Täglich grüßt der Sensenmann

Was läuft Barbara Schweizerhof genießt die läuternde Todes-Zeitschleife von „Russian Doll“. Spoiler-Anteil: 13%
Ausgabe 10/2019

Eine der Hauptklagen im Streamingzeitalter ist ja, dass es das nicht mehr gibt: die eine Serie, über die alle reden. Game of Thrones erscheint da wie der Dinosaurier aus einer anderen Fernsehepoche, der nun im April sein letztes Aufbäumen erleben wird. Aber sonst guckt ja niemand mehr irgendetwas gleichzeitig mit anderen. Und wenn man jemandem eine Serie ans Herz liegt, so kommt der vielleicht in einem Jahr darauf zurück, wenn man selbst schon wieder vergessen hat, was an The Americans so besonders war. Aber dann gibt es wider alle Wahrscheinlichkeiten Phänomene wie Russian Doll, eine Netflix-Serie, über die seit Anfang Februar wenn nicht alle, dann doch zunehmend viele reden.

Erstaunlich daran ist, dass für Russian Doll, wie bei Netflix üblich, kaum Marketing betrieben wurde. Auch die Besetzung ist, zumal für außeramerikanische Märkte, relativ unspektakulär. Einzig Natasha Lyonne, die „Frontfrau“, die sich dieses Projekt als Executive Producer (zusammen mit Leslye Headland und Amy Poehler), Hauptdarstellerin und Koautorin auf den Leib geschneidert hat, mag den Liebhabern von Orange Is The New Black ein Begriff sein, wo sie jahrelang als Nicky Nichols zu sehen war. Russian Doll ist also das rare Beispiel einer Serie, die sich fast allein durch – darf man das heute überhaupt noch sagen? – ihre Qualität Aufmerksamkeit verschafft. Eine Qualität, die nichts mit Spezialeffekten, bereits bekanntem Ausgangsmaterial oder anderen „production values“ zu tun hat, sondern rein mit Autorschaft.

Wer einschaltet und „das nächste große Ding“ erwartet, wird deshalb als Erstes darüber staunen, wie „gewöhnlich“ alles ist. Natasha Lyonne verkörpert die New Yorker Spieleprogrammiererin Nadia Vulvokov, die in der Nacht zu ihrem 36. Geburtstag in eine Zeitschleife gerät. Eben noch lässt sie sich auf der Party feiern, die eine gute Freundin für sie in ihrem schicken Loft schmeißt. Sie erfreut sich an Zigaretten, Wein und anderen Drogen, flirtet mit einem schmierigen Gast, mit dem sie schließlich von dannen zieht – um auf dem Weg in ihre Wohnung von einem Auto überfahren zu werden. Aber im nächsten Moment steht sie wieder im Loft der Freundin im Badezimmer, wo andere Gäste bereits an die Tür klopfen. Und wenn sie herauskommt, begrüßt die Freundin am Küchentisch sie, als sei nichts gewesen, mit einem „Happy Birthday, Baby!“ und hält ihr einen Joint entgegen.

„Wie in Und täglich grüßt das Murmeltier!“, sagt sich der Zuschauer, der sein Filmwissen lange nicht erweitert hat. Denn außer der Zeitschleifenidee hat Russian Doll (der deutsche Titel übersetzt zurück ins Russische: Matrjoschka) in Wahrheit herzlich wenig mit Harold Ramis’ Komödienklassiker von 1993 zu tun.

In Russian Doll ist die Zeitschleife kein endloses „Gag-Loop“ und viel weniger wichtig als ihr sich wiederholendes Ende: der Tod. Denn Nadia versucht, mit wachsender Verzweiflung, zu überleben. Ihre verschiedenen Ansätze bringen sie auf jeweils unterschiedliche Weise durch die Nacht und manchmal auch noch den darauffolgenden Tag. Doch jedes Mal „erwischt“ es sie anders.

Die Serie besteht aus acht knapp halbstündigen Folgen. Die insgesamt vier Stunden gucken sich weg wie nichts. Das Ende ist ein richtiges Ende, mit Figuren, die Fortschritte gemacht haben, ein bisschen glücklicher sind und allem. Und trotzdem ist die Verführung groß, gleich alles noch einmal von vorne zu streamen.

Dabei besteht Russian Doll nicht wie etwa Westworld aus lauter versteckten Hinweisen, die man entschlüsseln muss, um dranzubleiben. Statt um Entschlüsselung geht es um Interpretation, um Sinnfindung. Nadia fragt sich: Warum komme ich auf einmal die Treppe nicht mehr runter, ohne mir den Hals zu brechen? Und als Zuschauer denkt man an die Kreisläufe des Suchtverhaltens, ans Fernwirken verdrängter Traumata oder unverarbeitete Schuldgefühle. Ihre Tode zwingen Nadia dazu, über ihr Leben nachzudenken, aber eben nicht abstrakt im Kopf, sondern ausagierend auf der Straße, in Beziehung zu anderen Menschen, immer mit dem Sensenmann im Rücken.

Vom eigensinnigen, sehr erwachsenen Humor seiner Hauptfigur über den selbstironischen Realismus seines Settings im New Yorker East End bis zu all den von authentischer Lebenserfahrung gesättigten Metaphern – schon jetzt ist Russian Doll eine der besten Serien des Jahres.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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