Nicht ohne seine Mutter

Finanzbetrug Die Doku „Wirecard – Die Milliarden-Lüge“ lässt die Whistleblower zu Wort kommen – und ihre Eltern
Ausgabe 21/2021

Jeder möchte an einer guten Story mitschreiben“ – so lautet einer der ersten Sätze dieser Dokumentation. Dabei geht es nicht um Drehbuchautoren in Hollywood, sondern um einen „Finanzdienstleister“, ein Wirtschaftssegment, das wegen Langweiler-Verdachts von einschläfernder Aura umgeben ist. Tja, und das war dann genau das Problem. Alle haben sie geschlafen, die deutsche Finanzaufsicht BaFin, die Münchner Staatsanwaltschaft, honorige Finanzprüfer wie KPMG und das Finanzministerium sowieso. Sie haben geschlafen oder sind der „guten Story“ aufgesessen, die Wirecard als die deutsche Antwort auf Apple und Co. beschreiben wollte, ein deutsches Tech-Unternehmen mit schier unendlichem Wachstumspotenzial.

Die Einfachheit des Plots – klar sind digitale Bezahlsysteme die Zukunft! – war mindestens so verführerisch wie die steilen Wachstumszahlen, die Wirecard auswies und die sich dann als gefälscht herausstellten. Seit im Juni 2020 der Betrug endgültig aufflog, kommt die Welt aus dem Staunen nicht mehr raus, sowohl über die Gutgläubigkeit der einen als auch über die kriminelle Energie der anderen Seite. Darüber, wo Erstere endet und Letztere ansetzt, wird in Untersuchungsausschüssen und der Öffentlichkeit noch lange verhandelt werden. Mit der Dokumentation Wirecard – Die Milliarden-Lüge legt die Münchener Produzentin Gabriela Sperl nun eine wunderbar informative und dabei angenehm unaufgeregte Grundlage für künftige Diskussionen vor. In der Kooperation von Sky und dem ÖRR wird in knappen 90 Minuten „Aufstieg und Fall“ von Wirecard rekapituliert, wobei eine dramaturgische Entscheidung am Anfang überrascht, aber dann immer mehr überzeugt: Der Fokus liegt nicht auf CEO Markus Braun und seinem Mann fürs Grobe, Jan Marsalek, die sich der kollektive Erzählgeist so gern als Finsterlinge in der bösen Welt der Börse malt, sondern auf den Männern und Frauen, die den Betrug durchschauten und öffentlich machten.

Da ist zum Beispiel der Blogger Jigajig, der Wirecard schon auf die Spur kam, bevor sie überhaupt so hießen. Als sein Neffe Anfang der 2000er Opfer einer Internet-Bezahlfalle wurde, begann er zu recherchieren. Es stellt sich, eigentlich wenig überraschend, heraus, dass die Anfänge des digitalen Finanzdienstleisters in den Schmuddelbereichen der Internetpornografie und des Glücksspiels zu suchen sind. Woraus sich ziemlich zwingend ergibt, dass die Anfänge der Bilanzfälschung spätestens da zu suchen sind, wo der Gesetzgeber in den USA 2006 die Geldströme des Online-Gaming zu regulieren suchte. Finanzinvestor Tobias Bosler machte dementsprechende Entdeckungen – und erlebte sowohl direkte Einschüchterungsversuche von „Schlägern“ aus Marsaleks Umkreis als auch, dass die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelte. Über den britischen Shortseller Matthew Earl, der 2016 mit seinem „Zatarra“-Bericht den Wirecard-Gläubigen Ärger bereitete, kommt die Dokumentation schließlich zum zentralen Whistleblower Pav Gill, der sich hier zum ersten Mal vor der Kamera zeigt und äußert. Wohlgemerkt samt seiner Mutter, deren wichtige Rolle mit Nachdruck betont wird: Daran, dass ihr Sohn sich nicht einschüchtern ließ, hat sie wesentlichen Anteil.

In der Darstellung dieser Mutter steckt so etwas wie das Erfolgsrezept dieser Dokumentation: Sie nutzt die emotionalisierenden Mittel des True-Crime-Formats mit intelligentem Fingerspitzengefühl. So werden die „spannenden“ Szenen mit den Originalprotagonisten zwar nachgestellt, aber in ästhetisch überhöhter Form, die keine Verwechslung mit der Realität zulässt. Auf der anderen Seite gelingt es, die zur Undurchsichtigkeit neigenden Sachverhältnisse nüchtern und erstaunlich übersichtlich darzustellen.

Info

Wirecard – Die Milliarden-Lüge Benji und Jono Bergmann Deutschland 2021, 90 Min., Sky

Am 2. November 2021 um 20:15 wird der Film bei arte gezeigt und ist noch bis 29. April 2022 in der arte-Mediathek verfügbar

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

Avatar

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden