Fürchtet euch nicht: Sapere aude!

Weihnachtsansprache Bundespräsident Gauck beklagt, die Schere zwischen Arm und Reich ginge weiter auseinander. Tatkräftige Politiker reichen ihm nicht. Mehr Solidarität soll werden. Amen!

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Kurz vor eins am Morgen des 24. Dezember stolpere ich müde aus der "Pommesbude mit Gleisanschluss" (der im Jahre 2011 verstorbene Ex-Oberbürgermeister Günter Samtlebe bezeichnete einst den wenig attraktiven Hauptbahnhof seiner Stadt so). Es regnet. Die Temperatur ist beinahe frühlingshaft zu nennen. Der in eine Diskussion verstrickte Chauffeur des ersten Taxis in der Schlange bittet mich den zweiten Wagen zu nehmen. Okay. Eine interessante Fügung, wie sich bald herausstellen sollte. In den Ein-Uhr-Nachrichten kommt die Sprache auf Joachim Gauck. Ich schnaufe durch. Die Weihnachsansprache des Bundespräsidenten! Die Nachrichten verkünden, das Staatsoberhaupt mahne die Bürger zu mehr Solidarität. Ich muss kurz auflachen. Die Schere zwischen Arm und Reich ginge weiter auseinander, habe der Bundespräsident beklagt. Mein Auflachen wird bitter. Wir brauchten nicht nur tatkräftige Politiker, habe Gauck gesagt, sondern auch engagierte Bürger, höre ich aus dem Taxiradio. Mein Blutdruck steigt. Empörung. Waren und sind es nicht gerade "tatkräftige Politiker" - und zwar namentlich aus den Parteien SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP - gewesen, die sozusagen munter zupackend dafür sorgten und weiter dafür sorgen, dass die Solidarität in diesem unserem Lande mehr und mehr flöten ging und wohl noch weiter flöten gehen wird? Man muss es wohl schon Chuzpe nennen, dass der Ex-Pastor Gauck angesichts dessen zu mehr Solidarität aufruft! Aber damit bleibt er ja auf der Linie. Andere Politiker fordern mehr Selbstverantwortung. Und zwar da, wo dem vom Kapital mithilfe seiner Helfershelfer in den schon genannten Parteien in die Ecke gedrängten Staat immer mehr die finanzielle Puste ausgeht und er sich in Folge dessen von "freiwilligen Aufgaben" zurückziehen muss. Gauck appelliere, so der Nachrichtensprecher weiter, in seiner Rede an die Deutschen, mehr Mut und Zivilcourage zu zeigen. Da kann ich dem Manne allerdings nur zustimmen! Mut und Zivilcourage tun wirklich not. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, Herr Ex-Pfarrer Gauck!

"Wir sehnen uns nach Frieden."

Schöne - ja gut, es lebe die Ausgewogenheit!, auch mahnende - Worte zu Weihnachten. Gerichtet von Bundespräsident Joachim Gauck an die lieben "Bürgerinnen und Bürger hier im Land, und" die lieben "Landsleute in der Ferne". Es weihnachtet sehr. Bundespräsident Joachim Gauck: " Viele von uns lesen und hören in diesen Tagen die Weihnachtsgeschichte. In dieser Geschichte um das Kind in der Krippe begegnen uns Botschaften, die nicht nur religiöse, sondern alle Menschen ansprechen: "Fürchtet Euch nicht!" und "Friede auf Erden!" Wir sehnen uns nach Frieden - auch und gerade, weil in der Realität so viel Unfriede, so viel Krieg herrscht." Ein Faktum, das erwähnte der Bundespräsident freilich nicht, an dem das nach Kriegsminister de Maiziére erwachsen gewordene Deutschland nach Kräften wieder seinen erklecklichen Anteil hat. Und wenn es nur Waffen schickt. Gauck: "Vor wenigen Tagen bin ich aus Afghanistan zurückgekehrt. Es hat mich beeindruckt, wie deutsche Soldatinnen und Soldaten unter Einsatz ihres Lebens Terror verhindern und die Zivilbevölkerung schützen. Mein Dank gilt ihnen - wie auch den zivilen Helfern dort."

Welch euphemistische Betrachtungsweise! Meist haben die "Soldatinnen und Soldaten" hauptsächlich damit zutun, sich selbst zu schützen. Und die zivilen Helfer wären gewiss manchmal froh, ohne den "Schutz" der ISAF agieren zu können. Die Theologin Margot Käßmann hatte so Recht: Nichts ist gut in Afghanistan. Nach zehnjährigem Krieg ist manches Porzellan zerschlagen. Die Sache (um was ging es da angeblich nicht alles?!) ist haushoch verloren. Aber Politiker und zu Truppenbelustigungen eingeflogenes deutsches Showpersonal erleben Afghanistan eben nur aus der Perspektive der schwerbewachten Bundeswehrcamps. Geschenkt, Herr Bundespräsident! Sie kennen ja diese Hurrameldungen noch aus DDR-Zeiten. Es lebe hoch die Staatsräson!

"Wird unser politische Wille zusammenhalten können, was ökonomisch und kulturell so unterschiedlich ist?"

Bundespräsident Joachim Gauck weiter: "Eine solche Reise führt dem Besucher vor Augen, wie kostbar der Frieden ist, der seit über 60 Jahren in Europa herrscht. Gesichert hat ihn die europäische Idee. Zu Recht hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhalten. Jetzt aber ist die Frage: Wird unser politischer Wille zusammenhalten können, was ökonomisch und kulturell so unterschiedlich ist?" Friedensnobelpreis zu Recht? Es sei Ihnen geschenkt, Herr Bundespräsident! Wird es zusammenhalten, unser Europa? Eine Frage, die uns Gauck zu Weihnachten zum Bedenken auf den Gabentisch legt. Deutschland könnte, wollte es, den Zusammenhalt stärken. Aber Deutschland ist nicht unschuldig an der derzeitigen europäischen Misere. Stichwort: wirtschaftliche Ungleichgewichte. Und die Wahrheit ist: Die europäische Idee wird ruiniert. Auch weil derzeit viel zu viel Deutsch in Europa gesprochen wird. Fragen Sie, Herr Bundespräsident, mal Bundeskanzlerin Angela Merkel warum? Auch geschenkt. Als gelernter DDR-Bürger weiß man mit solchen Reden umzugehen. Ja, Herr Gauck, auch das durfte nicht fehlen: "Deutschland hat die Krise bisher gut gemeistert." Bis jetzt, möchte man da entgegenhalten. Aber wie sagen die Russen: budjet, budjet - es wird, es wird. Und zwar: nicht so bleiben. Aber wer ist überhaupt Deutschland? Uns geht es gut! Wer ist denn "uns"?

Liebe

Und dann noch ein schönes Gauck-Wort: "Wer keine Zuwendung erfährt und keine schenkt, kann nicht wachsen, nicht blühen." Wie wahr! Weiter: "In der Sprache der Politik heißt das: Solidarität. In der Sprache des Glaubens: Nächstenliebe. In den Gefühlen der Menschen: Liebe."

Beschwindelt und freigesetzt

Endlich bin ich zuhause angekommen. Taxifahrer wissen meist wo's lang geht. Auch im Leben. Meiner, erfahre ich noch, hat einen tollen Beruf: Energieanlagenelektroniker. Und warum arbeitet er nicht mehr als solcher? Weil ihn sein einstiger Arbeitgeber erst beschwindelte und dann "freistellte". Aber der gute Mann bekam vom Jobcenter die Chance wieder in derselben Firma zu arbeiten. Als Leiharbeiter mit weniger Geld. "Tatkräftige Politiker" sorgten dafür, dass derlei hierzulande möglich wurde. Nun fährt der schon ältere Mann "lieber" Taxi. Oft zwölf Stunden lang. Vorwiegend nachts. Was bleibt ihm anderes übrig? Von Hartz-IV hält er nichts. Wer wollte es dem Mann verübeln? Gute Nacht und guten Weg, mein Chauffeur! Ach so: Frohe Weihnachten!

Was wäre wenn?

"Fürchtet euch nicht!", habt den Mut euch eures eignen Verstandes zu bedienen. Frei nach Kant also: Sapere aude! Wo Gauck Recht hat, hat er Recht: Wir brauchen mehr Solidarität in unserer Republik. Damit die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinander geht. Wir brauchen mehr Bürgerinnen und Bürger mit Zivilcourage! Doch was wären die Konsequenzen solchen Handelns? Manch "tatkräftige Politiker" müsste womöglich seinen Hut nehmen. Aber es ist ja nur eine Weihnachtsrede. Die wird wohl nicht so heiß "gegessen" werden, wie sie in einigen Gauck-Worten zu tönen scheint. Oder doch? Passt etwa eine andere Radio-Nachricht von heute vormittag im dazu: Die Bundespolizei soll künftig mehr Mittel erhalten. Darunter auch mehr gepanzerte Fahrzeuge. Wofür? Ein friedliches Weihnachten 2012, liebe Leut!

Die gesamte Weihnachtsansprache im Wortlaut via Spiegel.de

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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