Romeo und Julia unter dem Hakenkreuz

Neue Musik, Oper Bonn Rolf Liebermanns Oper „Leonore 40/45“ wird nach über 60 Jahren aufwendig wiederentdeckt. Sie überrascht mit Schreckensbildern, Zwölftontechnik und zweisprachigem Libretto

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Circus Hitler – Welttournee“ leuchtet vom Bühnenhimmel in einladenden Schrifttafeln. Das verweist grotesk-komisch auf den realen Horror des Zweiten Weltkrieges. Bei der Erstaufführung am Basler Stadttheater 1952 war Liebe unter Kriegsfeinden zur Besetzungszeit eine Provokation. Die Uraufführung von Leonore 40/45 war seinerzeit trotzdem ein Erfolg. Sie feiert nach 62 Jahren nun am 10. Oktober in einer aufwendigen Neuinszenierung von Jürgen R. Weber unter der musikalischen Leitung von Daniel Johannes Mayr an der Oper Bonn Premiere.

Hier wurde die Produktion, ursprünglich ein Beitrag zum Beethovenjahr 2020 anlässlich von Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag, pandemiebedingt verschoben. Tatsächlich spielt der Titel Leonore 40/45 auf die Hauptfigur in Beethovens einziger Oper Fidelio (1805) an, welche Leonore heißt. Inhaltlich behandelt die erste Oper Liebermanns – wie bei Beethovens Fidelio – den Herzensmut einer liebenden Frau, die sich der Anfeindungen mit gesanglichem Nachdruck erwehrt und alles unternimmt, um den Geliebten nach dem Waffenstillstand ausfindig zu machen. Leonore heißt bei Liebermann jedoch Yvette. In Bonn verkörpert Barbara Senator Yvette darstellerisch nuanciert und mit geschmeidig lyrischem Sopran.

Auch kompositorisch knüpft Liebermann an die Befreiungsoper des 18. Jahrhunderts an. So lauschen Albert, ein junger deutscher Oboist, und sein Vater anfangs dem „Fidelio“-Quartett im Radio. Plötzlich wird das Konzert im Volksempfänger unterbrochen und die Mobilmachung bekanntgegeben, zugleich ein Einberufungsbefehl für Albert.

Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges im besetzten Frankreich

Der Schweizer Komponist Rolf Liebermann (1910-1999), Großneffe des bekannten Malers Max Liebermann, hatte den Mut Ressentiments über die Verbrüderung (Fraternisierung) getrennter Nationalitäten mit seiner „Opera semiseria (dt. halbernst)“ ironisch-kritisch zu hinterfragen. Der stilisierte, avantgardistische und neoklassische Zweiakter berührte Erlebniswelten der damaligen Zeit und erregte Diskussionen und Proteste: er behandelt die Liebe eines deutschen Besetzungssoldaten und einer französischen jungen Frau in Paris von 1940 bis 45. Leonore 40/45 war auch für Liebermanns Librettisten Heinrich Strobel (1898-1970) die erste Opernarbeit. Es folgten zwei weitere gemeinsame Opern.

In Bonn wird die Oper provokant mit kabarettistischen Bildern dargeboten. Die Gesichter Adolf Hitlers und Winston Churchills werden respektlos als metergroße Klappmaul- und Schießbudenskulpturen gezeigt, auf die Statisten Bälle werfen. Auch Beethoven selbst, durch die Nationalsozialisten vereinnahmt, wird als Karikatur mit zahlreichen Wiedergängern dargeboten. Eine weitere abstrakte Figur, die wiederholt auftritt, ist die Verkörperung der Marianne, eine Allegorie für die französische Nation. Nazi-Fahnen und Symbole wie das Hakenkreuz deuten die deutsche Besetzung in Paris an (Ausstattung: Hank Irwin Kittel).

Ein geflügelter Schutzengel im Anzug, Monsieur Émile, leitet als Erzähler in das Geschehen ein. Joachim Goltz spielt den märchenhaften Boten ausdrucksstark. Er hält gewieft die Fäden in der Hand und bringt Dinge wieder in Ordnung und fanatische Bürger zur Vernunft. Goltz singt Émile mit ausgewogenem und durchdringendem Bariton.

Liebe zur Zwölftonkomposition eint über Landesgrenzen hinweg

Die junge Französin Yvette und der Musikstudent und Wehrmachtsoldat Albert begegnen sich während der Okkupation bei einem Klavierabend in einem Pariser Konzertsaal. Ein junger Pianist – in Bonn ein Wunderkind – spielt ein sogenanntes dodekaphonistisches Stück in strenger Zwölftonkomposition. Die Konzertbesucher sind entsetzt, nur Albert und Yvette, die eine Leidenschaft für die Zwölftonmusik teilen, sind begeistert. Sie nähern sich über ihren Musikgeschmack einander an. Gleich darauf spielt das Kind auf Wunsch der Mehrzahl der Besucher „Rêve d’amour“ von Franz Liszt.

Liebermanns expressive und sinnliche Komposition referenziert neben Beethoven unter anderem auch auf Leoncavallo, Liszt, Debussy, Wagner und französische Volkslieder. Es erklingen musikdramatisch wechselvolle Kontrapunkte.

Das Beethoven Orchester musiziert harmonisch, dicht und atmosphärisch leicht auf der Hinterbühne. Der Chor der Oper Bonn ist zeitweise auf einer Seitenbühne platziert. Rechts oben ist ein altmodischer Gemälderahmen angebracht, in dem Live-Aufnahmen vom Orchester projiziert werden. Später werden hier parallel zur Opernhandlung aber auch Videosketche mit Hitler-und Beethoven-Karikaturen oder erschreckende Schwarzweiß-Aufnahmen von Bombenangriffen abgebildet.

Kahlgeschoren für „horizontale Kollaboration“ mit dem Feind

Die Filmprojektion zeigt auch die Gesichter kahlgeschorener junger Französinnen, sogenannter „filles à boche“ oder „Deutschenflittchen“. 1944/45 wurden im Zuge der Befreiung Frankreichs tausende junge Frauen unter dem Eindruck des Volkszorns öffentlich gedemütigt, erniedrigt oder sogar eingesperrt, weil sie sich auf deutsche Besatzer eingelassen hatten. Sie wurden von der Meute kahlgeschoren, nackt durch Straßen getrieben oder ihnen wurde auf die Stirn gut sichtbar ein Hakenkreuz gemalt. Auch die Leonore in der Bonner Inszenierung trägt am Ende eine relativ kahle Kurzhaarfrisur.

Eingebetteter Medieninhalt

Eine Ehe unter Feinden ist verboten. Nachdem die Deutschen nach Kriegsende abziehen, werden Yvette und Albert getrennt. Szenen wechseln recht schnell. Albert wird als Insasse eines trostlosen deutschen Kriegsgefangenenlagers in Frankreich und als Kriegsgefangener bei einem Instrumentenbauer gezeigt. Später finden Yvette und Albert mit Hilfe des Schutzengels wieder zueinander.

Sehenswerte Auseinandersetzung mit einer vergessenen Oper

Einen solchen Engel gibt es in der Realität natürlich nicht. Die Fraternisierungsoper von Liebermann und Strobel leistet so einen wertvollen Beitrag für eine Versöhnung. Der jüdische Komponist Liebermann war übrigens 1938 selbst "Schutzhaftgefangener" im KZ Sachsenhausen. Er wurde auch nach dem Krieg wegen seiner jüdischen Herkunft von deutschen Theaterhäusern mindestens angefeindet. Auch Librettist Heinrich Strobel wurde zur Zeit des Nationalsozialismus unter anderem als „jüdisch versippter“ Autor diffamiert und denunziert und war 1939 bis 1940 in Lagern interniert.

Unter dem gut einstudierten Ensemble ragt neben den Monsieur Émile und Leonore-Besetzungen insbesondere Santiago Sánchez als Albert mit junger, berührend dynamischer Tenorstimme und dramatischen Auftreten etwa bei seiner sehnsüchtig-dunklen Arie August 1945 im Lager in Frankreich heraus. Zuletzt singen Chor und Solisten auf berührende Art die versöhnlichen Zeilen: „Alles wendet sich zum Guten in der besten aller Welten.

Die Wiederentdeckung von Leonore 40/45 ist Teil der Bonner Reihe Fokus ’33, die sich mit Musiktheaterwerken des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts und deren möglichen Verschwinden auseinandersetzt. Einige von Liebermanns und Strobels Figuren haben übrigens sprechende Namen, so heißt Yvettes Mutter Germaine, was auf Deutschland anspielt. Die sehenswerte Oper zur Völkerverständigung wird in Bonn im historischen Kontext beibehalten und trotzdem auch komödiantisch aufbereitet. Der Opernabend bietet geistreich-amüsante aber auch erschreckende Unterhaltung mit Tiefgang.

LEONORE 40/45 (Oper Bonn, 10.10.2021)

Musikalische Leitung: Daniel Johannes Mayr

Inszenierung: Jürgen R. Weber

Ausstattung: Hank Irwin Kittel

Licht: Friedel Grass

Choreinstudierung: Marco Medved

Besetzung:

Yvette … Barbara Senator

Germaine, ihre Mutter / Eine weißhaarige Melomanin … Susanne Blattert

Albert … Santiago Sánchez

Hermann, sein Vater … Pavel Kudinov

Lejeune … Martin Tzonev

Monsieur Emile … Joachim Goltz

Eine junge Massenet-Schwärmerin / La Patronne … Katrin Stösel

Ein Soldat … Christian Specht

Der 1. Präsident des Tribunals … Jeongmyeong Lee

Der 2. Präsident des Tribunals / Ein alter Melomane / Ein gebild. Herr u.a. … Michael Krinner

Ein Kellner / Ein Zeitungsverkäufer / Ein Richter … Takahiro Namiki

Erster Gefangener … Justo Rodriguez

Zweiter Gefangener … Enrico Döring

Chor des Theater Bonn

Beethoven Orchester Bonn

Premiere an der Oper Bonn war am 10. Oktober 2021.

Nächste Termine: 15., 17., 22.10.2021

Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de/de/programm/leonore-4045/173697

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Geschrieben von

Ansgar Skoda

Redakteur& Kulturkritiker u.a. bei der "TAZ" & "Kultura Extra" http://about.me/ansgar.skoda Webentwickler und Journalist

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