Stimmen im Nebel

Ostharz: Achtung, Sie verlassen jetzt das Netz - ein Roman in Fragmenten

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Ausgerechnet Sachsen-Anhalt: Früh im März 20??

Schnell noch der Seitenblick auf die Elbe, querab liegt Magdeburg, rechts ein staubiges Betonwerk, jetzt runter von der Autobahn, Magdeburg Zentrum, unbegrünt die Ackerflure, links und rechts grüßen hohe Stapelblöcke des sozialistischen Wohnungsbaus, schweigen im grauen Dunst vom Stolz verblichener Kombinate.

Ausgerechnet Sachsen-Anhalt: Vor vier Wochen hat er bei einer Veranstaltung in Berlin eine Europakarte gesehen, dargestellt die prognostizierbare Wirtschaftskraft bis in das Jahr 2020 mit Linien wie Isobare einer Wetterkarte. Dunkelblau die Tiefdruckgebiete, zwei Regionen in Europa, Armut garantiert, eine Todeszone am westlichen Rand in Portugal, die andere im kariösen Herz des Kontinents, eine sterbende Wüste südlich um Magdeburg: Sachsen-Anhalt.

Vierspurig, zwei gegen zwei, kurvenreich windet sich die Stadtautobahn durch eine Landeshauptstadt im Umbau. Gefährlich Querneigungen und nachlässig verfüllte Schlaglöcher nötigen zum Abbremsen und Ausweichen, schaukelnd und schlingernd folgt der Leihwagen dem Kurs über das patinierte Asphaltrelief.

Für das Vorstellungsgespräch musst Du Dir ein Auto mieten, hat sie vorgestern gesagt, wenn Du Geschäftsführer werden willst, kannst Du nicht mit dem rostigen Kombi vorfahren!

Gewerbehöfe und Lagerschuppen, rastlos durchquert das Band der Fahrzeuge den Hinterhof der Stadt Magdeburg, dann säumen kahle Baumgruppen den Weg, Tankstellen, Wellblechgewerbe und Burger-Shops, Hinweisschilder zum Stadtzentrum, zum Busbahnhof und zum Hafen.

Architektur- und Ingenieurbüro sucht neuen Geschäftsführer, Unternehmen langjährig eingeführt, erfahrenes Team, guter Auftragsbestand, versprach die Anzeige, an eine Chiffrenummer ging der dicke weiße Umschlag, Bewerbungsschreiben, Lebenslauf und Projekte, ein Umschlag von vielen, die er bundesweit versendet ....... zufällig hat er einmal aus dem Augenwinkel eine Bewegung bei ihr wahrgenommen, erst viel später verstanden, dass sie ein Kreuz drüber schlug und den weißen Umschlag kurz zu den Lippen führte wie eine Hostie..... Ob sie das mit jeder Bewerbung macht? rührt ihn dieser überraschende Atavismus, durch den die Vertraute im Streiflicht einer kurzen Sekunde erfremdet scheint...

Hinter Magdeburg liegen die Flächen weit unter dem grauen Himmel. In der Ferne verlieren sich die Horizonte lichtlos gegen den milchigen Dunst. Die äußeren Fahrspuren zerfasern, das Profil der Stadtautobahn verjüngt sich zur schlanken Landstraße, zwischen Gräben durch die leere Landschaft gefräst.

Ausgerechnet Sachsen-Anhalt, denkt er an das erste Telefonat zurück, an die volle, sonore Stimme hinter der Chiffre-Anzeige: Quedlinburg liegt im Harzvorland, eine königliche Osterpfalz, klein, aber alt und berühmt: Herr Heinrich saß am Vogelherd, die Stelle können Sie heute noch in der Stadt besichtigen!

Auf der Landstraße zieht sich die Strecke, ein Traktor fährt Mist auf zwei Anhängern, kein Überholen möglich, schemenhaft im grauen Dunst ist Gegenverkehr zu erahnen ... ein besorgter Blick auf die Uhr im Armaturenbrett: Wenn es später wird, die Fahrt länger dauert, kein Problem, wir sind da..... Nein, ich werde pünktlich sein, hat er am Telefon gesagt. Nach Wanzleben, Altenweddingen und Klein Germersleben zweigen Straßen ab..... klingt nach Rüben, Gerste und Schweinemast, denkt er, und sehr nachdrücklich wird ihm in diesem Moment bewusst, dass er seit Jahren in Großstädten gelebt und gearbeitet hat. ...Stadt ist eine Brutstätte für Städter, hat er kürzlich bei Sloterdijk gehört, während die Lebensweise der Agrargesellschaft von den Regenerationszyklen der natürlichen Ressourcen geprägt ist, schafft der Inkubator Stadt die Rekreation einer eigenen Stadtgesellschaft, die sich von den Regelkreisläufen der Natur emanzipiert.... und er denkt: Bist du hier auf dem richtigen Weg?

Nach der Kreuzung beginnt scheinbar eine offene Prärie: Zügig durchquert der Leihwagen großräumig gegliederte Agrarflächen, Erbstücke der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften.... „leben“ kommt von „lev“ und heißt Hinterlassenschaft, Erbe, kommt ihm in den Sinn, als links der Wegweiser nach Wolmirsleben auftaucht: ...günstiges Klima im Regenschatten des Harzes....fruchtbare Böden, besiedelt bereits im Paläolithikum..... mit der Völkerwanderung ließen sich die Warnen hier nieder..... ja, er hat versucht sich einzulesen.

Kroppenstedt heißt die nächste Ortschaft, schmiegt sich gegen einen langgezogenen Hang wintermüder Weideflächen, links geht der Abzweig nach Quedlinburg, aber die Entfernungsangabe mag er kaum glauben: Warum ist es noch so weit? Er wird seinen Termin nicht pünktlich erreichen....

Er treibt den Wagen den Hang hinauf, mit einer scharfen Kurve nach links durchschneidet die schmale Straße die Kuppe besäumt von kahlem, aber dichtem Buschwerk, Zum Glück ist kein Mähdrescher auf der Straße zu dieser Jahreszeit ....denkt er noch, rechterhand verschwindet Kroppenstedt im Dunst der Senke.....

Nach mehreren Windungen der kurvigen Fahrbahn öffnet sich die nächste Senke, wie durch eine erstarte urzeitliche Dünung läuft die Spur schnurgerade in die Ferne, endlos wie ein Kielwasser der unvorhersehbaren Zukunft, der graue Nebel gibt den Horizont nicht frei, ohne jedes Maß die Flächen rechts und links des Weges. Er muss dringend anrufen, um seine Verspätung zu entschuldigen, greift das Mobiltelefon..... aber es hat keinen Netzkontakt mehr. Bist du hier auf dem richtigen Weg?

Immer weiter scheint sich die durchquerte Landschaft zu leeren, als habe der vergangene Winter das Leben in diesem Landstrich für alle Zeiten ausgelöscht, braungrau und dunkel liegen die umgebrochenen Flächen soweit das Augenlicht reicht. Der Nebel ist dichter geworden, einmal tauchen zwei Scheinwerfer vor ihm auf, ein dunkler Schatten zieht vorbei. Er muss langsam fahren, und das Telefon hat immer noch keinen Empfang.

Heteborn am Hakel steht als Hinweis für die nächste Siedlung. Rechtzeitig verlangsamt er den Wagen zum Ortseingang, kein Mensch ist zu sehen, auch kein Tier, nur stumme graue Häuser unbestimmter Richtung, aus dem Leben gefallen, dazwischen mit Feldsteinen geschichtete Scheunen und Ställe, die den braungrauen Putz schon vor Zeiten abgestoßen haben, dicht am linken Straßenrand wird ein grün bemoostes Scheunentor sichtbar..... und irgendeine fremde Stimme in ihm sagt leise: Kehr um, Du bist hier nicht auf dem richtigen Weg!


Hier endet der 151. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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