Der ausgesaugte Geist

Hochschulpolitik Der Akademisierungswahn verschärft die Abhängigkeiten von Hochschul-Mitarbeitern. Ohne aber die Position des Professors zu hinterfragen, ist ein Systemwechsel unmöglich

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Professuren sind rar gesät und heftig umkämpft
Professuren sind rar gesät und heftig umkämpft

Foto: imago/imagebroker

Freiheit herrscht im Universitätsbetrieb nur an einer Stelle: in der unantastbaren Position des deutschen Professors. Ansonsten regiert der Ekel. In einer Zeit, in der die Studierendenzahlen stetig steigen, sind es gerade die wissenschaftlichen Mitarbeiter, die diesen Zustrom durch zusätzliche Lehrangebote bewältigen müssen. Ihre Zeit sollte jedoch eigentlich der Weiterqualifikation gewidmet sein. Die Situation ist absurd: Während die Professuren rar gesät und heftig umkämpft sind und die Dozenten an Universitäten in Kettenbefristungen gehalten werden, strömen immer mehr Studierende an die Hochschulen und müssen unterrichtet werden.

Der Münchner Philosoph und ehemalige Staatsminister im Kabinett Schröder, Julian Nida-Rümelin, spricht zurecht von einem Akademisierungswahn, in dem zunehmend Berufsausbildungsgänge in Studiengänge verwandelt werden. Wer heutzutage den Berufswunsch des Elektrikers hegt, ist bestens beraten, an einer Hochschule Elektrotechnik zu studieren anstatt bei einem Elektrikermeister in die Ausbildung zu gehen. Als »zentrale Ursache des Akademisierungswahns« sieht Nida-Rümelin den internationalen Vergleich, dem sich Deutschland in seiner Produktiv- und Innovationskraft stellen muss. Zwar ist es richtig, die Berechtigung dieser Vergleichsmaßstäbe zu hinterfragen. Beruhen sie doch letztlich auf einem Fetischismus des Wirtschaftswachstums. Jedoch sind sie nicht die »zentrale Ursache«. Vielmehr muss man feststellen, dass die Bildungspolitik sich einem Denken untergeordnet hat, in dem die studierte Produktivkraft als besser gewertet wird als die ausgebildete: Mitte der 1970er Jahre studierten etwa 830.000 Menschen in Deutschland. 2017 wurden dahingegen mehr als 2.8 Millionen Studierende gezählt. Das Schielen auf den internationalen Vergleich ist nur ein Symptom eines neoliberalen Leistungsdenkens, das im Verlauf der letzten Jahrzehnte in den Köpfen zementiert wurde und sich in der Bildungspolitik schon seit Langem Bahn bricht. Das Mantra dieses Denkens ist die Fixierung auf den höchstmöglichen Abschluss. Dass aber selbst unter kapitalistischen Bedingungen eine Doktorenschwemme die Bedürfnisse der freien Wirtschaft verfehlt, kommt in diesem Denken nicht vor. Dies ist einer der grundlegenden Widersprüche in der Logik des Systems.

Eine Folge des Akademisierungswahns sind unverhältnismäßige Betreuungsschlüssel zwischen Professoren und Studierenden. Der Akademisierung von Ausbildungen folgte nicht die Verbesserung der Lehre. Im deutschlandweiten Schnitt betreut ein Universitätsprofessor laut Statistischem Bundesamt etwa 65 Studierende. Dabei gibt es jedoch immense Unterschiede zwischen den Bundesländern: Während in Mecklenburg-Vorpommern ein Professor auf 51 Studierende kommt, ist das Verhältnis im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen 1 zu 99. Diese Unterschiede, die sich natürlich in der Qualität der Lehre auswirken, sind eine Folge des übertriebenen Föderalismus – ein Land mit 16 verschiedenen Bildungssystemen. Da diese Unverhältnismäßigkeiten zulasten der lohn- und qualifikationsabhängigen Mitarbeiter gehen, fordert die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eine »Entfristungsoffensive« unter den Angestellten. Wissenschaftliche Mitarbeiter, die sich nicht mehr in Kettenbefristungen gefangen sind, könnten die Lehre sicherstellen, ohne um ihre weitere Qualifikation bangen zu müssen. So richtig diese Forderung ist, bleibt sie doch nur ein Mosaikstein. Sie könnte zwar den Betreuungsschlüssel zwischen Lehrenden und Studierenden verbessern, durchbricht aber nur teilweise die strengen Hierarchien an Universitäten. Die Probleme, die der Akademisierungswahn in der Peripherie der Hochschulen auslöst, bleiben durch die Forderung der GEW sogar unangetastet. In Kombination mit einer verfehlten Sozialpolitik der Bundesregierung kommt es beispielsweise zu Wohnungsnot von Studierenden in den großen Universitätsstädten. Längst werden Studierende auf Feldbetten untergebracht bis sie ein Zimmer gefunden haben. So richtet die Stadt Münster zu Semesterbeginn ehemalige Flüchtlingsunterkünfte als Erstaufnahmestellen für Studienanfänger ein. Am »Bildungsstandort Deutschland« zeigt sich, wie Versäumnisse und Fehlentwicklungen in der Bildungs- und Sozialpolitik auf peinliche Weise ineinandergreifen.

Es gibt nicht viel, dass das deutsche Hochschulsystem von demjenigen in den USA lernen kann. In der Vergangenheit hat eine Übernahme des amerikanischen Studiensystems zu viel Kritik geführt. Durch die Bologna-Reform wurden die europäischen Studiengänge Ende der 2000er Jahre amerikanisiert. Der seit Alexander von Humboldt bewährte Magister wurde abgeschafft und durch die Abschlüsse Bachelor und Master ersetzt. Ein ironischer Treppenwitz der Bildungspolitik: Während Ausbildungsgänge zunehmend in Studiengänge umgewandelt werden, werden die Studienabschlüsse nun »Geselle« und »Meister« genannt. Die Folge dieser Reform war, dass das Studium dem Charakter nach die Fortsetzung der Schule wurde – Anwesenheitslisten, modulare Prüfungen, Pflichtvorlesungen. Wer die Regelstudienzeit nicht einhält, gilt heutzutage sowohl im akademischen Betrieb als auch in der freien Wirtschaft als Sitzenbleiber. Die Schulreform in Form des Abiturs nach zwölf Jahren vollendete die Absurdität: Studienanfänger, die nicht einmal die Volljährigkeit erreicht haben.

Ein einziger amerikanischer Standard ist jedoch Voraussetzung, um die Verhältnisse im deutschen Hochschulsystem beenden zu können. Im englischsprachigen Raum nennt man diesen Standard »publish or perish« – veröffentliche oder gehe unter! Forschungsgelder und personelle Mittel werden nur gewährt, wenn der Professor in der wissenschaftlichen Debatte sichtbar ist – sprich: wenn er ausreichend in anerkannten Fachzeitschriften publiziert. In Deutschland gilt die gnadenlose Alternative »publish or perish« jedoch nur für den akademischen Mittelbau. Doktoranden und Habilitanden, die das Glück hatten, eine weitere Vertragsverlängerung zu bekommen, müssen sich über Wasser halten, indem sie Veröffentlichungen in hochrangigen Zeitschriften vorbereiten. Die Konzentration auf die eigentliche Qualifikationsarbeit sowie die Lehre leiden darunter. Von diesem Veröffentlichungszwang ist der deutsche Professor ausgenommen. Der Beamtenstatus befreit ihn von jedem existenziellen Druck. Einmal Professor, immer Professor.

Ein erster wichtiger Schritt, das hierarchische Hochschulsystem zu knacken, bestand in der Einführung der sogenannten Juniorprofessur, die sich zunächst in den Naturwissenschaften etablierte und nun zunehmend auch in die Geisteswissenschaften Eingang findet. Als Beamte auf Zeit bilden die Juniorprofessuren eine Zwischenstation auf dem steilen Anstieg vom akademischen Mittelbau zur vollwertigen Professur. Allerdings genießen Juniorprofessoren nur eine relative Freiheit. Die wenigen Jahre, die sie als Professoren auf Probe verbringen dürfen, müssen nicht nur für die Lehre und die Weiterqualifikation genutzt werden, sondern vor allem dafür, in der Gunst derjenigen aufzusteigen, welche die abschließende Entscheidung treffen, ob die Juniorprofessur in eine vollwertige Professur umgewandelt wird – und das sind letztlich die alteingesessenen Professoren selbst.

So richtig es ist, die Abhängigkeiten an Universitäten abzumildern, so halbherzig ist dieser Versuch gestaltet. Die Einrichtung der Juniorprofessur stellt derzeit nur eine Verlängerung des Drucks auf die Beschäftigten aus. Es ist eine Politik mit Zuckerbrot und Peitsche: Den Mitarbeitern wird die Möglichkeit gegeben, die Professur früher zu erreichen als bisher, während der Qualifikationsdruck jedoch nicht aufhört. Es ändert sich nur der Titel, nicht aber der Status.

Die Politik muss den Mut aufbringen, den Standard »publish or perish« auch auf die deutschen Professoren zu übertragen. Was im neoliberalen Zeitgeist für jeden Beruf Normalität ist, gehört im Hochschulbereich zur Utopie: Wer nichts tut, kriegt nichts. Jede Arbeitskraft, die ihren Aufgaben nicht nachkommt, wird entlassen. Jeder Unternehmer, der sein Geschäft nur lustlos betreibt, wird mit dem Konkurs konfrontiert. Und selbst höhere Beamte werden bei Verfehlungen mit Versetzungen oder dem vorzeitigen Ruhestand rechnen müssen – wie die Causa Maaßen jüngst auf absurde Weise lehrte. Um auch den Professor diesem Druck auszusetzen, wäre allerdings nichts anderes nötig als eine Revolution im Beamtenrecht: Wer vorher festgelegte Ziele verfehlt, kann auch den Status des Professors verlieren. Was wie eine konsequente Weiterentwicklung des Leistungsdenkens wirken mag, ist jedoch ihr Gegenteil. Eine Ausweitung des Standards »publish or perish« auf die Professoren würde sowohl Druck auf diesen bisher unantastbaren Berufsstand ausüben als auch die Situation der Mitarbeiter verbessern, da es zwangsläufig zu mehr Fluktuation unter den Professuren käme – also zu einer Verbesserung der Berufsaussichten. Es ist kein Wunder, dass gerade von liberaler Seite die professorale Freiheit hochgehalten wird. So preist die FDP in ihrem Bundestagswahlprogramm an: »Forschung braucht Freiraum, nur so kommen wir voran.« Man fragt sich, wieviel Freiraum nötig ist, damit es endlich voran geht.

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