Lexikon Ridley Scotts Film „Napoleon“ sollte man sich besser historisch bewandert ansehen. Die wichtigsten Fakten und Fake News präsentiert Marlen Hobrack. Zum Beispiel: Er war gar nicht so klein, nämlich 1,68 Meter!
Größer als gedacht, aber mit markanter Frisur: Napoleon
Ä wie Ägyptomanie
Bei kaum einem anderen Staatsmann verbinden sich politische und militärische Erfolge (→ Logistik) so stark wie im Falle Napoleons. Seinen Aufstieg innerhalb des Militärs und dann bis an die Spitze des französischen Staates verdankte er zwar nicht nur seinem militärischen Geschick – es half durchaus, dass er sich politisch als wendig erwies und sich nach anfänglicher Ablehnung der Jakobiner deren neuer Führung in Person von Robespierre doch noch zuwandte. Doch seine große Popularität gründete sich vor allem auf seine Feldzüge in Italien und Ägypten. Gerade der Ägyptenfeldzug, obgleich ein militärischer Fehlschlag, erzeugte in Westeuropa eine regelrechte Ägyptomanie (→ Sphinx).
gyptomanie (→ Sphinx). Schließlich hatte man unter anderem den Stein von Rosetta entdeckt, der schließlich die Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen ermöglichte. Der Italienfeldzug wiederum führte zur Namensänderung des jungen Korsen. Statt des italienischen Buonaparte verwendete er nunmehr die Namensform Bonaparte.C wie Code CivilDer Code Civil, 1804 von Napoleon eingeführt, markiert die Geburtsstunde des modernen Rechts und des Glaubens an die vernunftgeleitete Interaktion freier Citoyens (→ Hegel), die nicht länger feudalistische Untertanen waren und über die aristokratische Tyrannei triumphiert hatten. Viel Freiheitspathos umrankt den Code Civil, der wie kein anderes Gesetzeswerk die globalen Rechtstraditionen prägte. Von Gleichheit und Brüderlichkeit kündet er, was die Frauen freilich ausschloss. Es heißt, die im Code Civil fixierte rechtliche Stellung der Frau sei das Produkt der napoleonischen Kränkung über → Joséphines Untreue gewesen. Er schimpfte sie die „niedrigste Hure der Welt“. Immerhin war sie jene „Hure“, die ihm zum Posten als General der Italien-Armee verhalf. Undank ist der Welten Lohn! Und ein Gesetzestext schon einmal Ausdruck männlicher Vergeltung.G wie GrößeMan kann nicht von Napoleon sprechen, ohne seine Größe zu erwähnen. Natürlich überrascht es, dass er, dem man mangelnde Körpergröße und im Alter wachsende Leibesfülle nachsagt, in Ridley Scotts Napoleon-Film ausgerechnet von Joaquin Phoenix dargestellt wird. Phoenix ist groß und breitschultrig. Trachtet modernes Maskenbild für gewöhnlich nach unheimlicher physiognomischer Ähnlichkeit – mittels Kunstnasen und Perücken –, zeigt Scotts Film wenig Interesse an Ähnlichkeit. Hierin mag er an die höchst umstrittene Kleopatra-Verkörperung in der Netflix-Serie Queen Cleopatra anschließen, in der die Frau griechisch-makedonischer Abstammung kurzerhand eine „woman of colour“ ist. Leibesähnlichkeit hin oder her. So klein, wie man ihm nachsagt (oder besonders die Briten ihn gern hätten), war Napoleon nicht. Mit 1,68 m war er zeittypisch groß. Zum Vergleich: Die Langen Kerls der Leibgarde Friedrich Wilhelms I. sollten 1,88 m messen, aber Rekruten dieser Größe fanden sich selten.H wie HegelHoch zu Ross begibt sich Napoleon Bonaparte anlässlich der hier anstehenden Schlacht in die Studentenstadt Jena. Allein, kaum einer bemerkt den Kaiser am 13. Oktober des Jahres 1806; das Datum fällt leider in die Semesterferien. Im Gegensatz zu den freizeitorientierten Studenten, die sich betrinken oder duellieren oder anderweitig riskant ihre Freizeit vergeuden, wandelt ein Professor durch die Straßen der Stadt: Georg Wilhelm Friedrich Hegel begegnet Napoleon und glaubt sogleich, in Gestalt des strahlenden Eroberers den Weltgeist persönlich erblickt zu haben. Verwechslungen sollen vorkommen. Hegels Blick richtet sich ohnehin auf Größeres, soeben hat er seine Phänomenologie des Geistes fertiggestellt, die zukünftigen Studenten schlaflose Nächte und einiges Kopfzerbrechen bereiten sollte.J wie JoséphineSie war Kaiserin, Liebende, Mätresse und die Tochter von Plantagenbesitzern. Joséphine war zudem diejenige, die Napoleon Zugang zu höheren Kreisen verschaffte. Während die Welt in Napoleon nur den Militär sah, erkannte Joséphine sein weltmännisches Potenzial und seine, nun ja, wahre → Größe. Sagenumwoben ist die Verbindung der Liebenden. Zum Verhängnis wurde der sechs Jahre Älteren, dass sie ihm keine Kinder gebar. Das Problem der Nachfolgerschaft führte schließlich zur Scheidung. Damit wurde die Ehe des Kaiserpaares zur ersten, die gemäß den Regularien des → Code Civil geschieden wurde. Während die echte Joséphine an einer vereiterten Kehlkopfentzündung starb, fand eine zu ihren Ehren in Fort-de-France auf Martinique errichtete Statue 1991 ein gewaltsames Ende: Das wütende Volk köpfte die Statue der Nachkommin von Sklavenhaltern kurzerhand. So erging es Joséphines Ebenbild letztlich so wie ihrer realen Vorgängerin Marie-Antoinette.L wie LogistikWomit steht und fällt eine militärische Operation? Klar, mit der Logistik! Auf diesem Feld erwies sich die Grande Armée lange Zeit als unschlagbar. Statt der Armee einen umfangreichen Versorgungstross folgen zu lassen, bediente sich die napoleonische Armee kurzerhand der verfügbaren Waren und Güter in den eroberten Landstrichen. Das machte Feldzüge kostengünstiger, die Armee schnell und wendig – und die überfallenen Bauern wütend (→ Tyrannei).Wenn sich das mal nicht rächen würde! Just der Bruch mit der eigenen logistischen Logik brachte im Russlandfeldzug den Untergang. Viel zu dünn besiedelt war das zaristische Russland, was bedeutete, dass riesige Mengen von Versorgungsgütern mit Napoleons Armee die Memel überqueren mussten. Die Moral von der Geschicht? Unterschätze die Logistik nicht!S wie SphinxEine Legende besagt, dass Napoleon die Sphinx (→ Ägyptomanie) beschießen ließ, wodurch sie ihrer Nase verlustig ging. Besondere Niedertracht oder Größenwahn? Tatsächlich wurde die Nase der Sphinx wohl bereits im 14. Jahrhundert von einem bilderstürmenden Scheich namens Mohammed Saim el-Dar abgeschlagen. Das Antlitz der Mensch-Löwen-Chimäre, eine Provokation für den religiösen Fanatiker. Im Asterix-Band Asterix und Kleopatra aus dem Jahr 1965 ist es der übergewichtige Obelix, der der Großen Sphinx von Gizeh die Nase aus Versehen abtritt, als er auf ihrem Kopf herumklettert. Im Film lässtNapoleon, nicht weniger größenwahnsinnig und gemein, die Chephren-Pyramide kanonieren. Der Mythos der Sphinx-Zerstörung begründete jedenfalls eine Bildtradition: Napoleon als Ödipus. Letzterer löste bekanntermaßen das Rätsel der Sphinx, während ihm das Rätsel der eigenen Existenz verborgen blieb. So ehelichte er seine Mutter. Napoleon dagegen wählte mit Joséphine eine zweifach geschiedene Mutter zur Gattin.T wie Tyrannei„Ich bin der Erste, der es zugibt, wenn er einen Fehler macht. Aber ich mache einfach keine.“ Das ist die zentrale Botschaft Napoleons in Ridley Scotts Film. Der historisch eingeweihte Zuschauer darf diese Kernaussage noch vor Beginn des eigentlichen Films (sie bildet den Höhepunkt des Trailers) als größten und gewiss wahnwitzigsten Irrtum des berühmten Eroberers und Kaisers begreifen (einmal abgesehen von den Beinkleidern und seiner Frisur, die ebenso wenig vorteilhaft waren). Hybris führt zuletzt zum Sturz des Siegreichen, der sich in seiner Regierungszeit zum Tyrannen entwickelte. Als Alleinherrscher nimmt sich Napoleon, gemessen an den Maßstäben, die Caligula oder Putin setzen, freilich eher handzahm aus. Die Nachwelt erinnert ihn als gescheiterten Invasor und Begründer eines neues Europa, in dem zuletzt die Demokratie siegreich triumphierte.V wie VölkerrechtDie Völkerschlacht von 1813 brachte den europäischen Nationen über neunzigtausend Tote und der Stadt Leipzig ein ästhetisch fragwürdiges, deutschtümelndes Denkmal ein, das allerdings erst zum 100-jährigen Jubiläum der Schlacht fertiggestellt werden sollte. Vor allem aber bedeutete sie Napoleons Rückzug aus Deutschland, das sich daraufhin fröhlich der Restauration widmen konnte – der Wiederherstellung der vor-napoleonischen Verhältnisse. Der pathosgeladene Name der Schlacht geht auf Achim von Arnim zurück, der bekanntlich zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen Romantik zählt. Dichter und Denkervon Goethe, Schiller bis → Hegel sahen in Napoleon wahlweise Luzifer oder eine Lichtgestalt (oder beides). Napoleon selbst betrachtete sich trotz vorangegangener Erfahrungen als unschlagbar. Der in Russland vernichtend Geschlagene versuchte trotzig in Connewitz sein Glück, wo er einen Großteil seiner Truppen stationierte. Nun ist Connewitz bis heute ein schwieriges Pflaster für Gendarmerie, auch Napoleons Truppen ritten hier, wie wir wissen, in den Untergang.Z wie ZitatWer Fake News für eine Sache des 21. Jahrhunderts hält, der irrt. Auch an der Wende zum 19. Jahrhundert liebte man das falsche Zitieren. So stammen wohl einige der Zitate, die man Napoleon zuschreibt, nicht von ihm selbst. Darunter auch das bekannteste (und aus deutscher Sicht wenig schmeichelhafte Zitat): „Es gibt kein gutmütigeres, aber auch kein leichtgläubigeres Volk als das deutsche.“ Dass der französische Kaiser ausgerechnet das deutsche Völkchen für gutmütig befunden haben soll – hier ließe sich praktisch jedes andere europäische Volk glaubhafter einsetzen, namentlich Niederländer oder Schweizer –, kann nur ein leichtgläubiger Deutscher annehmen. Feine Ironie. Doch was waren das für Zeiten, als der größte Vorwurf und die übelste Schmach die Behauptung der deutschen Gutmütigkeit war?Eingebetteter Medieninhalt
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.