„Der verlorene Zug“: Nach dem Krieg ist noch nicht Frieden

Kino In Saskia Diesings Film „Der verlorene Zug“ treffen im April 1945 eine Jüdin, eine Deutsche und eine Russin aufeinander
Ausgabe 17/2023
Hanna van Vliet spielt die niederländische Jüdin Simone
Hanna van Vliet spielt die niederländische Jüdin Simone

Foto: W-Film/Ricardo Vaz Palma

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, so nannte Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ihren 1985 erschienenen Dokumentarroman über die Erfahrungen von sowjetischen Frauen an der Front des Zweiten Weltkriegs. Im Film von Saskia Diesing, der im April 1945 spielt, benutzt die russische Soldatin Vera (Eugénie Anselin) diese Formulierung, um zu schildern, was sie dazu gebracht hat, Scharfschützin zu werden. Im Russischen stellt der Satz eine Warnung dar: Krieg ist nichts für Frauen, weil sie nur seine Opfer sein können. Veras Freundin hatte sich, obwohl der Vater ihr genau das vorgehalten habe, dennoch freiwillig gemeldet und wurde von den Deutschen grausam umgebracht. Sie, Vera, sei an die Front gezogen, um sie zu rächen. Ihre Figur ist sichtlich von Alexejiwitschs Buch inspiriert.

Die Filmhandlung von Der verlorene Zug beruht auf einer wahren Geschichte, die so erstaunlich ist, dass man sich fragt, warum sie nicht schon mehrfach verfilmt wurde: Als die britische Armee sich dem Konzentrationslager Bergen-Belsen näherte, ließ die SS ungefähr 6.000 Inhaftierte evakuieren mit der Absicht, sie als sogenannte „Austauschjuden“ für einen etwaigen Gefangenentausch bereitzuhalten. Der erste Zug wurde unterwegs von Amerikanern befreit, der zweite Zug erreichte sein Ziel Theresienstadt, das am 8. Mai von der sowjetischen Armee eingenommen wurde, der dritte Zug blieb am 21. April bei Tröbitz in Südbrandenburg stehen, weil die SS-Bewacher vor der heranrückenden Roten Armee flohen. 2.400 Menschen, viele davon schwer krank, fanden sich in der prekären Situation wieder, zwar befreit zu sein, aber ohne Essen oder medizinische Versorgung dazustehen. Auch hatten die Deutschen noch nicht endgültig kapituliert.

Eingebetteter Medieninhalt

Mit dieser Situation beginnt die niederländische Regisseurin Saskia Diesing ihren Film, der auf seine Weise dem Krieg, beziehungsweise dem Kriegsende, ein dezidiert weibliches Gesicht geben will. Diesing richtet ihr Augenmerk ganz bewusst weg von den sonst üblichen Protagonisten eines Kriegsfilms und hin auf drei Frauen, die ein bisschen zu idealtypisch die verschiedenen Fronten repräsentieren: Dem Zug entsteigt eine junge Frau namens Simone (Hanna van Vliet), eine niederländische Jüdin, die mit ihrem kranken Mann Isaac (Bram Suijker) so schnell wie möglich ins heimische Amsterdam zurückkehren möchte. Ihr gegenüber positioniert sich die bereits erwähnte Vera, die als taffe Scharfschützin zu einer versprengten Brigade sowjetischer Soldaten gehört, die die Situation unter ihre Kontrolle bringen sollen.

Noch mit Hakenkreuztapete

Es ist absehbar, dass es zu Konflikten mit der deutschen Bevölkerung nicht nur um Essensvorräte kommen wird. Befürchtet wird auch die Ausbreitung der Typhus- und Fleckfieber-Epidemie, die bereits unter den Zug-Insassen viele Opfer gefordert hat. Als Simone und Vera in die Stadt kommen, kreuzen sich ihre Wege mit denen der jungen deutschen Waise Winnie (Anna Bachmann), die sichtlich aus einem sehr Nazi-freundlichen Hause stammt: Ihr Schlafzimmer ist dekoriert mit einer Hakenkreuztapete. Vera rettet Winnie vor der Vergewaltigung und erzwingt, dass Simone und sie bei ihr unterkommen.

Das mag alles etwas schematisch klingen, folgt in der Ausführung aber stimmig dem Ansatz, alles anders zu machen als im herkömmlichen Kriegsfilm. Es passieren zwar auch hier genug schaurige Dinge, Akte von Gewalt und Verrat, aber Diesing besteht auf ihrem Focus auf die Menschlichkeit ihrer drei Protagonistinnen. In berührender Weise zeigt sie, wie die drei Frauen, jede auf ihre Weise zuerst sehr misstrauisch gegenüber den anderen, zu einem Verständnis füreinander kommen, ohne dass sie eine gemeinsame Sprache sprechen. Wie die wachsame Beobachtung, der bloße Austausch von Blicken und die eine oder andere zugewandte Geste komplexe Diskussionen über Schuld, Solidarität und Sühne ersetzen können, führt Diesing meisterhaft vor, auch wenn man am Ende zwangsläufig denkt, dass es in Wahrheit doch vielleicht härter und unversöhnlicher zugegangen sein muss.

Der verlorene Zug Saskia Diesing, Niederlande, Luxemburg, Deutschland 2022, 100 Minuten

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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