Ausgerastet

Premierenkritik, Neue Musik Das Kommando Himmelfahrt (Dvořák, Fiedler, Warnemünde) inszeniert Alban Bergs Oper „Wozzeck“ am Theater Aachen packend, eindringlich und beklemmend als trostlose Milieustudie mit Puppen unter der musikalischen Leitung von Christopher Ward

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Unausweichliche, unerbittliche, rhythmusgrundierte Klänge entfalten mit ihrer ganz eigenen Färbung eine suggestive Wirkung. Scharfe Kontraste und kammermusikalische Zwischentöne erklingen rastlos zugespitzt. Grelle Linien der Bläser oder Schlaginstrumente bilden Leitmotive. Der österreichische Komponist Alban Berg schuf seinerzeit eine neuartige Tonsprache mit der atonalen Zwölftontechnik. Seine 1925 uraufgeführte sozialkritische Oper Wozzeck handelt von Krieg und Armut. Grundfragen nach der möglichen Illusion von Freiheit werden thematisiert. Der isländische Bariton Hrólfur Saemundsson erscheint mit schön timbrierten, sonorem Bariton als gedemütigter Außenseiter, der vor den Augen des Publikums aus dem ihn umgebenden System fällt. An seiner Seite hält er eine lebensgroße, ihm nachempfundene Puppe. Indem er mit ihr Szenen nachspielt, wird sein Fremdbestimmt-Werden effektvoll gespiegelt. Wozzeck und andere Soldaten beherrschen das Bühnengeschehen.

Im Jahr 1914, als Alban Berg die Arbeit an seinem Dreiakter begann, herrschte auch in Europa Krieg, ähnlich wie zu Zeiten Georg Büchners. Büchners der Oper zugrundeliegende Dramenfragment Woyzeck aus dem Jahr 1836 erschüttert als Milieustudie. Dem Fall liegt eine reale Begebenheit zugrunde. Der Friseur und Militärdienstleistende Christian Woyzeck tötete 1821 aus Eifersucht seine Geliebte. Zunächst wurde er für unzurechnungsfähig erklärt, später erkannte man ihn für schuldfähig und er wurde drei Jahre nach der Tat öffentlich hingerichtet. Berg übernahm Büchners Originaltext, verdichtete die lose Szenenfolge und komponierte thematisch abgestimmte Orchesterüberleitungen als Zwischenspiele.

Die Figuren agieren die meiste Zeit eingesperrt hinter einem dünnen, durchsichtigen bühnenweiten Folienvorhang (Bühne: Heike Vollmer). Während eines kaltherzigen Monologs des vor der Folie platzierten Hauptmanns wird darauf die Aufschrift „WOZZECK“ projiziert. Wozzeck und Marie blicken gleich darauf wie Puppen in den Zuschauerraum. Sie bewegen sich wie beim Kinderspiel Himmel und Hölle auf einer Kreidekästchen-Zeichnung. Eine klaustrophobe Welt und eine brüchig gewordene Realität wird vorgeführt. Weitere Szenen werden mit den Majuskeln „BLUT“, „AUTOMAT“, „MENSCH“ übertitelt.

Wozzeck, der für den Arzt und den Hauptmann erniedrigende Tätigkeiten absolviert, behauptet, eine Tugend könne er sich nicht leisten. Er erscheint mitunter auch für seine Geliebte Marie oder seinen Sohn nicht erreichbar. Verloren steht er an trostlosen Orten, entwirft rastlos Verschwörungstheorien, halluziniert. Der geknickt-apathische Wozzeck zieht bald als Verlierer alle Aggressionen auf sich.

Hrólfur Saemundsson meistert die herausfordernde Rolle des Wozzeck anrührend mit souveräner Diktion und sonorem Bariton. Als eitler und prahlerischer Tambourmajor mit voluminösem Heldentenor blendet Soon-Wook Ka Wozzecks Geliebte Marie, um später gewalttätig zu werden. Irina Popova singt die Marie expressiv in den Höhen leuchtend mit dramatischer Intensität. Sie verkörpert glaubwürdig die Zerrissenheit ihrer Figur zwischen Mutterpflichten und Liebesansprüchen. Den Hauptmann mimt Andreas Joost bedrohlich-geschmeidig mit kalt-präzisem, tragfähig schneidendem Bass. Nach dem Freitod des gepeinigten Wozzeck schlägt eine Art Programmmusik versöhnlichere Töne an, indem sie musikalische Grundmotive variiert. Gesungen wurde Deutsch, die Textverständlichkeit war hoch.

Das Leid einer Randfigur der Gesellschaft im Zentrum des Stücks und die seltsamen Konventionen des scheinbar Normalen, die dem Verrückten gegenübergestellt werden erzeugen eine beklemmende Stimmung und machen fast 200 Jahre nach Woyzeck und 100 Jahre nach Wozzeck noch immer nachdenklich.

Eingebetteter Medieninhalt

WOZZECK (Theater Aachen, 28.05.2023)

Musikalische Leitung: Christopher Ward

Inszenierung: Kommando Himmelfahrt (Dvořák, Fiedler, Warnemünde)

Bühne: Heike Vollmer

Kostüme: Kathi Maurer

Choreinstudierung: Johannes Honecker, Jori Klomp

Dramaturgie: Fabian Bell

Licht: Dirk Sarach-Craig

Besetzung:

Wozzeck … Hrólfur Saemundsson

Tambourmajor … Soon-Wook Ka

Andres … Pascal Pittie

Hauptmann … Andreas Joost

Doktor … Caleb Yoo

1. Handwerksbursch … Pawel Lawreszuk

2. Handwerksbursch … Leon Wepner

Der Narr … Wonhong Kim

Marie … Irina Popova

Margret … Ekaterina Chekmareva

Mariens Knabe … Robert Hamacher, Uku Reineke, Jakob Witthöft

Ein Soldat … Woo-Sung Kang

Sinfonieorchester Aachen, Opernchor Aachen, Kinder- und Jugendchor Aachen

Premiere am Theater Aachen war am 28. Mai 2023.

Nächste Vorführungen: 9., 11., 17., 25., 30.6./ 2.7.2023

Weitere Infos siehe auch: https://www.theateraachen.de/de_DE/produktionen/wozzeck.1326215#/

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Geschrieben von

Ansgar Skoda

Redakteur& Kulturkritiker u.a. bei der "TAZ" & "Kultura Extra" http://about.me/ansgar.skoda Webentwickler und Journalist

Ansgar Skoda

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