Selbstfindung ohne Rücksicht auf Verluste

Theater "Alltag & Ekstase" von Rebekka Kricheldorf am FWT Köln

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http://www.fwt-koeln.de/tl_files/FWT/Stuecke/AlltagEkstase/01_350_ALLuEKX_cMEYER_ORIGINALS.jpgDie Gesellschaftssatire Alltag & Ekstase unterhält pointiert und bissig mit karikaturhaft überzeichneten Figuren und witzigen Ideen. Das sogenannte Sittenbild der 39jähigen Autorin Rebekka Kricheldorf kritisiert den heutigen Zeitgeist und wurde 2014 als Auftragswerk am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. Im Freien Werkstatt Theater Köln begeben sich nun vier Figuren in Selbstreflexionen und Tiraden auf eine intellektuelle und selbstbezogene Identitäts- und Sinnsuche. Als scheinbare Individualisten reiben sie sich aneinander und offenbaren stets neue Neurosen und eigene Egozentrik.

Die allgegenwärtige Arbeit an der Selbstverwirklichung geht einher mit dem Wunsch, über alles offen sprechen zu können. Katja (Fiona Metscher), Ex-Freundin von Janne (Valentin Stroh) und Mutter einer gemeinsamen Tochter, kritisiert Jannes „Ficktempo“, nachdem sie mit dem Ex mal wieder Sex hatte. Janne versucht sich der tieferen Diskussion zu entziehen, indem er, wie auch später immer wieder, sein Asthma-Spray benutzt. Katja wirft ihm vor, diese Reaktion sei psychosomatisch, ist jedoch selber nah am Wasser gebaut, wenn ihre Fähigkeiten als Mutter hinterfragt werden. Jannes Eltern kommen unangekündigt zum Frühstücksbesuch. Selbstreflektiert diskutieren sie nicht nur darüber, ob man Müsli mit oder ohne Rosinen isst. Angeregt durch Katja, ergehen sie sich schnell auch in der Analyse des richtigen „Fick-Tempos“ und des „König-Drosselbart-Syndroms“.

Privates Leid wird auf der familiären Therapie-Couch grausam hinterfragt

Alle Figuren, die sich mit viel Mühe versuchen selbst zu verwirklichen, stellen exzentrisch überspitzt Charaktere dar. Dass sie uns so oder so ähnlich im Alltag begegnen und wir uns selbst in ihnen wiederfinden könnten, drückt die Inszenierung aus, indem die Darsteller wiederholt in verschiedenen Publikumsreihen sitzen und manchmal sogar von dort aus schauspielern. Auf der Grundlage der jeweils eigenen Weltanschauungen wird argumentiert, manipuliert, belästigt, gehofft und auch gelitten. Im Bühnenzentrum dominiert eine Couch, wo die Figuren miteinander Müsli essen oder philosophischen Grundsatzfragen frönen. Es mutet seltsam an, dass Katja ihre Tochter nach ihrem jung verstorbenen Lieblingsschauspieler egozentrisch „River“ nannte. Die 14jährige River sieht sie nun zwar selten, besucht regelmäßig aber Selbsthilfegruppen für überforderte Eltern, in denen sie sich ausheult und Männer kennenlernt, die ihr Verständnis und mehr entgegenbringen. Auch Vater Janne sieht seine Tochter kaum. Trotzdem hat er auch sonst wenig zu tun, ohne wirklich arbeitslos zu sein. Er führt eine Ein-Mann-Firma, die andere Firmen bei der Firmengründung berät. Jannes Eltern sind wie Katja und Janne mittlerweile geschieden, da Jannes Vater homosexuell ist. Trotzdem sehen sich Jannes Vater Günther (Thomas Wenzel) und Jannes Mutter Sigrun (Bettina Muckenhaupt) regelmäßig.

Opfer ihrer Selbstfindung

Günther, ein vielgereister Ethnologe, möchte die „heteronormative Leitkultur“ hierzulande verlassen und sein Dasein durch eine Selbstentgrenzung im Dschungel von Papua bereichern. Die notorische Suche nach sich selbst und die extreme Umsetzung eigener Lebensentwürfe gipfeln schließlich im Wunsch von Sigrun, sich für eine Ablösesumme von ihrem Sohn von ihrem Status als Mutter und Großmutter freikaufen zu wollen. Ihre Familienverantwortung holt sie jedoch wieder ein, als ihr eigenes Heim abbrennt. Was Selbstverwirklichung überhaupt heißen soll, wird schließlich von Takeshi, einem japanischen Gast, hinterfragt. Alle vier Darsteller verkörpern diese Außenseiter-Figur gekonnt im fliegenden Wechsel. Takeshi, der deutsche Volksriten und prolliges Brauchtum erleben möchte, provoziert selbstbewusst mit unreflektierten Behauptungen und stellt die liberalen Lebensentwürfe seiner Gastgeber infrage. Nachdem er ein paar halluzinogene Pilze gegessen hat, rät Takeshi schließlich Janne, seinen Urin zu trinken, um mehr Lebensglück zu haben.

PiaMaria Gehle, vormalige Intendantin am Kölner Theater Der Keller, lässt ihren Darstellern viel Raum, die Sehnsüchte und Überspanntheiten ihrer Figuren packend vorzuführen. In faszinierender Geschwindigkeit wechseln nuanciert die Stimmungen ihrer Protagonisten. Effektvoll kollidieren Sehnsüchte nach dem frei verwirklichten Selbst auf der einen und dem sozialen Halt in der Familie und der Ideologie auf der anderen Seite. Witzig ist insbesondere, wie postmodern weltanschaulich beliebig die „Arbeit an sich selbst“ Ausdruck findet. Selbst- und zugleich anders zu sein klappt eben trotz des Aus-sich-herausgehens nicht.

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Rebekka Kricheldorf war mit Alltag & Ekstase 2014 nominiert für den Mülheimer Dramatikerpreis. Fiona Metscher war für die Darstellung ihrer Rolle für den Kölner Theaterpreises 2014 nominiert.

Fotos ©MEYER ORIGINALS

Diese Theaterkritik erschien erstmals am 30.12.2014 auf Kultura Extra.

http://vg04.met.vgwort.de/na/1b94d63e97f4446c98c8c28cc9503280

ALLTAG & EKSTASE (Freies Werkstatt Theater Köln, 27.12.2014)

Inszenierung: PiaMaria Gehle

Ausstattung: Thomas Unthan

Dramaturgie: Gerhard Seidel

Licht und Ton: Mareike Witthaus

Regieassistenz: Talke Blaser

Vorstellungstechnik: Christoph Wedi

Besetzung:

Günther … Thomas Wenzel

Sigrun, Günthers Ex-Frau … Bettina Muckenhaupt

Janne, Sigruns und Günthers Sohn … Valentin Stroh

Katja, Jannes Ex-Frau … Fiona Metscher

Premiere war am 28. August 2014

Uraufführung am 17. Januar 2014, Deutsches Theater Berlin

Weitere Termine: 23.1, 24.1., 30.1., 31.1. + 1.2. 2015

Weitere Infos siehe auch: http://www.fwt-koeln.de/index.php/alltag-ekstase/articles/alltag-ekstase-109.html

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ansgar Skoda

Redakteur& Kulturkritiker u.a. bei der "TAZ" & "Kultura Extra" http://about.me/ansgar.skoda Webentwickler und Journalist

Ansgar Skoda

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