Daseinsmomente voll Möglich- & Unwägbarkeiten

Kurzgeschichten "Liebes Leben", der jüngste Erzählband von Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro, betrachtet subtil konstruiert vierzehn schicksalhafte Begegnungen oder Lebensumbrüche

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http://bilder.buecher.de/produkte/41/41648/41648509z.jpgGenaue Beobachtungen prägen den Erzählband Liebes Leben der kanadischen Autorin Alice Munro. Die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2013 erzählt auf 367 Seiten behutsam und subtil konstruiert von schicksalhaften Begegnungen und Umbrüchen im Leben verschiedener Figuren.

In „Amundsen“ und „Abschied von Maverley“ werden die Hautfiguren von früheren Partnern verlassen, mit denen sie zuvor innige Momente teilten. Auch in „Dolly“ geht es um das Verlassenwerden. Hier hat eine über Siebzigjährige Angst vor der Trennung von ihren geliebten Mann. Die Kurzgeschichte „Mit Seeblick“ wird ebenso aus der Perspektive einer Seniorin erzählt. Bereits verwitwet denkt die Protagonistin trotzdem viel an ihren früheren Ehemann. Allmählich eröffnet sich dem Leser, dass die Erzählerin Nancy, die gerade eine Reise zu erleben meint, dement sein muss und sich in ihrem eigenen Altenheim bewegt. In „Kies“ hält die noch junge Protagonistin eine Rückschau auf ihre Kindheit und Jugend und löst sich so innerlich von ihren Eltern. „Stolz“ und „Zug“ erzählen von sexuell enthaltsam lebenden Männern, die vor Intimitäten mit Frauen fliehen.

In der ersten Kurzgeschichte „Japan erreichen“ befindet sich die Dichterin und Hausfrau Greta mit ihrer kleinen Tochter Katy auf einer Zugfahrt. Sie hat sich gerade eben von ihrem Ehemann Peter verabschiedet, denkt jedoch während der Fahrt an ihre erste Begegnung mit einem anderen Mann, Harris, der sie am Ankunftsort erwarten wird. Unterbewusst möchte die Erzählerin aus ihrer Ehe ausbrechen. Im Zug beobachtet sie fasziniert einen jungen Mann, Greg, der sich mit ihrer Tochter und anderen Kindern hingebungsvoll beschäftigt. Greta hat später mit Greg in dessen Zugabteil einen Quickie und lässt dafür ihre schlafende Tochter alleine. Erst als sie in ihr Zugabteil zurückkommt, realisiert sie, was sie riskiert hat, denn ihre Tochter ist fort. Nach einigem Suchen findet sie diese und fühlt sich in deren kindliche, schmerzvolle Erfahrung eines möglichen Verlustes ein:

„[...] an diesem lauten Ort [sitzend], hilflos zwischen den Waggons. Nicht weinte, nicht jammerte, als müsste sie für immer dort sitzen, ohne je eine Erklärung zu bekommen, ohne jede Hoffnung. Ihre Augen waren seltsam ausdruckslos, und ihr Mund hing einfach offen in dem Augenblick, bevor sie ihre Rettung begriff und anfangen konnte zu weinen. Erst da eroberte sie sich ihre Welt zurück, ihr Recht, zu leiden und sich zu beklagen.“ Alice Munro, Liebes Leben, Seite 33

Um aus ihrer Ehe auszubrechen, wird Greta ihren Ehemann verlassen und ein weiterer Verlust deutet sich so bald für ihre Tochter an.

Detailschilderungen lösen in Munros Erzählungen oft Spannung aus. So sind es etwa Berührungen, in die sich die Ich-Erzählerin aus „Amundsen“, Munros zweiter Geschichte des Erzählbandes, verliebt. Die Lehrerin Vivien erinnert sich an den Druck der kleinen Finger von Dr. Alister Fox, „Der feste Druck, die gespreizten Finger – es hätte beinahe eine berufliche Bestandsaufnahme meines Körpers sein können. Als ich an jenem Abend zu Bett ging, konnte ich immer noch diesen Druck spüren. Ich spürte, wie dessen Intensität vom kleinen Finger bis zum harten Daumen wanderte. Ich genoss es.“ (S. 63) Obwohl sie erkennen muss, dass Dr. Fox, leitender Arzt eines Tuberkulose-Sanatoriums für Kinder, ein unterkühlter Vorgesetzter und hoffnungslos egoistischer Mensch ist, sehnt sie sich auch Jahre nach dem Abschied von ihm nach seinen Berührungen.

Liebes Leben erhält als sogenanntes „Finale“ vier kürzere, autobiographisch eingefärbte Geschichten der Autorin aus den Jahren 2011 und 2012. Sie kündigt diese Erzählungen mit den Worten an, dies seien „die ersten und die letzten Dinge, die ich über mein eigenes Leben zu sagen habe.“ Alice Munro äußert sich hier tatsächlich erstmals explizit über ihr eigenes Leben. Die hierin enthaltene Kurzgeschichte „Nacht“ thematisiert Schlaflosigkeit und betrachtet aus der Sicht der vierzehnjährigen Ich-Erzählerin auf geradezu poetische Weise, wie Dinge und Möbel in der Nacht eine eigene Existenz gewinnen.

Es dauerte eine Weile, bis sich das Haus nach dem Licht des Tages und dem Licht der Lampen, die bis spät abends brannten, verwandelte. Nachdem es den Lärmpegel der Dinge, die getan, aufgehängt, beendet werden mussten, hinter sich gelassen hatte, wurde es zu einem fremderen Ort, an dem die Menschen und die Arbeit, die ihr Leben bestimmte, ihr Gebrauch von allem um sie herum, in den Hintergrund traten, an dem alle Möbel sich in sich selbst zurückzogen und nicht mehr aufgrund von jemandes Aufmerksamkeit existierten.“ (S. 320)

Liebes Leben bietet vierzehn vielschichtige Erzählungen mit ergreifenden und poetischen Momenten. Passagenweise wird es auch etwas langatmig wie etwa bei den Umgebungsbeschreibungen in „Mit Seeblick“. Nicht immer erscheinen die Handlungsweisen der Figuren verständlich, wenn diese sich etwa eigene Perspektiven aufgrund von Ängsten verbauen, wie etwa in „Zug“. Oft haben die Kurzgeschichten ein offenes Ende und gerne würde man erfahren, wie es weitergeht im Leben der Protagonisten.

Diese Buchrezension erschien erstmal am 1. April 2015 auf Kultura Extra.

http://vg04.met.vgwort.de/na/9cd5914657494f11a53269222dae1328

Alice Munro I Liebes Leben. 14 Erzählungen

Übersetzt aus dem Englischen von Heidi Zerning

Taschenbuch, 368 Seiten

EUR: 9,99

S. Fischer Verlag, November 2014

ISBN: 978-3-596-18691-4

Weitere Infos siehe auch: http://www.fischerverlage.de/buch/liebes_leben/9783100488329

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ansgar Skoda

Redakteur& Kulturkritiker u.a. bei der "TAZ" & "Kultura Extra" http://about.me/ansgar.skoda Webentwickler und Journalist

Ansgar Skoda

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