In der Akademischen Stadt Gorki an der russischen Grenze beginnt unser Wissenstransfer im zentralen Sportkomplex mit verschiedenen Saunen. Finnisch, russisch, heiß, sehr heiß, zu heiß. Weißes Handtuch über der Schulter. Ansonsten splitterfasernackt wie Gott uns schuf. Danach sinken wir im Aufenthaltsraum tief entspannt nieder. Auf zwei Reihen Plastikstühlen unter lauter internationalen Kollegen. Dazwischen auf einem langen Tisch Wodkaflaschen, Wurst, Brot, Paprika, Gurken, Äpfel.
Nackt im Hier und Jetzt
Splitternackt auch der würdige Akademiepräsident. Samt seinen würdigen Kollegen. Lukaschenko soll hier früher mal Präsi gewesen sein. Man pflege weiterhin gute Beziehungen zu Alexander Grigoryevich. Trinkt! Esst! Lacht! Rasch der nächste Saunagang! Eiskalt abtauchen! Zurück zu mehr Wodka und Würsten! Der Rhythmus macht Sinn. Eins fordert das andere. Das wahre Leben!! Hier und heute sind wir alle gleich nackt. Wer fände etwas dabei? Separat, versteht sich. Männer nachmittags. Frauen am frühen Abend.
Reihum Trinksprüche auf die Deutsch-Weißrussische Freundschaft. Je mehr Wodka, desto tiefer und ewiger! Mit heißem Kopf stehe ich auf, nackig. Mein Handtuch segelt zu Boden. Ein Wodkaglas hoch in die Luft gestreckt, ganz die Fackel der Internationalen Verbrüderung. Den alten Witz mit „Gott ist tot!“ und „Marx ist tot!“ verkneife ich mir, obwohl es mich juckt. Stattdessen bringe ich, mein Glas schwenkend, die internationale Freude zum Ausdruck über den historisch überwältigenden Empfang hier und heute in dieser bedeutenden akademischen Einrichtung.
Frierend und hungrig? Nie!
Nachher und überhaupt haben wir ein derzeit Studentenfreies Wohnheim für uns allein. Jeder ein halbes Stockwerk, so ungefähr. Die Räume bei unsrer Ankunft kalt. Wegen Semesterferien. Sämtliche Wohnheime der Stadt hängen an einem einzigen Heizkraftwerk, das dann doch ausnahmsweise und nur für uns früher als zum Plandatum angeworfen wird. Tausende frierende Studenten werden dankbar sein. Unsere schmalen Räume frisch gestrichen. Als einzige auf den Etagen. Bett, Stuhl, Schreibtisch. Schrank. Draußen unter dem Fenster graues Gestrüpp. Fleckige Wiesen. Betonbrocken. Rostige Metallreste.
Die Bedienung beim einsamen Frühstück im Personalrestaurant gibt sich erschüttert, dass wir Bratfisch mit Mayonnaise, Kartoffeln und Salat am frühen Morgen nicht herunterbringen können. Das ist doch das beste, was wir euch bieten können! Die hilfreich herbeieilende Mamsell lächelt verstehend. Dreht sich um. Stellt Minuten später ein großes Kuchentablett, heißes Wasser und ein Schraubglas Pulverkaffee auf den Tisch. Süße Zitronencremerollen mit bitterem Kaffee.
Bereits am dritten Morgen, aber erst nach dem Frühspaziergang, prosten wir uns im Wohnheim um 11:00 Ortszeit mit vollen Gläsern zu. Scharf auf der Zunge ist der hiesige Wodka ja. Man gewöhnt sich an alles, wenn sonst nicht viel zu tun ist.
Wissen? Transfer? Bitte sehr!
Abgesehen von der nachmittäglichen Reihe von Vorträgen auf Englisch direkt in begierige Studentenaugen und -ohren hinein. Die Übersetzerinnen werden von der Fülle englischsprachiger Fachausdrücke überwältigt. Alle 3 Minuten ein Satz aus dem Vortrag. Dann Vokabelkontext diskutieren. Dann Übersetzung abwarten. Dann weiter. Wo waren wir? Die gespannten Blicke der Studenten sind intensiv, aber zunehmend angestrengt von so viel Transfer und Wissen.
Den Übersetzerinnen zuliebe lese ich ab und zu in deren Büro abenteuerliche deutschsprachige Texte auf Band. Über deutsche Geschichte aus russischer Sicht. Stand 1945. Gelegentlich die Zunge mit einem Schluck Sprudelwasser geschmeidig haltend. Ah, besser! Später habe ich aber nie Absolventen aus Gorki getroffen, die meine kleinen Rülpser vom Band in ihren deutschen Sprachschatz aufgenommen hätten.
Draußen auf den Plattenwegen tritt ein junger Mann an uns heran. Drängend und bittend. Wir sollen ein knittriges, handbeschriebenes Blatt Karopapier zu lesen. Was wir davon hielten? Es wirkt dringlich. Uns bleibt es unverständlich. Trotz seiner Erklärungen und Gesten. Obwohl auf Englisch geschrieben. Kopfschüttelnd bitten wir vielmals um Entschuldigung.
Raus ins strahlende Land
Früh morgens ein müdes Pferdefuhrwerk auf Gorkis praktisch autofreier Durchgangsstraße. Dampfende Nüstern. Am Straßenrand vereinzelt blau-grau verpackte Fußgänger. Fröstelnd. Hände tief in den Taschen. Die Morgenlage scheint ruhig und friedlich. Auch heute keine Flüchtlingsbewegungen aus dem Osten zu erwarten. Gespitzte Ohren nehmen keinen Kanonendonner wahr.
Nur wer ein Land kennt, kann es verstehen, schlägt die Akademieleitung. Heute gehts auf Tour durch Belarus. Die Exkursion schwingt weit aus ins Land, nähert sich im Süden gar der Sperrzone von Tschernobyl. Berittene Pferdehirten treiben eine große Herde durch grüne Hügelwellen. Kleine Dörfer. Zwiebeltürme. Holzhäuser. Staketenzäune. Traktoren. Wäscheleinen. Mittags Knochen durchsetztes Gulasch, dazu matschige Nudelschrauben. Macht nichts, gibt ja Wodka und Trinksprüche. Bei jeder einzelnen Besuchsstation.
Wir wissen nie wie es weitergeht, wohin und wie lange noch. Wo wir sind erst recht nicht. Der Busfahrer zuckt mit den Schultern. Unwirkliche Wirklichkeit. Was ist Existenz? Dringender Bedarf an inversem Wissenstransfer! Der wird mangels Übersetzerin an Bord übergangen. Trinkt, Brüder & Schwestern, trinkt! Hilft dem Unwirklichen ins Vergessene.
Nebenbei erfahren wir, daß Gorki ebenfalls Wissenstransfer betreibt, nämlich in Mittelasien. Usbekistan. Tadschikistan. Turkmenistan.Gutes Geschäft, das. Wichtig für Devisen, verstehen? Ob wir so freundlich wären, Kopien unserer Vortragsunterlagen dazulassen?
Im grünen Herz von Gorki
Tags darauf in strömendem Regen, auf schlammigen Wegen, platschend durch Pfützen raus in die Schrebergärten. Zu einer winzigen Datscha im grünen Herzen von Gorki. Die privaten Gärten der Bevölkerung leisten überlebensnotwendige Mithilfe zur planwirtschaftlichen Lebensmittelversorgung. Jedenfalls soweit diese Mithilfe nicht auf dem massiven Tisch gelandet ist, um den herum wir jetzt versammelt sind. Dicht gedrängt an den gehobelten Holzwänden der Datscha entlang. Triefend nasse Regenjacken.
Vorher hatten wir Wodka im Kaufladen beim Wohnheim um die Ecke besorgt. Große Frauen in weißen Kitteln. Hinter dem Verkaufstresen dutzende offene Plastikkästen, wie anderswo Bierkisten. Voll mit schlanken Wodkaflaschen. Good stuff! Eine Flasche wird damals in Gorki für umgerechnet 2 US $ gehandelt. Zigaretten auch billig. Große Plastikflaschen mit irgendwie Cola. Muffig schmeckende Schokoriegel.
Jeder von uns präsentiert 2 Flaschen Wodka auf den Holztisch der Datscha. Man sieht die Gegenüber kaum hinter Schüsseln, Flaschen, übervollen Platten. Trinksprüche treiben die weitere Vertiefung der internationalen Verständigung voran. Auf in die Zukunft, Hand in Hand! Reihum ist jede/r dran. Mal wieder stehe ich da wie eine Karikatur der amerikanischen Freiheits- bzw. der deutschen Hermannsstatue. Den Kopf von Wodkadunst und Zigarettenrauch umweht. Sinnierend. Das Glas in hoch erhobener Faust. Stille. Erwartungsvolle Blicke. Wir haben Durst! Fußkalt ist es. Riechende Regenjacken. Keine Idee. Warum bin ich hier? Schließlich doch! Gepriesen sei die Schönheit der weißrussischen Frauen! Über alle Maßen! Hoch gelobt die Wohltaten des internationalen Wissenstransfers! Nie war er internationaler als heute! Anstoßen, austrinken. Bald erhebt sich die nächste Freiheitsstatue. Für jeden Spruch gibt es Beknutschungen von den anwesenden begeisterten Frauen. Gehört sich so hier in Gorki. Gegenwehr zwecklos.
Letzter Wodka, letzter Transfer
Am Abreisetag überlassen wir unsere kleineren Geldscheine hilfreichen Studenten und ruckeln zurück gen Minsk. In einem ehemaligen Militärfahrzeug. Benzingeruch aus den Heizungsschlitzen. Unter schmutzig grauem Himmel. Auf endloser Betonpiste. Durch menschenleere Landschaften. An den Seiten ziehen einförmig dichte Wälder vorbei.
Minsk. Kurz Beine vertreten, dann zu den Souvenirs im Warenhaus Gum. Mit den Kollegen am Flughafen letzte, dann allerletzte Wodkas. Steifbeinig zum Gate. Der Flieger rasend schnell durch die Wolken. Von Wodkaseen und inniger Gastfreundschaft zurück in die Heimat! Am Ende Retransfer hinab in die nüchterne Alltäglichkeit des Westens. Nachdenklichkeit, ein Hauch Wehmut, echte Sympathie für die Menschen.
Wodka und Wissenstransfer! Horch, vom Osten komm ich her! Dann gehen wir auseinander.
Über 25 Jahre lange steht ein verchromter Flachmann aus dem Gum in meinem Regal, mit Lenin und rotem Sowjetstern. Kleine Becherchen auf den Schraubverschluß gestapelt. Nie erleben sie die Wonnen ihrer ureigensten Bestimmung.
Wohin sind sie verschwunden??
Kommentare 14
Danke, das hat Spaß gemacht.
Dann hat das paper seinen Zweck erfüllt! 🧐
Gerne gelesen!
Danke für die Blumen!☺
Solche Texte dürfte es auf diesem Teil der Wiese hier gern wieder mehr geben. Danke.
Ein bisschen „westliches“ Fremdeln, aber auch echtes Berührtsein, ein wenig Melancholie im Erinnern... 👋
Oh! Ich fühle mich geehrt!
Meine Mutter stammte aus der südöstlichsten Ecke Deutschland, ihre Mutter, meine Großmutter, gar aus dem Spreewald. Beide hatten asiatisches in ihren Gesichtszügen, umso mehr, je älter sie wurden.
Egal wo im Osten, geht es mir dort fast wie in Afrika. Ich weiss, dass ich da nicht hingehöre, aber mein Inneres sagt mir laut, ich hätte vor vielen, vielen, vielen Jahren mal dort gelebt. Und ich will immer wieder hin.
Hat schon mal einer unserer Spezies einen Artikel über "Genetische Erinnerung" über die Rampe gebracht?
Apropos Spaß und Lachen. Hat sich hier schon mal jemand über "Lachen" geäussert?
Ich meine mich an Bemerkungen von Elias Canetti zu erinnern. Auch der "Name der Rose" von Umberto Eco dreht sich darum. Es müsste doch sogar über tausende von Jahren hinweg verschiedene Meinungen und Erklärungen dazu geben. Hm. 🤣😂😁😃😄
Hab gerade auf Ihrer site Ihren Kommando Community vom Februar gelesen. Ich war neugierig, wer da meinen Blog-Artikel kommentiert hatte, und dann auch noch positiv! Wäre ich im Jan/Feb nicht offline gewesen, hätte ich sicher massiv kommentiert.
Positiv, da Sie mMn die Zukunft des (fast) vormaligen Blätterwalds und bald ausschliesslichen Onlinedschungels sehr nüchtern, pragmatisch und vor allem kaufmännisch sorgfältig bedenkend eingeschätzt hatten.
Ohne Geld wie bisher ginge es schon, aber das sehen Ihre Arbeitgeber sicher anders. Warum sollten diese ihr Gewinnmotiv aufgeben?
Wenn dabei die heutzutage vielzitierte und fast immer fehlverstandene "Win-Win"-Situation herauskommen soll, ist ganz sicher ein anderes Vorgehen als bisher notwendig, und zwar ganz in der Richtung, die Sie angerissen hatten.
Vielleicht wäre es auch einmal einen Gedanken Wert, dass sehr viele Blogger zwar naturgemäss über (viel) weniger journalistisches Handwerk verfügen als die Profis, dafür aber ungleich höhere Fachkompetenzen auf den verschiedensten Gebieten vorweisen können.
Eine Reihe Online-Lektoren könnten da wirklich zu beiderlei Nutzen agieren. Virtuelle Online (Fach)Redaktionen könnten bestimmte aktuelle Fachgebiete (AI, Komplexität, Mobilität, Elektrotechnik us.w) für die Leserschaft packend und verständlich aufbereiten. Ohne neue Hierarchiemonster zu schaffen.
Mein besonderes Rollenmodell für die Effizienzpotentiale ist immer Harald Lesch im Fernsehen. Gabs mit Prof Haber auch schon viel früher, aber man sollte nicht glauben, dass entsprechende heutige Akademiker solche Präsentationsqualitäten aus dem Ärmel schütten könnten. Auch wenn die beim Schreiben vielleicht leichter und schneller zu etablieren wären. Womit ich wieder bei den Online-Lektoren wäre ...
Gerade kommt mir in den Sinn, dass ich wahrscheinlich hier jetzt gar nichts geschrieben hätte, wenn ich den Stand der Diskussion zum Zeitpunkt des Erscheinens Ihres Artikels kennen würde.
In diesem Sinne ...
... dass wir Bratfisch mit Mayonnaise, Kartoffeln und Salat am frühen Morgen nicht herunterbringen können.
Das ist ja auch erschütternd und kommt vom Saufen. Normalerweise ist so etwas Luxus - jedenfalls an der englisch-walisischen Grenze, bei moderatem Alk-Konsum.
Wann kommt man als Deutscher sonst schon mal zu einem warmen Frühstück?
🎈Wann kommt man als Deutscher sonst schon mal zu einem warmen Frühstück?🎈
Haha, ja, das war nur das Frühstück! Wir mussten die anderen Mahlzeiten ja auch noch verpacken. Man aß sehr schwer und fettreich dort und meist ziemlich lecker.
Deshalb kreisten ständig die Wodkaflaschen, fast überall.
Richtig edel habe ich es zu der Zeit mal in Debrecen, Ostungarn erlebt. Im Hotel Aranybika (Goldener Hahn) liefen während des erklassigen Frühstücks ständig Ober mit grossen Tabletts voll Wodka- und Cognakgläsern vo Tisch zu Tisch. Das war da so üblich und jeder griff mehrfach (!) zu. Im Frühstückspreis inbegriffen. Ich nahms nur am letzten Tag wahr.
Das waren noch Zeiten! 😵
"Das waren noch Zeiten!"
Nicht überall sind diese Zeiten vorbei. Vor ein paar Wochen durfte ich in Rumänien in einem Dorf ein Frühstück mit frisch geräuchertem Speck vom Mangaliza-Schwein, Sülze, warmer Polenta mit Schafskäse und natürlich reichlich Palinka genießen...
Auch auf anderen Reisen durch Serbien, Ungarn, Slowakei, Polen und Tschechien gibt es das heute noch. Außerdem sind dort nur wenige westliche Touristen. Aber das sagen wir nicht weiter.
Danke für den Text.
🎈Nicht überall sind diese Zeiten vorbei.🎈
Der Dank ist auf meiner Seite.
Als ich auf einem Bauernhof mit Milchwirtschaft gearbeitet hatte, gab es um 04:30 Martmeladenbrot. Nach dem Melken ein reichliches Frühstück mit Wurst und Käse. Um 12:00 Berge von Kotellets, Kartoffeln und Gemüse. Was, nur ein Kotellet? Teller rüberreichen! Um 17:00 ein reichliches Abendessen mit den Resten vom Mittag plus Brot, Wurst & Käse.
Vor diesem Hintergrund werden die östlichen Essgewohnheiten verständlich, samt der besonderen Wertschätzung, den man Gästen beilegt.
Ja, die Fruchtschnäpse. Lecker und gefährlich.
Der ganze Osten IS(S)T kulinarisch gefährlich!🍖🥘🍷🙄
Danke, Klasse-Text! Man kann das immer nur allen zurufen: raus aus dem Sessel und ab in die Welt :)
So isses! Es ist jede Anstrengung wert und ich hatte reichlich Gelegenheit dazu.🏃♂️