Keiner von hier kommt noch irgendwohin

Literatur »The Brave« ist der vielleicht beste Roman, den keiner kennt.

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Manchmal passiert im Literaturbetrieb Außerordentliches. Da klopft eine Leipziger Bibliothekarin mit der deutschen Erstübersetzung von The Brave, einem von Johnny Depp im Jahre 1997 verfilmten Roman des Autors Gregory Mcdonlad, an die Türen von Großverlagen, wird abgewiesen und landet schließlich beim kleinen Songdog Verlag in Wien. Sehr strange, wenn man bedenkt, dass Depp, der in den letzten Jahren zum internationalen Superpiraten mutierte, bei dem Streifen nicht nur die Regie übernahm, sondern neben Marlon Brando auch als Schauspieler mitwirkte.

Heißer Scheiß, werden jetzt manche denken: Vorne aufs Cover ein Bild von Depp und/oder Brando und das Buch ist morgen in der SPIEGEL-Bestsellerliste. Doch wer das denkt, kennt Andreas Niedermann, Autor und Verleger des Songdog Verlags, schlecht. Der macht sowas nicht. Einzig auf dem Buchrücken ist zu der prominenten Filmadaption ein kurzer Vermerk zu finden. Warum das der Niedermann so und nicht anders macht, weiß ich nicht. Aber es ist okay, weil dieses Buch eben mehr ist, als die Vorlage für einen Film mit Starbesetzung.

The Brave ist eine krasse, brutale Geschichte und vielleicht scheuten sich auch deswegen Verlage wie Rowohlt und S. Fischer davor, das Ding zu publizieren. Der Autor selbst warnt bereits im Vorwort vor Kapitel c, in welchem der Leser ohne Umschweife und sehr drastisch Einblick in das „Drehbuch“ eines Snuff-Videos erhält. – Das geht an die Nieren. (Für die, die es nicht wissen: Snuff-Filme sind Aufzeichnungen realer Foltermorde, die einer perversen Zielgruppe beim Abspritzen helfen.)

Rafael, der Protagonist von The Brave, bewirbt sich für die Hauptrolle, sprich als Opfer, in eben einem dieser Snuff-Filme. Doch warum? Welcher Wahnsinnige sucht nach so einem „Job“?
Bereits in seinem Vorstellungsgespräch erfahren wir, dass Rafael die meiste Zeit besoffen ist und mit seiner Frau Rita und den drei gemeinsamen Kindern in Morgantown, einer illegalen Slumsiedlung neben einer Müllkippe wohnt. Er ist Analphabet. Sein Vater ist krank, seine Schwiegermutter siecht langsam vor sich hin und auch die eigene verrottende Leber, das weiß Rafael, machts nicht mehr lange: „[S]chließlich war er sich klar darüber geworden, dass die Zeit lief, wenn er noch etwas zum Verkaufen haben wollte.“
Rafael ist am Ende. Ein unterernährter Alki-Indianer, ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Zukunft. In der Hoffnung, seiner Familie ein menschenwürdiges Leben, oder besser – überhaupt eine Perspektive ermöglichen zu können, geht er auf den Deal mit McCarthy, dem Snuff-Filmproduzenten ein. Dieser gibt ihm einen Vorschuss von dreihundert Dollar und verspricht, nach Rafaels Tod dessen Familie den Rest der vereinbarten Dreißigtausend zukommen zu lassen.

Man kann vermuten, wie die Sache ausgehen wird. Dass es wahrscheinlich keine andere Möglichkeit für Rafael geben kann, als den mit McCarthy vereinbarten „Vertrag“ zu erfüllen. Das Packende an Mcdonalds (Passions-)Geschichte sind die darin beschriebenen zwei Tage, die Rafael bis zu seiner geplanten Hinrichtung bleiben: „Gerade hatte er erkannt, dass er jetzt etwas wusste, was er vorher nicht gewusst hatte und was sehr wenige Leute von sich wussten: wo und wann und wie... er zu Tode kommen würde.“
Dieses Wissen und die Aussicht, seiner Familie dreißigtausend Dollar zu vermachen, verändern Rafael. Er trinkt weniger und fängt an, das vermeintliche Schicksal der Slumbewohner zu hinterfragen. Als schließlich ein Kind beim Durchstöbern der Müllkippe von einem Aufseher angeschossen wird, mahnt er die kleine Slumgemeinde, die illegale Trailersiedlung zu verlassen. Seine Frau, die wie die anderen nichts von Rafaels Vereinbarung mit McCarthy ahnt, sieht darin keinen Ausweg: „[K]einer von hier kommt noch irgendwohin.“

Obgleich McCarthy Rafael das Vorgehen bei seiner anstehenden Ermordung bis ins Detail schildert (Kapitel c), scheint dieser keinen Moment an seiner Entscheidung, sich für seine Familie und Freunde zu opfern, zu zweifeln. Er weiß, was auf ihn zukommt. So bemerkt er, als er in der Kirche seine Bußgebete aufsagt: „Jesus Christus... wenn‘s mit mir zu Ende geht, bin ich ein blutigerer Haufen als Du.“

Ja, The Brave ist nichts für Zartbesaitete. Doch trotz des Elends schafft Mcdonald auch immer wieder intime Augenblicke voller Anteilnahme und Zärtlichkeit. Zum Beispiel, als Rita den Truthahn, den Rafael von seinem Vorschuss besorgt hat, zubereitet und an ihre Nachbarn verteilt. Wenn dann alle in dem heruntergekommenen Tankstellenladen satt und in sich gekehrt den Braten verdauen, dann ist das, obwohl sonst alles total beschissen aussieht, ein feierlicher, geradezu leuchtender Moment.
Es sind Stellen wie diese – die Warmherzigkeit, mit der die Bewohner von Morgantown miteinander umgehen oder die Betrachtung des Farbenspiels eines Sonnenuntergangs über der Mülldeponie, die aus dem ohnehin guten Roman einen großartigen machen.

Zum Schluss noch eine Empfehlung an alle, die den Film nicht gesehen haben, vor allem aber an diejenigen, die den Film kennen: Vergesst ihn. Besorgt euch den Soundtrack von Iggy Pop und lest das Buch.

Gregory Mcdonald: „The Brave“, aus dem Amerikanischen und mit einem Nachwort von Annette Lorenz, erschienen im Songdog Verlag, Wien, 186 Seiten, 18 Euro

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benedikt Maria Kramer

(*1979) arbeitet als Autor in Augsburg. 2016 erschien im Songdog-Verlag sein Gedichtband "Glücklichsein ist was für Anfänger".

Benedikt Maria Kramer

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