordon Thompson, Michele Moses. Ausführender Produzent: Don Haig. Produzentinnen. Patricia Rozema, Alexandra Raffé. Mitwirkende: Sheila McCarthy, Paule Baillargeon, Ann-Marie McDonald, Brenda Kamino, John Evans, Richard Monette. Dauer: 83 Minuten. DVD-Neuerscheinung: 28.04.2023. Weitere Infos.

11. Toyen – Surreal/ Radikal

Die tschechische, surrealistische Malerin und Zeichnerin Marie Čermínová (1902-1980) arbeitete unter dem Pseudonym Toyen, abgeleitet aus dem frz. citoyen (Bürger). In ihren Bildern und Zeichnungen widmete sie sich dem Unbewussten, der Imagination, Träumen und verborgenen Trieben. Sie malte Raubvögel, weibliche Silhouetten oder setzte Alltagsgegenstände in ungewöhnliche Zusammenhänge. Ihre artifiziellen, oft andeutungsreichen Kunstwerke sind geprägt von Humor und Erotik. Vom Reichtum von Toyens Schaffens erzählte eine kleine, ihr gewidmete Ausstellung im Koblenzer Ludwig Museum. Surreal/ Radikal versammelte Illustrationen und Buchpublikationen, die Toyen ab den 1940er Jahren bis zu ihrem Tode in Paris geschaffen hatte. Sie wurde durch Leihgaben des Kunstmuseum Ostrava sowie durch Unterstützung der Prager Galerie Zdeněk Sklenář ermöglicht.

Toyen – Surreal/ Radikal vom 07.05.2023 – 06.08.2023 im Ludwig Museum in Koblenz. Weitere Infos

12. Vermeer – Die größte Werkschau aller Zeiten

Eine Werkschau des Amsterdamer Rijksmuseums zu Johannes Vermeer (1632-1675), die erstmals eine Vielzahl an Werken des berühmten niederländischen Malers des 17. Jahrhunderts aus internationalen Museen versammelte, war binnen kurzer Zeit ausverkauft. Mit vielen begeisterten Museumsbesuchern konnte man meist kleinformatige Ölgemälde und die besondere Art der Lichtvisualisierung des holländischen Barock-Meisters bewundern.

Sein wohl bekanntestes Porträt Das Mädchen mit dem Perlenohrring (1665) wurde zu Beginn der Werkschau präsentiert, wechselte während der Ausstellung jedoch wieder in das kleinere, nahegelegene Kunstmuseum Mauritshuis in Den Haag, wo Besucher es nun, ganz ohne Menschenandrang, minutenlang bewundern können.

Vermeer – Die größte Werkschau aller Zeiten vom 10 Februar - 4 Juni 2023 im Rijksmuseum in Amsterdam. Weitere Infos

Eingebetteter Medieninhalt

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ansgar Skoda

Redakteur& Kulturkritiker u.a. bei der "TAZ" & "Kultura Extra" http://about.me/ansgar.skoda Webentwickler und Journalist

Ansgar Skoda

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden