Menetekel vorm Abgrund

Spionageaffäre Die Spionageaffäre bringt unheilvolle Zeichen zum leuchten: Finanzkrise. Gestutzte Demokratie. Eine Vertrauenskrise. Zeit, selbstverschuldeter Unmündigkeit zu fliehen.

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Friedrich Nietzsche schrieb in "Jenseits von Gut und Böse": "Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." Zwar gab Giogio Colli in "Nach Nietzsche" zu bedenken, dieser habe "alles gesagt und das Gegenteil von allem", weshalb "Ein Fälscher" sei, "wer Nietzsche interpretiere, indem er Zitate aus ihm" benutze. Sei es drum. Die Welt war schon immer kompliziert. Und es soll hier auch gar nicht um eine Interpretation von Nietzsche gehen. Sondern vielmehr um die Beschreibung eines dumpfen, unheimlichen Gefühls, dass mich seit Ausbruch der Finanzkrise verstärkt beschleicht. Dazu mag hier am Rande (am Abgrund?!) auch das eingangs erwähnte Zitat Nietzsches dienen.

Finanzkrise und Postdemokratie

Die Finanzkrise brachte uns Europäer ziemlich nahe an einen gähnenden Abgrund. Wenngleich wir in Deutschland bislang noch gut - sogar noch auf Kosten schlimm betroffener Krisenländer! - dabei wegkamen. Aber ist die Krise beendet? Ist nachhaltig Vorsorge getroffen worden, dass künftig ähnliche Entwicklungen ausgeschlossen sind? Mitnichten! Im Gegenteil schwelt in mir der Verdacht, die Krise wurde bisher nur auf eine längere Bank geschoben. Und die beschlossenen Rettungschirme sowie die von den EU-Staaten eingegangenen anderen Verpflichtungen für den Fall des schlimmsten Falles - die nebenbei bemerkt immer mehr an nationalen und demokratischen Entscheidungsmöglichkeiten vorbei von nicht demokratisch legitimierten Gremien bestimmt werden - müssten uns doch alle eigentlich mit allergrößter Sorge erfüllen.

Sind nicht gar die Zeiten schon längst angebrochen, die Colin Crouch als postdemokratisch beschrieb? Ein laut Wikipedia "politisches System, in dem es nicht auf die Beteiligung der Bürger (als Input gesehen), sondern nur auf Ergebnisse ankommt, die dem Allgemeinwohl dienen und dem Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit genügen (Outputorientierung). In Bezug auf kollektiv verbindliche Entscheidungen wird dabei demokratischen Verfahren nur instrumentelle Bedeutung zugemessen. Sie erscheinen nützlich, wenn und insofern Mehrheitsentscheidungen oder demokratisch kontrollierte hierarchische Entscheidungen geeignet sind, allgemeinwohlorientierte Politik hervorzubringen." Vereinfacht ausgedrückt: Ein Konstrukt, nach wie vor DEMOKRATIE genannt, welches aber nur noch aus einen immer klappriger werdenden Skelett besteht, das mit einer knallig bunten Plane bedeckt ist, auf welcher jener längst sinnentleerte Begriff gepinselt steht. Freilich braucht man noch immer die Bürgerinnen und Bürger, die ihre Stimme im wahrsten Sinne des Wortes abgeben: der Urne überantworten.

Ein ungutes Gefühl

Nein, eine Diktatur haben wir noch nicht. Aber haben wir denn noch eine Demokratie, wo die Mehrheit des Volkes entscheidet? Nun steht uns in Deutschland eine Große Koalition bevor. Die, so wollen uns Mainstreammedien und bestimmte Politiker weismachen, ist der Wille der Deutschen. Käme sie, stünde eine von den Mehrheitsverhältnissen her betrachtet an einen Elefanten gemahnende Regierung aus Union und SPD einer mauskleine Opposition aus Linkspartei und Grünen gegenüber. Und es steht zu befürchten, dass jener schwarz-rote Regierungselefant dann durchs Land tappert und auch noch die Reste des verbliebenen Porzellans eines demokratischen Sozialstaates zerdeppert. Ein ungutes Gefühl, wie ich finde.

Mal in den Keller gehen!

Dazu nun noch die NSA-Affäre. Richtig aufgeschreckt tun unsere Regierenden, vorne weg Angela Merkel, erst seit bekannt wurde, dass auch das Handy der Bundeskanzlerin vom der NSA abgehört wurde. Dabei machte Historiker Josef Foschepoth mehrfach deutlich, dass diese Abhörpraxis durch frühere geheime Regierungsprotokolle (zunächst von Bundeskanzler Konrad Adenauer unterschrieben) und fortbestehenden alliierten Sonderrechten gegenüber dem besiegten Deutschland gedeckt ist. (Dazu ein Interview in Zeit Online, via NachDenkSeiten und ein Artikel hier in der Community von Hans Springstein) Leider versuchen einige Journalisten und Politiker noch immer diese Hinweise auf die nach wie vor fehlende volle Souveränität Deutschlands zu negieren bzw. diese Vereinbarungen mit den Alliierten als abgeschafft vom Tisch zu wischen. Denen wie Angela Merkel sei, wie Hans Springstein hier im Freitag Foschepoth zitierte, empfohlen: "Ich selber habe in den Geheimarchiven der Regierung geforscht. Da findet man das alles. Sie müsste einfach nur mal in den Keller ihres Kanzleramtes gehen oder mein Buch lesen."

Partner, keine Freunde

Wie auch immer: Wir spüren nicht nur anläßlich diesen Falles wie wir gewaltig hinter die Fichte geführt werden (sollen). Nicht zuletzt wurde dies gestern in der Talkshow von Günther Jauch deutlich. In diesem einen Punkte wenigstens machte sich der gestern der ansosnten ziemlich in die Bredouille geratene Ex-Botschafter der USA, John Kornblum, ehrlich. Indem er nämlich hinsichtlich des Verhältnisses USA-BRD nicht von einer Freundschaft sondern von Partnerschaft sprechen wollte. Wer im DDR-Deutschland aufwuchs hat sicher noch das regierungsamtliche Gesäusel von der "unverbrüchlichen Freundschaft" mit der Sowjetunion wie ein Klingeln im Ohr. Und weis von derlei Phrasen zu halten ist. Die USA mögen die diversen Bundesregierungen in Bonn und später die von Berlin als Hauptstadt des wieder zusammengefügten Deutschlands aus agierenden immer als Partner bezeichnet haben. Erwartet haben dürften das Weiße Haus und die dahinter stehenden einflussreichen Kräfte in den USA stets, dass die Bundesdeutschen wie Vasallen funktionieren. Und darauf konnten sich die Amis bis auf klitzekleine Ausnahmen auch verlassen.

Insofern ist Deutschland ein Sonderfall. Dass auch andere Regierungen in der Welt - über dreißig an der Zahl - von der NSA ausgespäht wurden zeigt indes, dass es dieser US-Sondervollmachten wie die, die BRD betreffend, nicht unbedingt bedarf. Die USA schalten und walten seit 1945 ohnehin geheimdienstlich wie und wo sie wollen. Sie agieren gegen demokratisch gewählte Regierungen und tragen wenn es in ihrem Interesse zu liegen scheint zu deren Schutz bei. Selbst vor Mord und Totschlag ist da nicht zurückgeschreckt worden. CIA und andere Geheimdienste könnte ein Lied davon singen.

So etwas kommt freilich bei Günther Jauch nicht vor. Mag sich auch John Kornblum auf seine lebenslänglich geltende dienstliche Schweigepflicht berufen: So wissen dennoch im Grunde genommen alle, dass in jeder US-Botschaft (und auch in den Botschaften anderer Länder) generell Geheimdienstleute tätig sind. Fakt ist, dass der Abhörfall Merkel, wie selbst Kornblum einräumte, nur eine "Riesendummheit" darstellt, sondern auch im hohen Maße kriminell ist und eine vertrauenszerstörende Wirkung zeitigen dürfte.

Und am Rande der Talkshow, u.a. durch Juli Zeh, konnte deutlich werden, wie die USA die Welt hinter die Fichte führt. Längst geht es Washington nämlich nicht nur um einen Kampf gegen den Terror, sondern um schnöde Wirtschaftsspionage. Die USA, längst beinahe zu einem reinen Importland verkommen, wollen sich einfach auf Kosten des Rests der Welt Technologien und Rohstoffe sichern.

Bedenklich: Künftig verbrechenvorbeugend inhaftieren?

Juli Zeh war es gestern bei Jauch auch zu verdanken, dass noch immerhin kurz rzu Sprache kam, was voranschreitende Technik künftig möglich machen könnte. Nämlich wird es in vielleicht gar nicht ferner Zukunft offenbar möglich sein bei im Augenblick noch völlig unschuldigen Mitmenschen festzustellen, dass sie später ein Verbrechen begehen könnten. Was soll mit diesen Menschen dann geschehen? Sollen sie vorbeugend inhaftiert werden? Wer jetzt abwinkt und Bedenken lax beiseite wischt, mag sich an Ideen erinnern, die im Zuge des "Kriegs gegen den Terror" aufkamen! Auch in Deutschland. Mit Rechtsstaatlickeit standen das nicht im Einklang. Es gab immerhin Stimmen, die sich dagegen erhoben. Was, wenn das künftig nicht mehr der Fall sein wird? Was, wenn Meinungsmache nicht mehr durch kritische Medien entlarvt werden würde? Beziehungsweise diese kritischen Medien - natürlich aus ökonomischen Gründen dahin gebracht - so geschreddert und eingeebnet sein werden, dass sie aus im allgemeinen Meinungsbrei nicht mehr hervorscheinen?

Keine Naturgewalten

Nicht selten lassen Medien und Politiker den Eindruck entstehen, als hätten wir es angesichts eines rasant voran schreitenden technischen Fortschritts und der damit verbundenen jetzigen und zukünftigen Möglichkeiten quasi mit Naturgewalten zu tun, die zu beeinflussen wir überhaupt nicht mehr in der Lage seien. Fast glaubt man da herauszuhören, wir müssten uns eben damit abfinden.

Lassen wir als Gesellschaft jedoch diesen Eindruck unwidersprochen stehen und ziehen uns als Individuen in Nischenwelten zurück, so leisten wir einer gefährlichen Entwicklung Vorschub. Vertrauen in Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und staatliche Institutionen schwindet. Diese Entwicklung kann uns geradewegs von der Postdemokratie in die Nichtdemokratie führen. Von der man uns gewiss den Anschein vermitteln wird, dass es sich dabei keineswegs um eine Diktatur handele, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit deren wir uns gegenüber einsichtig zu unser aller Nutzen zeigen müssten. Eben, weil es gewisse Sachzwänge auch globaler Natur, die für den Einzelen zu komplex seien, um sie zu verstehen, erforderten.

Orwell schon auf dem Weg?

Der Überwachsungsstaat nach Orwell, ist der nicht längst schon auf dem Weg gebracht? Und zwar nur viel raffinierter und dermaßen diffus auf dem Marsch durch die Instutionen, dass es uns - oder: vielen von uns - überhaupt nicht auffällt? Oder eben mal wieder nur, wenn der Aufschrei der Medien wie im Abhörfall Merkel groß genug ist.

Aufklärung tut not

Wir Menschen gelten als vernunftbegabt. Das unterscheidet uns von den Tieren. Wir sollten endlich aufwachen und uns auf das besinnen, was Immanuel Kant 1784 (!) niederschrieb: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht aus Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. 'Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!' ist also der Wahlspruch der Aufklärung."

Spionageaffäre läßt Menetekel sehr hell aufleuchten

Der letztlich wegen der nicht nachhaltig beseitigten Ursachen, welche zur Finanzkrise führten, bzw. ein schon bald wieder drohender erneuter Crash, eine Demokratie mit gestutzten Flügeln und eine anschwellende Vertrauenskrise in Folge eines ausufernden Überwachsungsstaats sollten uns als Menetekel längst sichtbar geworden sein. Die Spionageaffäre läßt dieses Menetekel momentan sehr hell aufleuchten.

Sapere aude!

Nichts von alldem ist naturgegeben. Es ist vielmehr durch Menschen sehenden Auges herbeigeführt worden. Demzufolge sind Menschen in der Lage auch wieder davon zurück zu treten. Freilich, um noch einmal zu Friedrich Nietzsche zurückzukehren, müssen wir bei dem Kampf gegen die Demokratie bedrohenden Ungeheuer, die wir, am Rande bemerkt, wie weiland der Zauberlehrling selbst geschaffen haben - wenn wir sie denn bekämpfen wollen - aufpassen, dabei nicht selbst zu Ungeheuern werden.

Wir haben doch schon lange genug in den Abgrund geblickt. Kann sein, dass Viele nur noch nicht geblickt haben, dass es sich dabei um einen Abgrund handelt. Wer aber das Bröckeln seines äußerst porösen Randes hört, der spürt auch: Der Abgrund blickt schon eine Weile in uns hinein.

Einiges liegt wie Mehltau über der Gesellschaft. Sie ist anscheinend gelähmt. Und in diversen Lügen gefangen. Mit Kant: Sapere aude!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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