Sozialer Pflichtdienst: Mit Gemeinsinn gegen Ego-Müll
Gemeinschaft Wer glaubt, man könne die Verwahrlosung öffentlicher Räume allein mit Steuern und Bußgeldern bekämpfen, irrt. Ein Plädoyer für einen ästhetischen Republikanismus
Man schaut sich um in der Nachbarschaft und fragt sich: Wollen wir so miteinander leben? Ist es hier schön?
Foto: Katja Hoffmann/laif
Anfang Januar. Es nieselt. Ein junger Mann tritt vor die Tür eines Neuköllner Spätkaufs, er schaut in Richtung Sanderstraße. Dort sind noch immer die Spuren brennender Barrikaden, Autos und E-Roller aus der Silvesternacht zu finden. Der Mann öffnet eine neue Schachtel Zigaretten, zündet sich eine an – und wirft die kleine Schutzfolie aus Aluminium zu Boden. Ein kurzer Moment sozial-ökologischer Entrüstung: Und wer soll das jetzt aufheben? Macht er das zu Hause bei Mama auch so? Doch politisch produktiver und auch didaktisch sinnvoller wäre eine andere Frage: Sieht so der Kiez aus, in dem wir gemeinsam leben wollen?
Es gibt zunächst einen symptomatischen Zusammenhang zwischen der Verwahrlosung öffentlicher Räume in der verm
er vermüllten Großstadt und dem, was man in der Politischen Philosophie die „libertäre“, radikal auf Freiheit pochende Mentalität nennt: Man will sich von Staat und Gesellschaft möglichst wenig sagen lassen. Zentral ist das Recht, von anderen in Ruhe gelassen zu werden. Es ist alles erlaubt, was nicht explizit verboten ist. Und die Verbote sind auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren. Dieser libertäre Freiheitsdrang ist weiter verbreitet, als man es auf Twitter glauben möchte. Er zieht sich quer durch alle Schichten der Gesellschaft, ist keine Spezialität von Querdenkenden, der Welt-Chefredaktion oder einer einzelnen Partei. Und er weist auch keinen bestimmten Klassen-, Migrations- oder Generationenhintergrund auf.Was aber hat diese Ichzentriertheit mit dem hässlichen Wohlstandsabfall aus Pizza-Kartons, Plastik, ausrangierten Kühlschränken und verschlissenen Matratzen zu tun? Diese schleichende Verwahrlosung ist nicht bloß Zeichen schlechter Erziehung, sondern stadtästhetischer Ausdruck einer grassierenden Nicht-Identifikation; einer privatistisch reduzierten Willkürfreiheit. Wer Steuern zahlt, braucht sich um die Entsorgung eigenen Plunders nicht zu kümmern, weil es dafür ja die Stadtreinigung gibt. Auch der Leihroller wird mitten auf dem Gehweg abgestellt, das Auto keck in der zweiten Reihe geparkt, man zerrt den Einkaufswagen vom Gelände des Discounters, ärgert sich über die GEZ. Man schätzt die Anonymität, läuft wochenlang durch dunkle Hausflure, obgleich man die Glühbirne auch mal selbst austauschen könnte. Und weil die Hundesteuer hoch ist, darf der Wauwau geradezu überall sein Geschäft machen – nur nicht in der eigenen Wohnung natürlich.Demokratie von untenEin aktueller Bestseller des populären Libertarismus titelt: „Freiheit beginnt beim Ich“. Das mag sein, aber wenn sie dort auch endet, dann sieht es in unseren Straßen eben so aus, wie es aussieht. Reflexhaft rufen diese Phänomene eine neue Verbotskultur auf den Plan: Das neoliberale Wirtschaftssystem sei ohne diese egoistische Wegwerfmentalität gar nicht zu denken. Appelle an Gemeinsinn helfen da wenig. Die Gegner:innen nennen es „solidarisch“, aber es geht um Verbote: Plastiktüten, Einweggeschirr, Strohhalme, Laubbläser, Versandhausretouren, Inlandsflüge, E-Scooter und natürlich Böller. All das steht derzeit auf der Wunschstreichliste jener, die zuletzt auch die Impfpflicht primär als Waffe gegen die „gekränkte Freiheit“ unsolidarischer Egomanen verstanden haben.Obwohl sich beide Seiten allergisch meiden müssten, verhalten sie sich parasitär symbiotisch, indem sie sich jeweils zu immer neuen Provokationen zwingen. Dabei tritt gerade kein Gegensatz zutage, sondern deren unheilvolle Allianz: Die neue Verbotskultur ist selbst nur das Abfallprodukt einer zur Willkürfreiheit tendierenden Ichbezogenheit. Beide Sichtweisen sind auf dem Holzweg, sie gehen vom egoistischen Individuum aus, das allein durch finanzielle Anreize oder staatliche Strafe in Schach gehalten wird. Dadurch wird beidseitig das selbstbezogene Subjekt bestätigt, das zur Kooperation getragen werden muss – wie ein fauler Hund zum Jagen.Der Soziologe Ferdinand Tönnies hat im Jahr 1887 eine ganz andere Alternative erwogen: „Gesellschaft“ oder „Gemeinschaft“? Bejaht man die Idee einer reinen Zweckbeziehung atomisierter Individuen, die allenfalls vertraglich und im rationalen Eigeninteresse miteinander kooperieren, sonst aber in Ruhe gelassen werden wollen? Dann wird das Kollektivmodell „Gesellschaft“ favorisiert. Zivile Pflichten, etwa in Bezug auf Pflegenotstände oder Landesverteidigung, werden abgelehnt und stattdessen als monetarisierbare Dienstleistungen betrachtet.Oder denkt man sich das Kollektiv als ein organisches Ineinander, das von einer geteilten Identifikationsidee, aber auch von einem jeweils individuellen Zugehörigkeitsgefühl getragen wird? Dies ist das Modell „Gemeinschaft“, das seit der Antike keineswegs nur in konservativen Kreisen bevorzugt wird, sondern auch im „Republikanismus“. Ob in der Polis, in der Stadt oder im Kiez: Die Gemeinschaft fußt auf der geteilten Verantwortung für die „öffentliche Sache“ (res publica). Und damit stets auch auf der aktiven, gemeinsamen Ausgestaltung politischer Angelegenheiten als Demokratie „von unten“.Dieser Republikanismus der Halbdistanz setzt auf vergemeinschaftete Individuen, die gemeinsame Sache machen, dabei aber doppelt Abstand wahren: zur egomanischen Willkürfreiheit einerseits und zur kollektivistischen Unterwerfung andererseits. Hier wäre das Individuum weder bloß „Bourgeois“ noch „Untertan“, sondern „Citoyen“. Ein „eminent politisches Wesen“, wie Jean-Jaques Rousseau sagt, das sich an einem vernünftigen „Gemeinwillen“ zu orientieren vermag, der über empirische Mehrheiten partikularer Einzelinteressen hinausgeht.Selbstredend ist auch hier Skepsis geboten: Der Libertarismus setzt zu wenig soziale Bindungskräfte frei, der Republikanismus womöglich zu viel. Wer aber den Menschen auf dessen zweckrationale Bedürfnisstruktur reduziert, behandelt ihn schlicht unter seiner Würde als einem „Zoon politikon“, das eben nicht bloß zu privater Willkürfreiheit fähig ist, sondern auch zur öffentlichen Autonomie gemeinsamer Selbstgesetzgebung.Chillen ist keine BürgerpflichtImmanuel Kant hat einst die kuriose These vertreten, der Mensch lebe in „zwei Welten“ zugleich, zwischen denen er pendele: In der sogenannten Sinnenwelt sind Menschen „empirische“ Wesen mit teilweise recht egoistischen Trieben und Neigungen. Als Bewohner der Verstandeswelt hingegen sind wir „intelligible“ Geschöpfe mit dem Moralvermögen, von eigennützigen Neigungen universalisierend Abstand zu nehmen. Man denke hier etwa an die derzeit viel diskutierte „soziale Dienstpflicht“, die der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in die Diskussion brachte, etwa im Bereich der Pflege, bei der Feuerwehr, im Klimaschutz, bei der Armee oder in NGOs. Der Bundespräsident hat keine schlechten Argumente: Demokratie und der gesellschaftliche Zusammenhalt sollen gestärkt werden.Dennoch dürfte der empirische Sinnenmensch mitunter – besonders dann, wenn er noch jung ist – wenig Lust verspüren, aufs „Chillen“ zu verzichten, um sich für längere Zeit um die Gemeinschaft zu kümmern. Aber der Vernunftmensch weiß, dass gelebte Solidarität, auch über Generationen hinweg, wünschenswert und notwendig ist. Ähnliches gilt für das unbeliebte Zahlen von Steuern, für das solidarische Gesundheitssystem oder die Landesverteidigung: persönlich oft eine Zumutung, aber leider vernünftig.Die gängigen Einwände gegen die Dienstpflicht lassen sich entkräften: Ein ganzes Jahr muss es nicht sein. Sie sollte wie ein Job, nicht wie ein Praktikum bezahlt werden. Der Vorwurf, es würden akute Notstände, etwa in der Pflege, auf dem Rücken der Jugend abgeladen, übersieht, dass die Jugend von heute das Alter von morgen ist, das dann seinerseits profitieren wird. Und es müsste sich keineswegs um eine zwangsbewährte „Pflicht“ handeln. Stattdessen sollten positive Anreize wirken: Boni bei der Aus- und Weiterbildung, bei der Studienplatzsuche, Rentenansprüche, Kulturgutscheine.Raus aus der VerwahrlosungKritiker:innen werden dies als eine unfaire Bestrafung jener betrachten, die nicht spuren wollen. Aber Belohnungen sind nun einmal Belohnungen – und keine Benachteiligung jener, die nicht wollen. Auch die weiteren Vorteile einer solchen von Anreizen bestimmten Dienstpflicht sind evident: Lebenserfahrungen jenseits des auf „Verwertung“ fixierten Bildungswegs, Einblicke in die Diversität schwieriger Lebenslagen sowie der als sinnstiftend und selbstwirksam erfahrene Beitrag zum solidarischen Zusammenhalt. Um es mit dem Bundespräsidenten zu sagen: „Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein. Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen.“ Oder mit Blick auf die Silvesternacht formuliert: Wer selbst einmal in einem Krankenwagen oder bei der Feuerwehr im Einsatz war, wird die Kolleg:innen kaum mehr mit lebensgefährlichen Böllern hinterrücks überfallen wollen.Dieser republikanische Solidaritätszuschlag dient hier nur als Beispiel für den politisch erforderlichen Perspektivwechsel: mehr bürgerschaftliche Verstandeswelt, weniger ichzentrierte Sinnenwelt. Wenn der Verstandesmensch die nötigen Ziviltugenden „übt“, gewöhnt sich allmählich auch der Sinnenmensch daran – und muss so nicht länger durch Verbote gegängelt werden. „Zivil“ sind diese Tugenden auch insofern, als sie zu einer stilistischen Transformation bürgerschaftlicher Umgangsformen – vor allem zu mehr Takt und Rücksicht – führen werden. Am Ende schlägt sich das auch im vermüllten Stadtbild nieder. Der Republikanismus ist nicht zuletzt ein ästhetisches Projekt. Man schaut sich um in der Nachbarschaft und fragt sich: Wollen wir so miteinander leben? Ist es hier schön? Wer glaubt, man könne die Verwahrlosung öffentlicher Räume allein mit Steuer- und Bußgeldern oder aber durch einen Umzug aufs Land bekämpfen, irrt. Auch hier ginge es darum, den arg strapazierten Lebensraum als einen geteilten wiederzuentdecken, den es zu bewahren und zu gestalten gilt.Über die Frage, was Stil und „schön“ ist, lässt sich streiten. Doch genau das wäre ein republikanischer Neuanfang: Man debattiert nicht länger nur über die ungerechte oder die schlecht integrierte Gesellschaft, sondern endlich auch über die hässliche. Der ästhetische Republikanismus soll nicht zuletzt ein sinnliches Wohlergehen jenseits von privatistischer Absonderung und kollektivistischer Vereinnahmung ermöglichen. Im aktuellen Krisenmodus mag das kaum vorstellbar sein. Aber spricht das gegen den ästhetischen Republikanismus oder nicht doch eher gegen die gegebenen Umstände? Um es in Verkehrung eines berüchtigten Ausspruchs von Helmut Schmidt zu sagen: Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.
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