„Napoleon“ von Ridley Scott: Im Opferkostüm zum „Survivors’ Ball“
Kino Ridley Scott liefert in seinem Biopic „Napoleon“ ein betont unheroisches Porträt des historischen Helden. Die eigentliche Sensation ist Vanessa Kirby in der Rolle der Joséphine
Leserinnen des „A – Z“ der „Freitag“-Ausgabe 46/2023 wissen ebenso wie Ridley Scott: So klein, wie heute gesagt wird, war Napoleon nicht
Foto: Apple TV+
Beim ersten Date muss Joséphine (Vanessa Kirby) kurz auflachen, ungläubig und verwundert. Ist es der jüngere Mann an ihrer Seite, über dessen Avancen sie staunt, oder der radikale Wechsel ihres Schicksals, der ihr absurd vorkommt? Ihre struppigen kurzen Haare zeigen an, dass sie vor kurzem noch im Gefängnis saß, bedroht von der Möglichkeit, unter der Guillotine zu landen. Nun sitzt sie mit diesem Emporkömmling namens Napoleon auf der Terrasse eines Cafés in der Sonne und trinkt Wein. Man schreibt das Jahr 1795 in Paris, und der „Große Terror“ ist gerade vorbei. Die Elite feiert mit „Themenbällen“ ihr Überleben, die beliebteste Verkleidung ist das „Opferkostüm“ mit einer roten Kette oder ein
einem roten Schal um den Hals, da, wo das Fallbeil getroffen hätte.Verwunderlich ist weniger, dass Ridley Scotts Napoleon voller solcher Details steckt – die nicht immer der historisch-kritischen Untersuchung standhalten: Dass es diese Bälle wirklich gab, wird bestritten –, sondern dass man als Zuschauer die meiste Zeit über nicht sicher ist, wie sie gemeint sind. Macht Scott sich lustig? Über Napoleon, die Revolution, die Geschichte?Wenn die Abgeordneten am 18. Brumaire 1799 mit Fäusten aufeinander losgehen und der kleine Napoleon (Joaquin Phoenix) sich mit seiner Rede nicht durchsetzen kann, glaubt man sich in einer Farce. Als man ihm später den Vorschlag macht, er solle sich zum König krönen lassen, reagiert Bonaparte selbst wie auf einen Scherz. „König?“, wiederholt er mit zunehmendem Sarkasmus, und man versteht, wie in der Tat lachhaft sich der Vorschlag angehört haben muss, kaum zehn Jahre nachdem Louis XVI. geköpft worden war. Die Art, wie er bei der Zeremonie zur Krone greift und sie sich selbst aufsetzt, sorgt schon wieder für Lacher. Und kein Halten gibt es, wenn Bonaparte den soeben in der Schlacht geschlagenen österreichischen Kaiser Franz II. (Miles Jupp) mit den Worten begrüßt: „Es ist so schön, endlich einen anderen Kaiser zu treffen!“Aber natürlich ist bei weitem nicht alles Spaß und Kichern in Scotts Napoleon. Die jetzt im Kino zu sehende 158-minütige Fassung (der angeblich vierstündige Director’s Cut ist bald auf Apple TV+ zu streamen) wird von drei fulminanten Schlachtszenen strukturiert. Am Anfang ist da die Eroberung Toulons, mit der Napoleon seinen militärischen Aufstieg begann. Scott zeigt seinen Helden, wie er im Vorfeld die Lage studiert und einen verwegenen Plan entwirft. Als er mit seinen Mannen nächtens den Überfall beginnt, sieht man Phoenix’ Napoleon die Aufregung und Anspannung an; er atmet schwer, schließt beim Abwarten sogar kurz die Augen, bis er dann den befreienden Befehl zum Losschlagen erteilt. Man sieht auch, dass seine Soldaten alles andere als zimperlich vorgehen.Joaquin Phoenix als Napoleon ist gut kalkulierte FehlbesetzungDie unglaubliche Brutalität der Schlachten mit ihren mal 74.000 (Borodino), mal 124.000 (Leipzig) Opfern setzt Ridley Scott mit der souveränen Effizienz eines echten Regieveteranen in Szene, der weiß, wie man die Massen bewegt. Wenn sich bei Austerlitz Napoleons Täuschungstaktik einmal mehr bewährt und gegen Ende die russische Armee unter Kanonenkugelhagel im Eis einbricht, begreift man ein Stück weit, warum der Ruhm dieses Sieges noch Jahre später seine Soldaten begeisterte. Genauso deutlich vermittelt die Niederlage bei Waterloo schließlich den Überdruss an diesem Massensterben, wenn General Wellington (Rupert Everett), im letzten Moment von der Ankunft Blüchers gerettet, sich mit Napoleon einen letzten Starrwettkampf liefert.Zwischen dem Ernst der Schlachten und der Farce von Napoleons politischem Aufstieg lassen Scott und sein Drehbuchautor David Scarpa eine Menge Stoff aus: Napoleon, der entschlossene Modernisierer, kommt nirgends vor. Dem bockigen Kind, das Phoenix in seiner Interpretation immer wieder hervorkehrt, traut man die nachhaltige Reform von Verwaltung und Justiz jedenfalls nicht zu, die doch Napoleons großes Erbe darstellt. Vielleicht zeigt der Director’s Cut da mehr.Auf interessante Weise ist Phoenix eine gut kalkulierte Fehlbesetzung als Napoleon. Als Schauspieler auf die Darstellung von innerlich zerrissenen Männerfiguren spezialisiert, muss er hier Dinge sagen wie „Ich zweifle niemals an mir selbst“ und das legendär große Ego des „empereur“ verkörpern. Aber genau in der Reibung dieser Anstrengung wird sein Auftritt umso fesselnder. Wahrscheinlich hat sich doch auch Napoleon selbst etwas vorgespielt, frei nach dem Motto „You have to fake it till you make it“.Am natürlichsten wirkt Phoenix’ Bonaparte im Umgang mit seiner Joséphine, gerade weil der Film dieses Verhältnis weniger als Liebesgeschichte denn als echte Beziehung schildert, von Zweifeln und ungleichen Hoffnungen begleitet, durch Misstrauen und Kränkungen vertieft, ein Lebensband, das auch die offizielle Scheidung wegen Kinderlosigkeit nicht auflöst.Vanessa Kirby in dieser Rolle ist die eigentliche Sensation des Films. Sie spielt Joséphine als eine erwachsene Frau, die die Schrecken der Revolution sehr pragmatisch und sehr modern haben werden lassen, auch was das eigene sexuelle Begehren angeht. Wie sie zwischen Trauer und Empörung schwankt, zwischen Liebe und Verachtung, als Napoleon sie zwingt, das Trennungsdekret vorzulesen, erzählt mehr, als ein ganzer Roman es könnte. Die Aussicht, im Director’s Cut mehr davon zu sehen, ist ungemein verlockend.Eingebetteter MedieninhaltPlaceholder infobox-1
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